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Aus: Ausgabe vom 12.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Wahlen in Frankreich

Diener des Volkes

Frankreich: Präsident Macron ignoriert den Sieg der Linken. Sein Umfeld verhandelt bereits mit der extremen Rechten
Von Hansgeorg Hermann
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Hat mit Auflösung des Parlaments chaotische politische Situation zu verantworten: Emmanuel Macron

Am Dienstag nachmittag flog Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nach Washington, um dort mit seinem senilen amerikanischen Kollegen Joseph Biden und den versammelten politischen und militärischen Anführern der NATO den 75. Geburtstag des Kriegsbündnisses zu feiern. Was daheim in Paris los war, die unerwartete Niederlage der extremen Rechten und seines eignen Wahlvereins Ensemble bei der Parlamentswahlen nur drei Tage zuvor, interessierte den Reisenden offenbar nicht: Auch am folgenden Mittwoch morgen kein Wort zum Ergebnis der Abstimmung, das diesmal knapp 67 Prozent der 50 Millionen Wahlberechtigten sichergestellt hatten – rund 20 Prozent mehr als bei den Wahlen vom Frühjahr 2022. Keine Anstalten machte der Präsident, den Gewinnern des Nouveau Front Populaire (NFP, Neue Volksfront) zu gratulieren. Und schon gar nicht, ihnen – wie das die Verfassung und die bisher geltenden demokratischen Regeln der Republik empfehlen – die Konstituierung einer neuen Regierung anzutragen. Macron spielt auf Zeit, während seine Vertrauten, wie die Pariser Tageszeitung Libération am Dienstag enthüllte, mit den Spitzen der extremen Rechten verhandeln. »Der Präsident«, empörten sich anderntags nicht nur die Chefs der französischen Gewerkschaften, »will der Linken den Sieg stehlen«.

Er werde bis zum 18. Juli warten, der ersten Plenarsitzung des Parlaments, ließ Macron immerhin wissen. Bis sich zu Hause »die Fronten geklärt« haben. Wie Bündnisse und Machtverhältnisse im Parlament künftig aussehen sollen, daraus hatte der Präsident schon vor dem zweiten Wahldurchgang am vergangenen Sonntag kein Geheimnis gemacht: die Reste der bürgerlich-konservativen Rechten zusammenlesen und mit seinem eigenen Verein zusammenbringen, was theoretisch für eine relative Mehrheit von etwas mehr als 200 Sitzen in der Nationalversammlung reichen könnte. Das würde die mit 180 Sitzen ausgestatteten Sieger nicht nur auf den zweiten Platz zurückwerfen, sondern womöglich auch Zwist in der von vier durchaus unterschiedlichen politischen Bewegungen getragenen NFP säen. Entscheidend scheint für Macron zu sein, das wurde in den vergangenen drei Tagen in aller Deutlichkeit klar, die »Linksradikalen der Volksfront« von der Regierung fernzuhalten.

Dass Vertraute des Präsidenten – unter anderen sein früherer Premier Édouard Philippe und sein aktueller Armeeminister Sébastien Lecornu – sich schon vor den Wahlen immer mal wieder bei Macrons langjährigem »offiziellen Berater« Thierry Solère mit den Führern des extrem rechten Rassemblement National (RN) – Libération identifizierte Marine Le Pen und den RN-Spitzenkandidaten Jordan Bardella – zu streng geheimgehaltenen Abendessen zusammengesetzt hatten, sollte hier ebenfalls berücksichtigt werden.

Der Historiker Johann Chapoutot – Professor an der Pariser Sorbonne, international renommierter Spezialist für den deutschen Faschismus und 2015/16 Forscher an der FU Berlin – mahnte in einem am Mittwoch in derselben Zeitung erschienenen Artikel: »Es ist der Moment, in dem die Bourgeoisie, die bisher eher ›Hitler‹ als ›Front Populaire‹ flüsterte, sich ihrer historischen Verantwortung bewusst werden muss.« Die »führenden Kader der Republik« hätten diesmal »doppelt so zahlreich wie 2022 den RN gewählt«. Chapoutot: »Die Börsenwerte schnellten nach Bekanntwerden der Ergebnisse des ersten Wahlgangs in die Höhe. Die Milieus des Kapitals wissen genau, dass sich die extreme Rechte immer mit ihnen verbünden wird.« Die Linke habe sich nicht nur gegen eine politisch-gesellschaftliche Elite wehren müssen, von der man »sich fragen muss, weshalb sie diese Bezeichnung überhaupt verdient«. Ihre Gegner sitzen, heißt es schließlich, bis heute auch in den Medienhäusern, namentlich denen des katholisch-faschistischen Milliardärs Vincent Bolloré, den der Historiker mit dem deutschen Medienzaren der 1930er Jahre, Alfred Hugenberg, vergleicht.

