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Aus: Ausgabe vom 12.07.2024, Seite 12 / Thema
DDR-Literatur

Cherchez la femme

Kritische Anmerkungen zu Carsten Gansels Biographie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann
Von Cristina Fischer
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Die 1973 verstorbene Schriftstellerin Brigitte Reimann erfeut sich immer noch großer Beliebtheit. Jüngst wurde sie in den USA und Großbritannien als selbstbewusste DDR-Autorin entdeckt (Reimann liest im Haus des Zentralrats der FDJ, Ostberlin, 9.12.1966)

»Sie sprachen Deutsch, und ich hörte die ­deutschen Vokabeln und kam mir dennoch vor wie eine unerkannte Reisende in einem ­fremden Land.« (»Die Geschwister«)

Brigitte Reimann, »eine der schillerndsten Schriftstellerinnen der DDR« (MDR) oder sogar »eine der wichtigsten deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts« (Ingeborg Gleichauf), war ein Shootingstar der Nachkriegszeit.¹ Geboren im Juli 1933 in der Kleinstadt Burg bei Magdeburg, beschloss sie mit 14, Schriftstellerin zu werden und besaß neben ihrem ungewöhnlichen Talent auch mehr als genug Energie und Willenskraft, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die ehrgeizige junge Frau hatte auf der Oberschule rasch mit selbstgedichteten und -inszenierten Laienspielen Erfolg, wurde regional, dann überregional bekannt und begann zu publizieren, bevor sie 20 war. Ihre Lektoren erkannten ihre Begabung und bemühten sich ausdauernd, ja geradezu liebevoll um sie.

Reimann debütierte 1955 mit den Erzählungen »Der Legionär« und »Der Tod der schönen Helena«, die noch als Heftchen gedruckt wurden, letztere zugleich in Fortsetzungen in der Jungen Welt. 1956 erschienen in Buchform »Kinder von Hellas« über die griechische Partisanenbewegung und »Die Frau am Pranger« über die verbotene Liebesbeziehung zwischen einer jungen deutschen Bäuerin und einem sowjetischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs. Damit hatte sich Reimann bereits als Schriftstellerin etabliert.

In ihrer Erzählung »Ankunft im Alltag« (1961) verarbeitete sie ihre ersten Erfahrungen im Kombinat Schwarze Pumpe in Hoyerswerda. Der Titel prägte den Begriff der »Ankunftsliteratur« als einer Phase der frühen DDR-Literatur, die der Orientierungssuche der Nachkriegszeit und dem »Aufbaupathos« der 1950er Jahre folgte. »Die Geschwister« (1963) setzt sich mit der geplanten Republikflucht eines Mittzwanzigers auseinander, die von dessen Schwester verhindert wird.

Internationaler Ruhm

Reimanns Prosa befasst sich vordergründig mit den Problemen junger Frauen im Konflikt zwischen akzeptierter gesellschaftlicher Pflicht und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, Liebe und Anerkennung. Unabhängig von den gewählten Schauplätzen und historischen Rahmenbedingungen sprach sie so zunächst ein junges, vornehmlich weibliches Publikum an, konnte aber durch aktuelle Themen, Konfliktbewusstsein und die Diskussion heikler Probleme auch darüber hinaus begeistern. »Wir haben ein Recht, Fragen zu stellen, wenn uns eine Ursache dunkel, ein Satz anfechtbar, eine Autorität zweifelhaft erscheint«, heißt es etwa in »Die Geschwister«. Zweifelhafte Autorität? In der DDR klang das provokant.

Dass Brigitte Reimann, schwer erkrankt, in ihren letzten zehn Lebensjahren kaum noch publizierte, tat ihrem Nimbus kaum Abbruch. Der Verlag Neues Leben wartete geduldig auf die Fertigstellung ihres Hauptwerks, des vor 50 Jahren dann posthum erschienenen Romans »Franziska Linkerhand«. Die Autorin starb 1973, noch nicht 40jährig, an Krebs. Ihr – unvollendet gebliebener – Roman erlebte alsbald eine Auflage nach der anderen. Ihr zehnter Todestag wurde in der DDR feierlich begangen; zu diesem Anlass kam eine umfangreiche, allerdings stark gekürzte, zensierte und so zum Teil verfälschende Zusammenstellung ihrer Tagebücher und Briefe heraus, die auch in Westdeutschland nachgedruckt wurde.

