Familie Stumm
Von Norman PhilippenDie einen mögen’s metaphernsatt, die anderen haben massig Metaphern satt. Hanna Slaks vierter Spielfilm ist eher etwas für die erstere Kinogängerkategorie. Das zeigt bereits die erste Szene, in der der Pubertierende Lars (Jona Levin Nicolai) eine Drohne durch eine funktional kühl eingerichtete Wohnung steuert, um Kontakt zu einer Frau am Klavier (Maren Eggert) aufzunehmen, die seine Mutter mehr sein könnte, wäre sie eine weniger erfolgreiche, alleinerziehende Münchner Dirigentin. In zehn Tagen soll sie Gustav Mahlers fünf Sätze lange 5. Sinfonie meistern – das ist die, von der Mahler meinte: »Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand capiert sie.« Mahlers 5. – ja, das ist auch die aus »Tod in Vendig« – wird heute vielleicht nicht immer gleich capiert, aber ist beliebt, wird oft gespielt und noch öfter gehört. Nina Palčeck hört Lars’ Drohne nicht kommen, muss sie direkt vor die Nase geschwebt bekommen, um erst genervt, dann versöhnlich muttimäßiger in das vom Sohn in die Schwebe gebrachte, kamerabewehrte Medium zu sprechen. Das bricht darob ab, stürzt zack ab aufs Parkett. (Aus meinen Notizen: »Klavier plus Schweres ankündigender Synthiesound … Mahler schon? 1. Einstellung: Drohne. Drohne fliegt zu Mutter an Klavier, M. genervt. Klar, dass Lars Aufmerksamkeit will … 1. Eindruck: M. hätte lieber Karriere ohne Sohn gemacht.«)
So. Gestörte Kommunikation, Karriere und Behuf, Beruf und Lars, ein Leben für den Ton, den rechten Klang, bei absolutem schlechtem Gehör für Sohnessorgen … Und wo eigentlich hört man was von einem Vater?! Später taucht er auf und hat keine Zeit für Lars im Krankenhaus, muss telefonieren und schnell wieder weg. Warum ist Lars im Krankenhaus, warum fiel er in der Schule aus dem Fenster? Ist ein Fenster nicht auch irgendwie ein Medium und ein Fensterfall von tieferer Bedeutung? Und was hat das mit dem (toten?) Mädchen aus (der Parallelklasse?) zu tun? Der Drohnenabsturz lässt aber schon erahnen, dass Medien auch mal abrupte Brüche erfahren und gewechselt werden müssen; und was nie gesagt wurde, weiß man’s, doch noch ausgesprochen werden könnte. Vorerst beantwortet die Mutter doch lieber selbst ihre an den Sohn nicht offen gestellten Fragen: »Du wolltest was reparieren und bist aus dem Fenster gefallen …« Beim Elternabend am Freitag war wieder keiner.
Mahlers Sinfonie hebt in erster Abteilung (von dreien) an als Trauermarsch, der zu a-mollig stürmisch Erhebendem aufbraust, um in zweiter Abteilung als mittelrasches D-Dur-Scherzo an einen Tuttihöhepunkt anzulangen, der justamente im Adagietto bis knapp vor Stille fällt. Zum Rondo-Finale dann aber wieder Tutti Frutti aus allen Akkordkanonen! So war halt der Mahler zu der Fünfte-Sinfonie-Notatzeiten. Und so ähnlich soll auch der von Mahlers Musik kräftig untermalte Film »Kein Wort« gedreht sein. Was die Mahler-Kundigen überprüfen könnten. Eher unmusikalische Metaphernmenschen mögen zählen, was an wie gemalt Metaphorischem so zusammenkommt. Wenn die Mutter der karrieregefährdenden Sohnesbitte nach Kurzurlaub auf der außersaisonal schroffen westfranzösischen Insel mit den steilen Klippen und dem wilden Wellengang nachgibt. Wo ein Meer aus ungesprochenem Unverständnis tost, das unüberwindbar ist, bevor nicht das alte Familienbötchen »Lars« repariert, auf den Namen »Clara« getauft wurde und also als Medium heller Einsicht Richtung Versöhnung schippern könnte. Erst hat Lars noch eine Rechnung mit Mutters Smartphone offen. Dann aber kommt er ein bisschen ins Kommunizieren: »Wir haben Verstecken gespielt. An dem Tag hat’s geregnet, unsere Socken wurden nass. Wir haben sie ausgezogen, es war lustig«, sagt Lars. Und man weiß nicht recht. »Manchmal ist es besser, wenn man Sachen nicht ausspricht«, meint die Mutter. »Für wen ist das besser?« fragt Lars.
Wie vermählt sich all dies am Ende wohl wieder mit Mahler? Können Sie jetzt gucken gehen. Im Kino.
»Kein Wort«, Regie: Hanna Slak, BRD/Frankreich/Slowenien 2023, 87 Min., bereits angelaufen
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