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Aus: Ausgabe vom 10.07.2024, Seite 1 / Titel
Grundrechte

Europa im Schmerzgriff

Amnesty International: Defizite bei Versammlungsfreiheit. Repression gegen Proteste in 21 Staaten des Kontinents beklagt
Von Nick Brauns
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Maulkorb für abweichende Meinungen: Festnahme bei einem Palästina-Protest vor der Humboldt-Universität (Berlin, 22.5.24)

Einen europaweiten Angriff auf die Versammlungsfreiheit und die Schaffung eines protestfeindlichen Umfelds: Das beklagt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in ihrem am Dienstag in London vorgestellten Bericht »zur Lage des Rechts auf Protest«. »Überall auf dem Kontinent werden Menschen, die friedlich protestieren, von den Behörden verunglimpft, behindert, abgeschreckt und unrechtmäßig bestraft«, zeichnet AI- Generalsekretärin Agnès ­Callamard ein »zutiefst beunruhigendes Bild«. In 21 Staaten – neben EU-Mitgliedern auch die Schweiz, Großbritannien, Serbien und die Türkei – macht AI »ein Muster repressiver Gesetze, unverhältnismäßiger Gewaltanwendung, willkürlicher Festnahmen und strafrechtlicher Verfolgung sowie ungerechtfertigter oder diskriminierender Einschränkungen« aus.

In einigen Ländern komme exzessive Polizeigewalt Folter gleich, weist der Bericht auf schwere Verletzungen von Demonstranten hin. Auch deutschen Strafverfolgungsbehörden wird »übermäßige Gewalt gegen Kinder« attestiert. Polizisten haben so beim Räumen von Straßenblockaden von Klimaschützern wiederholt sogenannte Schmerzgriffe auch bei Minderjährigen angewendet. Folgen hat ihr Vorgehen für die Beamten nicht. 13 Ländern, einschließlich der BRD, konstatiert AI »Fälle von Straflosigkeit oder mangelnder Rechenschaftspflicht der Polizei«.

Die Menschenrechtsorganisation beklagt zudem einen »beunruhigenden Trend der Stigmatisierung« von Demonstranten als »ausländische Agenten«, »Terroristen« und »Extremisten« durch Behörden und Politiker, der auf Delegitimierung ziele. Besonders im Fokus verbaler »Dämonisierung« wie nachfolgender repressiver Maßnahmen stehen Klimaschutzaktivisten und die Palästina-Solidaritätsbewegung. Erstere werden dabei nicht nur als »Öko-Terroristen« und »Kriminelle« verunglimpft, sondern in einigen Ländern auch auf Grund von Akten des zivilen Ungehorsams mit Antiterrorgesetzen verfolgt. In der BRD kam so der Strafrechtsparagraph 129 »Bildung einer kriminellen Vereinigung« gegen die Gruppe »Letzte Generation« zur Anwendung, deren Aktivisten wurden in Bayern in wochenlange Präventivhaft gesperrt.

Dem Vorgehen gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Genannt werden teils wochenlange präventive Verbote von Protesten in deutschen Städten, die Untersagung bestimmter Parolen, Gesänge und Symbole wie der Kufija, die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen und Camps sowie willkürliche Festnahmen. Dadurch sowie durch die Diffamierung friedlicher Proteste als antisemitisch würden rassistische Vorurteile und Stereotype verankert und ein »institutionalisierter Rassismus, der auf Araber und auf Muslime zielt« deutlich.

Kritisiert wird der zunehmende Einsatz von Überwachungstechnologien, der zu Abschreckung und Einschüchterung führe. Insbesondere Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihres Aufenthaltsstatus oder als Schwarze, Araber und Roma sowieso diskriminiert oder ausgegrenzt seien, hätten Angst, ihre Rechte auszuüben. »Die Versammlungsfreiheit ist eines der wichtigsten Menschenrechte«, stellte die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Julia Duchrow, anlässlich der Studie klar, »Protest darf und soll stören«.

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  • Leserbrief von Frank-Reg. Wolff aus z. Zt. Wien (10. Juli 2024 um 12:10 Uhr)
    Tatsächlich will man staatlicherseits in 21 Nationen Europas Widerstand und Friedensbewegung im Keim ersticken, wofür frühzeitig aufgerüstet wurde mit Mikrowellen-Kanonen und Wasserwerfern mit Elektroschockfunktion für besonders hartnäckige »Randalierer« – als solche sehen viele vermeintliche »American Football«-Spieler (so sehen die jungen Männer in ihren Polizeirüstungen auf dem jW-Titelfoto vom 10. Juli d. J. eher aus) die Demonstranten insgeheim feindbildmäßig sehen dürften. Man beachte auf dem Foto auch die üblichen und mit Quarzsand gefüllten Polizeihandschuhe für den besseren Wumms, wie Olaf Scholz sicher sagen würde. Die Staatsmacht hat immer Recht und, nicht zu vergessen, ein Gewaltmonopol. Als meine beiden Söhne das Titelbild sahen, sagte Aramis (5): »Das sind Kriegsmänner!« – Kindermund tut Wahrheit kund und tatsächlich nähern wir uns, d. h. die so genannte »freie Welt« bürgerkriegsähnlichen Zeiten, besonders in den Vereinigten Polizeistaaten von Europa und Nordamerika!
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (9. Juli 2024 um 23:16 Uhr)
    Deutschland möchte innerhalb der NATO zur Führungsmacht aufsteigen, also mit Macht und Gewalt in Erscheinung treten. Was liegt da näher, als dass damit zusammenhängend auch die Staatsgewalt nach Innen zunimmt. Da wir hierzulande keine wirkliche anti.imperialistische Partei besitzen, kann daher der deutsche Staat mit mit aufmüpfigen Bürgern Schlitten fahren. Irgendwelche Salon-Marxisten sowie dozierende linke Kaffeekränzchen sind jedenfalls ungeeignet die deutsche Staatsgewalt aufzuhalten. So wird denn also erneut die alte-neue Parole »am deutschen Wesen, soll die Welt genesen« wieder Einzug halten und Hitlers und Konsortes Traum gen Osten zu ziehen wieder eine Renaissance erhalten. Bei solch brutalen deutschen Staatsgeist darf halt niemand mehr aus der Reihe tanzen, eine zweite Volksgemeinschaft ist hingegen angesagt.

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