Nahezu vollständige Ausgaben ihrer Tagebücher waren erst nach der »Wende« möglich und sorgten für die Neuentdeckung der streitbaren und erotisch besessenen Frau, die es in gut 20 Jahren auf vier Ehen und unzählige Affären gebracht hatte. Publikationen unveröffentlichter Texte sowie ihrer Briefwechsel mit Christa Wolf, mit Schulfreundinnen im Ausland und mit ihrer Familie folgten. Zuletzt wurden ihre Korrespondenzen mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, und mit den befreundeten Schriftstellern Wolfgang Schreyer, Reiner Kunze und Günter de Bruyn herausgegeben. Eine der Editorinnen, die ehemalige Bibliothekarin Kristina Stella, erarbeitete eine über 1.700 Seiten (!) umfassende, kommentierte Bibliographie sowie eine Datenbank zum Werk Reimanns.²

Beim Berliner Aufbau-Verlag sind derzeit achtzehn Titel von ihr und über sie erhältlich; zuletzt erschienen frühe, weithin unbekannte Texte (»Katja. Erzählungen über Frauen«). Im Juni kam im Mitteldeutschen Verlag in Halle ein Essay von Ingeborg Gleichauf über den Lebens- und Schreibstil der Autorin heraus (»Als habe ich zwei Leben – Brigitte Reimann«).

In den vergangenen Jahren sind ihre Werke und Tagebücher ins Spanische und ins Englische übersetzt worden; auch in den USA wurde sie entdeckt. Im Magazin The New Yorker stand im vergangenen Jahr ein ausführlicher Beitrag über sie und ihre Erzählung »Die Geschwister« (»Siblings«), die zu den besten Büchern des Jahres gerechnet wurde und sich recht erfolgreich verkaufte.³ Später internationaler Ruhm einer Schriftstellerin, die ihr Leben in der DDR-Provinz (Burg bei Magdeburg, Hoyerswerda und Neubrandenburg) verbracht hatte.

Anspruchsvoller Ansatz

Es scheint nur zwei Wege der biographischen Annäherung an Brigitte Reimann zu geben – zum einen die empathische Identifikation mit der leidenschaftlichen und leidenden Frau unter exzessiver Auswertung ihrer Selbstzeugnisse – oder aber, schwer vorstellbar, nüchterne Distanzierung und Objektivierung. Zuerst hatte sich Dorothea von Törne vor allem in Einfühlung versucht (»Brigitte Reimann. Einfach wirklich leben. Eine Biographie«, Berlin 2001). Ihr Buch war oberflächlich und konnte nicht befriedigen.

Der Germanistikprofessor Carsten Gansel (Universität Gießen) hat in seiner im vergangenen Sommer im Aufbau-Verlag erschienenen »ersten großen, umfassenden« Biographie (mit dem ebenfalls wenig originellen Titel »Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann«) den anderen, vermeintlich sachlichen Weg gewählt. Er geht von vernünftigen und ehrenhaften Prämissen aus. Die Schwierigkeiten von Reimanns Biographie sieht er in der Gefahr zur »Stereotypenbildung«, bei der »praktische Orientierungs- und Aufarbeitungsbedürfnisse mitspielen«. So habe das Leben der Autorin »fast allen als Beleg für die Enge, die Unattraktivität, Geschlossenheit, Vormodernität der ostdeutschen Verhältnisse« gedient, »an denen sie gescheitert sei.« »Wo die DDR einzig als Ort der Tristesse, der Enge, des grauen Alltags, der Zurückgebliebenheit wahrgenommen« werde, dort müsse Reimann »als ›Exotin‹, als ›Candida des DDR-Sozialismus‹, als ›privatistischste Autorin der DDR‹ gelten«, und ihre Tagebücher als das Beste, was die DDR-Literatur hervorgebracht hat. Zahlreiche Klischees wie das einer »frühzeitig desillusionierten Sozialistin«, die von der Stasi drangsaliert wurde, und einer »Nymphomanin«, »die die verlogenen moralischen Konventionen der spießigen DDR« in Frage gestellt hat, stünden in Raum.

Vor allem westdeutsche Journalisten und Kritiker lieferten »durch Bildung von Stereotypen Bilder von der DDR und ihren Autoren, die (…) an der Neukonstitution eines spezifischen historischen (neu)deutschen Bewusstseins mitwirken und sich aufgrund ihrer Vereinfachungen in ein solches auch widerspruchslos einpassen lassen«, rügt Gansel. Insofern sei sein Werk auch »als Versuch zu verstehen, Aspekte von DDR-Geschichte neu zu buchstabieren«.

