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Aus: Ausgabe vom 12.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

In der Stunde der Gefahr

Die Notizbücher Erich Mühsams geben Einblick in seine politischen und privaten Aktivitäten von 1926 bis 1933
Von Sabine Lueken
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Erich Mühsam (6.4.1878–10.7.1934)

»Reisevorbereitungen … Verhaftung. Abtransport … nach Sonnenburg … mit Ossietzky und Litten«. Das waren die ersten Einträge, die Erich Mühsam im Jahr 1933 in seinen Notizkalender schrieb, die letzten stammen vom 7. September. Noch Anfang Februar hatte er im Arbeiter-Echo, der Zeitung der FAUD (Freie Arbeiterunion Deutschlands), zum »sozialen Generalstreik« aufgerufen und für die »Einheitsfront der gesamten Arbeiterklasse gegen den Faschismus« geworben: »Soll der Kampf um die Richtungen in der Stunde der Gefahr höher bewertet werden denn der Kampf gegen den gemeinsamen Feind?« Am 27. Februar, als der Reichstag brannte, packte er seine Sachen. Es war zu spät. Am 28. Februar, früh um fünf, verhafteten ihn zwei Kripobeamte in seinem Reihenhaus in der Dorchläuchtingstraße 48 in Berlin-Britz und brachten ihn ins Polizeipräsidium Lehrter Straße. Hier begann sein Leidensweg, der in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg mit seiner Ermordung endete – vor 90 Jahren.

Die Gustav-Landauer-Initiative hat die Notizbücher Erich Mühsams, die er seit seiner Entlassung aus der Festungshaft am 20. Dezember 1924 führte – Tagebuch schrieb er nicht mehr –, transkribiert und in zwei kleinen Broschüren herausgebracht, angereichert mit einer Einleitung, faksimilierten Zeitungsartikeln und Veranstaltungsankündigungen. Die Originale befinden sich im Moskauer Gorki-Institut, die digitalisierten Mikrofilmkopien seit 1955 in der Akademie der Künste – seit der Rückkehr Zenzl Mühsams nach Ostberlin, nach fast 20 Jahren Haft und Verbannung in der Sowjetunion. Ob Hefte aus den Jahren 1925 und 1932 verlorengingen, vernichtet wurden oder gar nicht existierten, ist nicht bekannt. Die Notizen – in den Jahren 1930 und 1931 kryptischer werdend – lassen Mühsams Aktivitäten und seine Kontakte mit berühmten und auch unbekannten Menschen nachverfolgen. Neben circa tausend Namen geben die vielen Abkürzungen Mühsam-Freunden Gelegenheit, sich detektivisch-forschend an der weiteren Entschlüsselung der Notizhefte zu beteiligen.

Nach seiner Ankunft am Berliner Anhalter Bahnhof, wo ihm 1924 Tausende einen triumphalen Empfang bereiteten, den die Polizei gleich niederknüppelte, wurde Mühsam unverzüglich aktiv für die sich weiter in Haft befindenden mehr als 7.000 linken politischen Gefangenen. Auf der großen Amnestiekundgebung der Roten Hilfe am 4. Januar 1925 und im weiteren auf Veranstaltungen in der ganzen Republik trat er unermüdlich als Redner auf, reiste zu Verhandlungen, besuchte Häftlinge im Zuchthaus, sprach auf Bezirksgruppentreffen, besorgte Geld. Seine Schrift »Gerechtigkeit für Max Hoelz!« (1926) erzielte in einer Gesamtauflage von 45.000 Exemplaren größte Verbreitung.

Aufgrund dieser Aktivitäten schloss ihn die FKAD (Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands) nach kurzer Mitgliedschaft 1925 aus. Mühsam betreibe »offen eine propagandistische Tätigkeit im Interesse der Kommunistischen Partei« und mache »Reklame« für den Rotfrontkämpferbund. Gehässig bezichtigte man ihn, er ließe sich von der Roten Hilfe bezahlen und sei außerdem »noch nicht aus der Kirche (sic!) ausgetreten«. Im »Interesse der Reinheit der anarchistischen Bewegung« müsse »der Trennungsstrich gezogen werden«, Mühsam sei »Revolutionär, aber nicht Anarchist« (Der freie Arbeiter, Nr. 43, 1925). Kritisiert wurde darüber hinaus sein fehlendes Engagement für inhaftierte Anarchisten in der Sowjetunion. Als er es dann doch tat, kam es zur »Kontroverse mit (Wilhelm) Pieck«. Im Januar 1926 notierte Mühsam »Austritt aus dem Judentum«, im Januar 1929 »Austritt a d Roten Hilfe«.

1926 gründete Mühsam die »Liga gegen koloniale Unterdrückung« mit sowie seine neue Zeitung Fanal, deren fast alleiniger Autor er war. Seine Abhandlung »Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat« erschien in der letzten Ausgabe 1933. Er war die Schlüsselfigur der »Anarchistischen Vereinigung Neukölln«, die jeden Donnerstag im Lokal »Köhler« in der Ziethenstraße 64 »anarchistische Abende« veranstaltete, außer ihm referierten dort zum Beispiel Herbert Wehner und sein Freund Rudolf Rocker. Wehner, der bei Mühsam wohnte, trat im März 1927 zur KPD über (»Krach mit Herbert. Treuebruch! Geldverrechnung mit H[?!]«). 14 Tage später notierte Mühsam »(e)rste Beschlüsse zur Begründung einer anarch Opposition im engsten Kreise« und überlegte, wie man die anarchistische Bewegung aktivieren könne. Mühsam sprach bei der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«, der kulturpolitischen Organisation der Anarchosyndikalisten, beim »Schutzverband Deutscher Schriftsteller«, gehörte zum dramaturgischen Kollektiv der Piscator-Bühnen. Er besuchte Theater- und Kinovorführungen, traf sich mit Freunden, vermerkte bei sich zu Hause »Massenbesuch«, verreiste und war auch in erotischen Dingen unterwegs. Ab April 1929 verzeichnete er im Notizbuch schwere Auseinandersetzungen mit Zenzl. Eine seiner letzten Freundinnen war Liesel Albrecht, die Vorsitzende des Anarchistischen Frauenbundes Deutschland. »Überhaupt hätte ich, was Frauen anbelangt, nicht zu klagen, wäre nicht die Raumfrage so schwierig zu lösen. Die Berliner Absteige-Hotels sind schmierig und teuer und ein ständiges Quartier in der Stadt kann ich mir nicht leisten«, schrieb er seinem Freund Carl Georg von Maassen.

Die Notizbücher zeigen: Neben seinem Einsatz für die politischen Gefangenen entfaltete Mühsam eine unglaubliche Aktivität und war vielfältig vernetzt. Er warb ohne Berührungsängste überall für die »Einigkeit der Arbeiterschaft«. Sein dringendes Anliegen, gemeinsam ohne Führungsanspruch »dieser oder jener Partei, Gewerkschaft, Programmverpflichtung« gegen die Nazis zu kämpfen, scheiterte an der reaktionären Übermacht.

Erich Mühsam: Notizbücher, Band eins: 1926–1928, Band zwei: 1929–1933. Hg. von der Gustav-Landauer-Initiative, Berlin 2023. Für zehn Euro plus Porto zu bestellen bei der Gustav-Landauer-Initiative: gustav-landauer.org

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