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Aus: Ausgabe vom 12.07.2024, Seite 15 / Feminismus
Patriarchale Gesundheitspolitik

Drei Paar Kompressionsstrümpfe pro Jahr

Krankheit Lipödem betrifft meistens Frauen. Krankenkassen übernehmen nur selten Behandlung
Von Carmela Negrete
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Betroffene demonstrieren, um Aufmerksamkeit für die Krankheit Lipödem zu schaffen (Essen, 1.10.2016)

Jede zehnte Frau – trotzdem weitgehend unerforscht: Rund 3,8 Millionen Menschen sollen in Deutschland an der Krankheit Lipödem leiden. Das Lipödem ist eine Fettverteilungsstörung, die an Armen, Beinen, Hüften und Po auftreten kann und meist Frauen trifft. Mit fortschreitendem Alter führt die Krankheit nicht nur zu einem voluminösen Körper, sondern auch zu starken Schmerzen, Blutergüssen und einer Einschränkung der Beweglichkeit. Viele der Therapien gegen die Beschwerden werden nicht von den Krankenkassen übernommen. Die konservative Behandlung, die von den Kassen übernommen wird, ist ziemlich mau ausgestattet: Den Frauen stehen als Kassenleistung ganze drei Paar Kompressionsstrümpfe pro Jahr zu. Erst seit 2017 ist Lipödem eine international klassifizierte Krankheit.

Die Politik schaut geflissentlich über dieses Problem hinweg: Erst 2020 führte die letzte Regierung Merkels eine Kostenübernahme für eine Liposuktion, also das Absaugen der erkrankten Fettstruktur ein, aber nur für schwere, bereits fortgeschrittenen Fälle im Stadium drei, bei einem Body-Mass-Index im »Normalbereich«. »Es ist unmöglich, Lipödem im dritten Stadium zu haben und dabei normalgewichtig zu sein«, erklärte die Betroffene Rosa S. am Donnerstag im junge Welt-Gespräch. Sie selbst habe vier Jahre lang gegen ihre Krankenkasse für eine Kostenübernahme geklagt – schließlich wurde sie abgelehnt. Jede der vier benötigten Operationen koste zwischen 5.000 und 10.000 Euro, diese Summe habe sie unter anderem durch Crowdfunding gesammelt. Nach den äußerst schmerzhaften OPs benötigten die Betroffenen Hautstraffungen, die die Kassen auch nicht übernehmen, ihre Bauchstraffung habe um die 9.000 Euro gekostet. Fehlende Aufklärung: »Viele Ärzte kennen sich einfach nicht aus und verschreiben an Lipödem erkrankten Frauen die Antibabypille, dabei können Hormone die Krankheit noch erheblich verschlimmern«, so Rosa S.

Im vergangenen Jahr reichte die Bundestagsabgeordnete Heidi Reichinnek (Die Linke) einen Antrag mit dem Titel »Bedarfsgerechte medizinische Versorgung für alle Lipödem-Betroffenen« ein. Es wurde festgestellt, dass diese Versorgung nicht sichergestellt sei, »da es an wissenschaftlicher Forschung mangelt«. Lipödem ist also eine der sogenannten Frauenkrankheiten, wie beispielsweise auch Endometriose, die, obwohl sehr verbreitet, wenig erforscht sind. Die Linke forderte, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Aufklärungskampagne zur Erkennung des Lipödems durchführt, was bisher nicht geschehen ist, sowie mehr medizinische Studien und Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene.

Eine Anhörung von Experten im Bundestag im Juni 2023 brachte mehr Informationen. Die Lipödem-Gesellschaft erklärte dabei: »Die Zahl von fast 97 Prozent zufriedenen Patientinnen belege die hohe Wirksamkeit der Liposuktion beim Lipödem«, so der Informationsdienst des Bundestages. »Allerdings hätten rund 77 Prozent der befragten Frauen die Behandlung selbst getragen, mehr als 50 Prozent hätten sich dafür verschuldet.« Die Experten waren überzeugt, dass sogar eine Heilung möglich wäre, wenn die OP in den früheren Stadien der Erkrankung durchgeführt wird. Frauen mit Lipödem leiden zudem an Stigmatisierung, da die Krankheit so unbekannt ist und den Frauen vorgeworfen wird, sie würden nicht ausreichend Sport machen oder sich falsch ernähren.

Bis der Gemeinsame Bundesausschuss nächstes Jahr auf Basis der Studie weiter entscheidet, soll die Liposuktion bei Grad drei als Leistung erhalten bleiben. Bislang ist ungewiss, ob die Krankenkassen in Zukunft auch Operationen in weiteren Stadien übernehmen werden.

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