Für seine Biographie hatte Gansel sich zudem vorgenommen, Brigitte Reimanns »Version der Wirklichkeit« in ihrem Werk und ihren Tagebüchern »durch eigenständige Arbeit am Material« »mit anderen möglichen Versionen« dieser Wirklichkeit zu vergleichen. Dazu sollten neue Quellen, Zeitstimmen und Erinnerungen herangezogen, gegebene Fakten neu »besichtigt« und »bislang unbekannte, verschwiegene, vergessene Zusammenhänge« dokumentiert werden.

Leider gelingt die Neubewertung der Autorin im Rahmen ihres privaten und gesellschaftlichen Umfelds nur stellenweise. Bemerkenswert erscheint Brigitte Reimanns politisches Engagement Anfang der 1960er Jahre und ihre Nähe zu führenden Funktionären der SED bis hin zu Mitgliedern des Zentralkomitees. Zeitweise erfreute sie sich sogar der besonderen Anerkennung Walter Ulbrichts. »Bücher helfen verändern«, meinte Reimann damals, das sei eine der »schlichten Wahrheiten« gewesen, die sie für sich entdeckt habe. Natürlich blieb ihr dieser Optimismus nicht ungebrochen erhalten. Doch Gansels Bewertungen geraten immer wieder banal und klischeehaft, wenn er Reimann etwa bescheinigt, sich »von den durch die SED vorgegebenen Rahmenideologemen« emanzipiert zu haben oder wenn er doziert, die »spezifische ostdeutsche Mentalität« habe sich »gerade im Wechselspiel zwischen Individuum und staatlichen Instanzen« herausgebildet – was immer das heißen soll. Unfreiwillig komisch wird es, wenn Gansel erläutert, die »Modernisierung im materiellen Bereich« habe »ihren Preis« gehabt: Es sei in der DDR »zum gesellschaftlich motivierten Einfrieren der Lüste und Leidenschaften (…) in den begrenzenden Kreisen materieller und ideeller Arbeit« gekommen: »Für das Ausleben von Sexualität bleibt in diesem Rahmen mitunter keine Zeit.« Fürwahr eine herbe Bilanz, die auf die DDR-Bevölkerung im allgemeinen und Brigitte Reimann im ganz besonderen jedoch nachweislich nicht zutrifft.

Über zwei unveröffentlicht gebliebene Manuskripte der Schriftstellerin teilt Gansel mit: »Letztlich kamen beide Texte unter die Räder in eben diesem nicht anders als stalinistisch zu bezeichnenden Kurs der SED-Parteiführung, der schon zu den Verhaftungen und Verurteilungen der sogenannten Harich-Gruppe geführt hatte.« Abgesehen vom verquasten Stil – hier werden Ursache und Wirkung miteinander verwechselt. Von der versprochenen »Neubewertung« kann keine Rede sein, es werden nur sattsam bekannte Klischees wiederholt.   

Falsche Schlüsse

Der Kindheit und Jugend seiner Protagonistin widmet der Biograph etwa ein Drittel seines über 600 Seiten starken Buchs, obwohl gerade dieser Abschnitt ihres Lebens nur spärlich dokumentiert ist. Tatsächlich lässt sich die konfliktgeladene Individualität Brigitte Reimanns nur von ihren Wurzeln her erklären. Die wesentlichen Komponenten ihrer Entwicklung waren die mitteldeutsche Kleinstadt Burg, in der sie 27 Jahre lang lebte, ihre bildungsbürgerliche Familie mit katholischer Mutter und jahrelang abwesendem Vater sowie die spezifische historische Situation 1933–1945. Sie wurde »hineingeboren in das Dritte Reich« (so der Titel des dritten Kapitels der Biographie), und ihre Pubertät fiel in die Zeit des Übergangs vom Faschismus zum Sozialismus in der SBZ.

Ihr Vater Willi Reimann, Redakteur der Burger Lokalzeitung, war am 1. Mai 1933, vermutlich vorwiegend aus beruflichen Gründen, Mitglied der NSDAP unter der Nummer 1.988.749 geworden.⁴ Um diese Tatsache windet sich Gansel geschickt herum, indem er lediglich erwähnt, Reimann habe sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dafür interessiert, wie man im Nachkriegsdeutschland mit ehemaligen Parteigenossen verfuhr. Willi Reimann sei »nur Verlagsmitarbeiter und nicht Mitglied der Reichsschrifttumskammer« gewesen, was im übrigen zu bezweifeln ist.