Am Mittwoch nachmittag dann endlich die erste Wortmeldung des Präsidenten aus dem fernen Washington, ein staatsmännisches Blabla, das allerdings die Linke ausschließt: In seiner Funktion als Chef der Republik fordere er »die republikanischen Kräfte« auf, »für unser Land eine solide, notwendigerweise pluralistische Mehrheit aufzubauen«. Macron, der mit der vorzeitigen Auflösung des Parlaments am 9. Juni für die gegenwärtige chaotische politische Situation im Land sorgte, sieht sich dennoch, wie er in seiner schriftlichen Erklärung an das französische Volk versichert, als »Bewahrer der höheren Interessen der Nation, Garant der (staatlichen) Institutionen und des Respekts vor Ihrer Wahl«.

Noch nicht ausgesucht haben die vier Parteien, auf denen die Volksfront gründet, eine Person, die Macron als möglicher Führer einer neuen linken Regierung präsentiert werden könnte. Im Weg steht der Einigung auf eine mehrheitsfähige Personalie, die sich in der Nationalversammlung – etwa beim »linken« Flügel des Präsidentenblocks Ensemble – behaupten könnte, offenbar nach wie vor der Patriarch der La France insoumise (LFI), Jean-Luc Mélenchon. Bei den Partnern – Sozialisten (PS), Kommunisten (PCF) und Grünen (EE-LV) – gilt er als »nicht mehrheitsfähig«. Dagegen zeigte sich PS-Chef Olivier Faure, ein Sozialdemokrat des linken Parteiflügels, »bereit und in der Lage«, Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Hintergrund: Rat von rechts außen

Seit dem offenbar verstörenden Sieg der linken Volksfront haben es sich Frankreichs bürgerliche Blätter und die meisten TV-Kanäle lieber rechts und rechts außen bequem gemacht. Der ursprünglich eher in der linksliberalen Mitte des politischen Spektrums verortete Sender France Info etwa lädt jeden Tag zur Primetime Kollegen aus dem Medienreich des katholisch-faschistischen Unternehmers Vincent Bolloré ein. Seinen Büchsenspanner, den Entertainer Cyril Hanouna, lässt er auf dem TV-Kanal C8 gegen »Linksradikale« pöbeln und nimmt dafür sogar Konventionsstrafen von jüngst 3,5 Millionen Euro lächelnd in Kauf.

Kein Problem mit den Rechtsaußen Marine Le Pen oder dem seine Niederlage öffentlich kleinredenden Spitzenkandidaten Jordan Bardella. Auf privaten wie öffentlichen TV-Bühnen sind sie herzlich willkommen. Im Gegensatz zu den frisch gewählten Abgeordneten der Wahlsieger vom Nouveau Front Populaire. Konfrontiert mit eifrig herbeigeredeten Unterstellungen – »Antisemitismus«, »Finanzchaoten« – stehen sie von Beginn an mit dem Rücken zur Wand und sehen sich, falls sie überhaupt eingeladen werden, einer Phalanx angeblich bestens informierter »Editorialisten« gegenüber, die das Lied des Präsidenten Macron singen: »Keine Macht den Linken.« »Gewonnen« habe ja eigentlich der rechtskonservative zentrale Bürgerblock des Staatschefs – er müsse sich halt nur zusammenraufen.

Nicht zu vergessen die brüderlich-christliche Verständigung dieser braven Rechten mit den wilden Rechtsaußen der Marine Le Pen: »Von der Macronie bis zum Rassemblement National ist die Stufe niedrig und die Schwelle leicht zu überschreiten«, warnte Johann Chapoutot am Mittwoch in der Tageszeitung Libération. (hgh)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. Juli 2024 um 12:49 Uhr)
    Der Präsident will eine breite Elitenallianz ohne Extreme. Macron als Präsident verhalte sich parteiisch und versuche, sein eigenes Lager an der Macht zu halten. Seine Vertrauten versuchen in der Tat fieberhaft, der Linken zuvorzukommen und ein mehrheitsfähiges Bündnis mit gemäßigten Konservativen und Sozialdemokraten zu zimmern. Zusammen kämen die drei Parteien auf 293 Sitze, knapp mehr als die absolute Mehrheit von 289 Sitzen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marie-Dominique V. (11. Juli 2024 um 20:40 Uhr)
    Ich möchte den Artikel mit einem Blick auf die Menschen und Organisationen ergänzen, die sich drei Wochen lang stark engagiert haben, um für die Alternative »Nouveau Front Populaire« zu werben und ebenfalls versucht haben, den Einfluss des RN zurückzudrängen. Auch wäre es wichtig, die Debatten unter den Linken über die Gründe für die Zustimmung zum RN und über deren eigenen Ziele und Strategien zu dokumentieren. Hier einige Übersetzungen und Verweise: https://www.sand-im-getriebe.org/artikel/frankreich-2024

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