In diesem Zusammenhang unterläuft dem Biographen ein fataler Missgriff. Auf der Suche nach Informationen über die soldatische Laufbahn des Vaters hatte er sich ins Militärarchiv nach Moskau begeben; er schildert seinen Archivbesuch ausführlich. Das Gesuchte hat er allerdings gar nicht gefunden. Im Archiv ist nur die unvollständige Akte eines zwar ebenfalls aus Burg stammenden und 1904 geborenen Willi Reimann vorhanden, der jedoch von Beruf Maurer war. Er wurde in der Sowjetunion 1949 wegen »Kriegsverbrechens« inhaftiert und angeklagt (nicht verurteilt) und Anfang 1950 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Gansel bekennt, dass er mit dem »zweiten Willi Reimann«, auf den er gestoßen war, »nichts anfangen« konnte. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich in wilden Spekulationen zu ergehen. »Mit einiger Sicherheit« sei dieser Mann »als KGB-Agent nach Deutschland zurückgekehrt«, zitiert er einen »ausgewiesenen Spezialisten«, Alexander Zabelin.

Dass diese Schlussfolgerung ziemlich gewagt, wenn nicht absurd ist, wird klar, wenn man sich auf die Suche nach dem »Doppelgänger« begibt. Schnell stellt sich nämlich heraus, dass es sich bei ihm um einen Burger Cousin des Vaters von Brigitte Reimann handelt, der als Maurer für den Wiederaufbau in der Sowjetunion dringend gebraucht wurde, und der sich vermutlich zum Kriegsverbrecher ebenso wenig eignete wie zum KGB-Agenten. Dass der Vetter/Namensvetter dem Biographen nach 20 Jahren intensiver Forschung entgangen ist, dass er andererseits trotzdem mit seinen Archivrecherchen in Moskau angibt und einen ihm Unbekannten leichtfertig beschuldigt, ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Willi Reimann Nr. 2 hat jedenfalls nach dem glaubhaften Bericht seiner Tochter Ruth bis zu seinem Tod 1974 als unbescholtener Prolet in seiner Heimatstadt Burg in der DDR gelebt.⁵

Kindheitsmuster

Die Widersprüche, in die sich Gansel immer wieder verstrickt, irritieren. So behauptet er, Brigitte Reimann habe »über die Jahre unter Hitler, mithin ihre Kindheit, nur wenig mitgeteilt.« Als Beleg zitiert er ihre briefliche Aussage von 1961 gegenüber einem hohen Kulturfunktionär: »Ich war bei Kriegsende elf Jahre alt, ich hatte noch gelernt, mit erhobenem Arm zu grüßen und den schwarzen Schlips korrekt zu tragen, wenig mehr.«⁶

Allerdings war sie bei Kriegsende fast zwölf und von ihrer Auffassungsgabe und Reife ihren Altersgenossinnen mindestens um ein Jahr voraus, sie stand »hoch über deren Bildungsniveau«, wie sie selbst einschätzte.⁷ Gansel führt Briefe an, die die Zehnjährige ihrem Vater an die Front schrieb, und die »den kindlichen Horizont eigentlich weit überschreiten«. Sie berichtet von »schweren Verlusten der Bevölkerung«, von denen im Wehrmachtsbericht die Rede war, erregt sich über die Luftangriffe der Engländer, die sie am liebsten »an der Gurgel packen und schütteln« wolle, »dass ihnen Hören und Sehen vergeht«, und fügt pathetisch hinzu: »Auch das aufgegebene Afrika ist für mich ein schwerer Schlag! Ein Strich durch meine ganze Zukunftsrechnung! Leider!«

Über die Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad war sie ebenfalls im Bilde. Wie viele andere Schüler verfolgte sie den Vormarsch der deutschen Truppen auf einer mit Fähnchen markierten Landkarte. Mit zehn Jahren wurde sie begeistert »Jungmädel«, wofür sie sich mühelos mit NS-Liedgut und der Kenntnis des Lebenslaufs des »Führers« qualifizierte. Bis Kriegsende wurde sie nach eigenen Angaben in Lazaretten und auf Bahnhöfen eingesetzt und noch im April 1945 zur Scharführerin ernannt. Außerdem war sie Schriftführerin.

Über ihre »Nazivergangenheit« äußerte sich Reimann in einem im Schularchiv erhalten gebliebenen Aufsatz (»Mein Bildungsgang«), den sie in der 12. Klasse verfasste, und den Gansel an anderer Stelle ebenfalls zitiert: »Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass der Krieg seinerzeit besonderen Eindruck auf mich gemacht hätte. (…) Übrigens habe ich bis zur letzten Minute, als wir, um unser Leben zitternd, russische Panzer durch die Stadt rollen hörten, an den Sieg Deutschlands geglaubt – wahrscheinlich sogar später noch.« Noch 1947 sei sie davon überzeugt gewesen, »der einst so verehrte ›Führer‹ lebe irgendwo in Argentinien und werde eines Tages wiederkommen«. Ihre ideologische Welt habe »zu fest gestanden«, um nach der Kapitulation einfach zusammenzubrechen, »sie musste Stein für Stein abgetragen werden.« Man hat sich also die 13–14jährige noch nach dem Krieg als überzeugte Nationalsozialistin vorzustellen. Gansel kommentiert ihre Aussagen kaum, jedenfalls nicht direkt, sondern wendet sich statt dessen entsprechenden Erfahrungen anderer Schriftsteller (Uwe Johnson, Erich Loest) zu.

Der Lebenslauf dient ihm dennoch als Beleg dafür, dass Reimann mit ihrer »NS-Belastung« viel offener umgegangen sei als ihre vier Jahre ältere Kollegin Christa Wolf, die erst Anfang der 1970er Jahre an die Aufarbeitung ihrer »Kindheitsmuster« ging. Dabei lassen sich beide Sachverhalte nicht miteinander vergleichen. Wenn die 17jährige Brigitte Reimann auf Wunsch ihres Direktors »ehrlich« über die vergangenen Jahre berichtete, dann nicht zuletzt deshalb, weil ihre Schullaufbahn, mithin auch ihre begeisterte Betätigung im Jungmädelbund und ihre Ablehnung gegenüber den sowjetischen Besatzern ihren Mitschülerinnen, Lehrern und ihrem Direktor ohnehin bestens bekannt waren. Da gab es nichts zu vertuschen; für die Öffentlichkeit war ihr Aufsatz nicht gedacht.

In ihrem Roman »Franziska Linkerhand« hat Brigitte Reimann ausführlich über die Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin geschrieben und dabei offensichtlich eigene Erlebnisse aufgearbeitet. Doch sie lässt ihre Heldin wohlweislich erst 1937 geboren und somit bei Kriegsende erst sieben bis acht Jahre alt sein. Auf diese Weise umgeht sie die Notwendigkeit, sich mit der Nazivergangenheit ihrer Heimatstadt, ihrer Eltern und Lehrer und mit dem eigenen kindlichen Glauben an den »Führer« auseinandersetzen zu müssen.

Vielleicht hätte sie Christa Wolfs Werk »Kindheitsmuster«, dessen Erscheinen sie nicht mehr erlebt hat, angeregt, eine analoge Bilanz der 1930er und 1940er Jahre zu versuchen. Da das nicht geschah, muss die damalige Situation in Burg, im Elternhaus Reimann und in der Schule biographisch auf andere Weise rekonstruiert werden.

Gansel gelingt das nur teilweise, indem er  Lehrpläne und -bücher, zum Beispiel eine 1939 eingeführte Fibel mit entsprechenden Naziinhalten, auswertet und zitiert. In dem Zusammenhang behauptet er allerdings fälschlich, die Nazis hätten »zu diesem Zeitpunkt« (1939) »versucht, den Lehrkörper an den Schulen ›gleichzuschalten‹.« Dabei verweist er selbst an anderer Stelle auf das »Berufsbeamtengesetz« von 1933, dem jüdische, kommunistische, sozialdemokratische (im Jargon der Nazis »marxistische«) und andere antifaschistische Lehrer zum Opfer fielen. Sie wurden zumeist bis 1934 aus dem Schuldienst entfernt, oft ohne die ihnen zustehenden Pensionen zu erhalten.

Der Biograph vergisst außerdem zu hinterfragen, warum der in der Weimarer Republik engagierte sozialdemokratische Lehrer und Funktionär Hubert Tschersig, der vor und nach 1945 Reimanns Schuldirektor war, und der 1932 angeblich die Übertragung einer Hitlerrede im schlesischen Rundfunk verhindert hatte, dieser Aussortierung entgangen ist. Bei der Überlieferung von relevanten biographischen Details stützt er sich nur auf einen Zeitungsartikel von 1986.

Tschersig, von seinen Schülerinnen spöttisch »der Aal« genannt, dürfte einer der ganz wenigen »marxistischen« Pädagogen sein, die ihre Laufbahn von den 1920ern bis in die 1950er Jahre nahezu bruchlos fortsetzen konnten. Er blieb auch in der DDR Schuldirektor und passte sich dort erneut geschickt an. Ob man diesen hochintelligenten, aber wohl auch opportunistischen und manipulativen Lehrer ohne weiteres als Lichtgestalt im Leben Brigitte Reimanns bewerten kann, obwohl er sie förderte, ist fraglich.

Ausführlich zitiert der Biograph aus von ihm ermittelten Schulunterlagen, ohne dass sich in jedem Fall der konkrete Bezug zu seinem Gegenstand erschließt. Das wäre nicht in solchem Umfang nötig gewesen, sind doch reichlich Materialien von Reimann aus ihrer Schulzeit überliefert, die Gansel von ihrer einstigen Burger Oberschule erhalten hat. Darunter ein bemerkenswerter Abituraufsatz zu Heinrich Manns »Der Untertan«, von dem man, statt seitenlang abgedruckter kitschiger Liebesgedichte des Teenagers, gern mehr gelesen hätte.

Dröge und langatmig

So gut wie gar nicht greift Gansel bei der Darstellung von Reimanns Kindheit und Jugend auf ihren Roman »Franziska Linkerhand« zurück, obwohl darin zahlreiche autobiographisch grundierte Passagen zu finden sind, die Aufschluss über die Ursprünge der ruhe- und haltlosen Persönlichkeit der Verfasserin geben könnten. Statt dessen ermüden die seitenlangen Exkurse über Ernst von Wildenbruch, Walter Kaufmann und Hans Baumann , die zum Verständnis der Biographie nichts oder fast nichts beitragen. Allzu ausführlich werden auch Werke von Uwe Johnson und Christa Wolf erörtert, das ist eher Vorlesungsstoff oder Thema für eine vergleichende Literaturanalyse.

Für die Jahre 1960 bis 1973, also die Hauptschaffensperiode der reifen Autorin, für ihre wichtigsten Werke, ihre Zeit in Hoyerswerda und drei von vier Ehen bleiben nur etwa 200 Seiten. Zu Recht monierte die Autorin Ingeborg Gleichauf in ihrer Rezension der Biographie in der Badischen Zeitung daher, dass Reimann »im Laufe des Buches immer mehr« »in dem ungeheuren Wust aus Fakten und Erläuterungen« verschwinde: »Überwuchert von Details« blieben »die Schriftstellerin und ihre Arbeit seltsam blass«, auch deren Poetologie komme zu kurz. Es sei »unverzeihlich«, resümiert Gleichauf, wie Gansel Brigitte Reimann in sein »Schreibkorsett aus Erklärungsmanie und Weitschweifigkeit einsperrt«.⁸ Der Leser Manfred H. nennt die Biographie in einer Rezension bei Amazon wegen zahlreicher Errata gar einen »unlektorierten Rohentwurf«. Diesen Eindruck macht das unförmige Werk, das um ein Viertel hätte gekürzt werden können und müssen, in der Tat.

Man sollte es kaum für möglich halten, dass eine Lebens- und Werkbeschreibung der aufregenden Brigitte Reimann derart dröge, pedantisch und uninspiriert ausfallen kann. Dennoch hat Gansel dafür gerade den mit 2.500 Euro dotierten Literaturpreis der Annalise-Wagner-Stiftung (Neubrandenburg) erhalten.

Anmerkungen

1 Eine ausführliche Chronik ihres Lebens ist auf der Homepage der Publizistin Kristina Stella zu finden: www.kristinastella.de

2 http://reimann-datenbank.kristinastella.de/smindex.htm

3 Joanna Biggs: How an East German Novelist Electrified Socialist ­Realism, The New Yorker, 3.4.2023

4 Bundesarchiv, R 9361-IX Kartei/ 34170809

5 Ruth Reimann-Möller: Die Berichterstatterin von Burg, BoD 2000, S. 313–317

6 Brigitte Reimann an Willi Lewin, 11.8.1961, zit. in Gansel: Ich bin so gierig nach Leben, S. 34

7 Zit. in ebd., S. 57

8 Ingeborg Gleichauf: Eine sträflich vertane Chance, Badische Zeitung, 21.7.2023

Carsten Gansel: Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann. Die Biographie. Aufbau-Verlag: Berlin 2023, 704 S., 30 Euro

Cristina Fischer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 30. Oktober 2023 über die Antifaschisten Bodo und Rose Schlösinger.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Frieder Hofmann aus 04129 Leipzig (14. Juli 2024 um 12:48 Uhr)
    Tja, das kommt heraus, wenn ein westdeutscher Biograph die DDR-Literatur ausschließlich durch die heute gängige DDR-abwertende Brille betrachtet. Brigitte Reimann war nun mal eine DDR-Schriftstellerin durch und durch, der man damit nicht gerecht werden kann. Interessierten empfehle ich die Lektüre des Briefwechsels zwischen Reimann und dem bekannten Architekten Hermann Henselmann (»Mit Respekt und Vergnügen« Aufbau Taschenbuch Berlin 2001), in dem Henselmann unser (auch mein!) damaliges Lebensgefühl auf den Punkt bringt. Leider wird das der von seinen Vorurteilen beherrschte Gießener Professor Gansel, da stimme ich völlig mit Ihrer Autorin Cristina Fischer überein, nie auch nur ansatzweise begreifen können. Mit Bezug auf Reimanns wichtigstes und in der DDR wohl umstrittenstes Buch »Franziska Linkerhand« schreibt Henselmann nämlich folgendes: »Es geht um Energie, um Chemie, um Stahl. Der jungen Architektin geht es um die Menschen, die das alles produzieren, und um die Vollendung der Stadt, um Schönheit und Gestalt, um Heimat … Dieser «unvernünftige» hohe Anspruch an sich selbst … trifft nach meiner Erfahrung genau die Grundhaltung vieler junger Menschen in unserer Republik. Es ist jene Unbedingtheit, die wir in den zurückliegenden fünfundzwanzig Jahren schließlich selbst erzeugt haben. Der Heroismus der Vergangenheit – sei es überholtes Neuerertum oder Spanienkampf und KZ – wird gewiss respektiert, aber in seiner Vorbildwirkung nur akzeptiert, wenn er sich gleichzeitig als motorische Kraft in der Bewältigung der Gegenwart zu erkennen gibt. Die gleiche kritische Haltung zeigt sich auch gegenüber der Etikettierung mit der Vokabel ›sozialistisch‹ für alles und jedes, was unsere gebaute Umwelt betrifft. Vor allem, wenn dieses Attribut … dazu dient, kritische Einschätzungen zu behindern.« (Aus dem o.g. Briefwechsel S.96 ff.: H. Henselmann »Bemerkungen zu «Franziska Linkerhand» veröff. in «Die Weltbühne» Nr.35/1974). Mit freundlichen Grüßen, Frieder Hofmann, Leipzig
    • Leserbrief von Sabine Lueken aus Berlin (17. Juli 2024 um 15:07 Uhr)
      Tja, das kommt heraus, wenn man den eigenen Vorurteilen aufsitzt! Ich stimme der Bewertung Cristina Fischers von Carsten Gansels Biografie als »dröge und langweilig« und vielem anderen vollkommen zu. Was mich verwundert hatte, war, dass sie Gansel als Gießener Professor bezeichnet (ist er seit 1995). Das führt nun offenbar zu der irrtümlichen Vermutung, er sei ein westdeutscher Biograf und könne deswegen Brigitte Reimann nur durch seine DDR-abwertende Brille betrachten. Das Gegenteil ist der Fall. Er hat sich auf die Fahnen geschrieben, genau das nicht zu tun. Und er ist ein durch und durch »ostsozialisierter« Germanist, was man dem Buch auch deutlich anmerkt. »Ein solches Buch … konnte nur ein DDR-Germanist schreiben«, urteilte der Journalist Jörg Bernhard Bilke lobend im Online-Magazin »Tabula Rasa«, wie ich in meiner eigenen Rezension zitierte. Gansel möchte mit seiner Biografie Reimanns explizit verhindern, dass in – westdeutscher – Lesart »moralisch-politische Urteile der Gegenwart relativ ungefiltert auf die Interpretationen der DDR-Geschichte durchschlagen«. Mit freundlichen Grüßen, Sabine Lueken, Berlin

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