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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kunst

Von hinten wie von vorne

Die Ausstellung »der die DADA. Unordnung der Geschlechter« im Arp-Museum in Remagen
Von Jürgen Schneider
Ausstellungsansicht 4, Foto David Ertl.jpg
Was gezeigt wird: Die Durchlässigkeit von Rollenbildern

»Tickt nicht jeder Sprung des Sekundenzeigers das letzte Röcheln von Tausenden? Genügt nicht das Wissen von abgerissenen Kinnbacken, durchschnittenen Kehlen, von ineinander verbissenen Leichen, um die Hölle zu hören, die jenseits der dicken Luftmauer tobt?« Diese Zeilen notierte der als Kriegszitterer aus der k. u. k.-Armee entlassene Andreas ­Latzko 1917 während der Kur in Davos. Noch im selben Jahr erschien sein Antikriegswerk »Menschen im Krieg«. Dass das »Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns« ist, wie es in dem Buch »In Stahlgewittern« des kriegsbegeisterten Ernst Jünger heißt, wussten auch Emmy Hennings und Hugo Ball, die im Februar 1916 in der Züricher Spiegelgasse Nummer 1 das Cabaret Voltaire eröffneten, das zum Geburtsort von Dada werden sollte, mit der Absicht, »(d)ie Weltordnungen und Staatsaktionen widerlegen, indem man sie in einen Satzteil oder einen Pinselstrich verwandelt«. Hugo Ball weiter: »Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? (…) Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit.« In der Spiegelgasse Nummer 14 war derweil Lenin mit der Vorbereitung der Oktoberrevolution beschäftigt.

Zur Eröffnung des Cabaret Voltaire am 5. Februar 1916 notierte Ball: »Das Lokal war überfüllt; viele konnten keinen Platz mehr finden. Gegen sechs Uhr abends, als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging. Arp war zufällig auch da und man verständigte sich ohne viel Worte.« Auch mit Richard Huelsenbeck, der am 11. Februar erschien und, wie Ball notierte, »am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln wollte«. Hans Arp, der sich im August 1914 der Mobilmachung entzogen hatte, erinnerte sich in »Die Geburt des Dada« viele Jahre später: »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkriegs, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze rollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften«.

Einen Tag nach der Eröffnung des Cabaret Voltaire, rezitierte Ball, der im Sommer 1914 durch Lothringen gereist war und Opfer, Schrecken und Verwüstungen des Krieges gesehen hatte, erstmals sein Gedicht »Totentanz 1916«: »So sterben wir, so sterben wir / Und sterben alle Tage, / Weil es so gemütlich sich sterben läßt. / Morgens noch in Schlaf und Traum, / Mittags schon dahin. / Abends schon zu unterst im Grabe drin. / Die Schlacht ist unser Freudenhaus. / Von Blut ist unsre Sonne, / Tod ist unser Zeichen und Losungswort.« Emmy Hennings intonierte dieses Gedicht von Hugo Ball bei jeder Vorstellung des Cabaret Voltaire zur Musik des Durchhaltemarsches »So leben wir«. Am 23. Juni 1916 trug Ball sein erstes Lautgedicht vor, das mit den Worten »gadji beri bimba« beginnt. In seinem Dada-Manifest vom 14. Juli 1916 verkündete er: »Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben, als: auf die Sprache zu verzichten. (…) Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen. (…) Dada Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution und kein Anfang.«

Unter dem Titel »der die DADA. Unordnung der Geschlechter« zeigt das Arp-Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen eine Ausstellung, mit der erstmals die Bedeutung der Künstlerinnen in der Dada-Bewegung untersucht wird, die mehr sein wollte als nur eine Kunstströmung. Frauen und Männer wirkten gleichermaßen aktionistisch an der Durchlässigkeit von Rollenbildern mit. Neben Werken von Hannah Höch, Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp werden Arbeiten von Künstlerinnen gezeigt, die in der Kunstgeschichtsschreibung über viele Jahrzehnte hinweg wenig bis keine Erwähnung fanden. Julia Wallner, Leiterin des Museums und Kuratorin, betont zwar, dass »die alte Welt angesichts von Krieg, Technisierung und politischen Umbrüchen für viele ihren Sinn verloren hatte«, doch in der Ausstellung wird die Schreckenserfahrung, die der Erste Weltkrieg für die zukünftigen Dadaisten darstellte, ausgeblendet.

Die Ausstellung ist nach Städten gegliedert, neben dem Dada-Ursprungsort Zürich gelangen wir nach Paris, New York, Berlin und Köln. Hannover wird nur gestreift. In der Stadt an der Leine arbeitete Ein-Mann-Dada Kurt Schwitters an seinem von ihm aus dem Wort Kommerz abgeleiteten Merz-Gesamtkunstwerk, eine Collage, bei der auch bis dahin kunstunwürdiges Material Verwendung fand. Seine Textfigur A-N-N-A (Blume) liest sich von hinten wie von vorne und verweist auf die Vielzahl der Seinsmöglichkeiten eines Selbst.

Um eine solche Vielzahl ging es auch Elsa von Freytag-Loringhoven, die in New York Aufsehen erregte, wenn sie mit Tomatendosen als Büstenhalter, mit kahl rasiertem Schädel und schwarzem Lippenstift oder einem künstlichen Penis durch die Straßen spazierte. In ihren Schriften zeigt sie sich beeinflusst von James Joyce. Zudem ist neueren Recherchen nach davon auszugehen, dass ­Marcel Duchamp die Idee für sein Readymade »Fountain« (1917) von seiner Bekannten Elsa bekommen hat, die er als »die Zukunft« bezeichnete. Duchamp wird in der Ausstellung als Beispiel für das Crossdressing gezeigt, auf Fotos von Man Ray: »Porträt von Rrose Sélavy«. Abstrakte Kompositionen von Sophie Taeuber-Arp illustrieren ihre wichtige Rolle bei Dada Zürich. In Paris wirkten neben den bekannten Platzhirschen Breton, Aragon und Tzara auch Céline Arnaud, Gabrielle Buffet-Picabia, Sonia Delaunay (die in der Ausstellung mit avantgardistischen Kostümentwürfen vertreten ist) und Duchamps Schwester Suzanne. Deren von visuellen Metaphern des Zusammenbruchs und des Chaos gekennzeichnetes Meisterwerk »Broken and Restored Multiplication« (1918/19) ist als Leihgabe aus Chicago an den Rhein gelangt. In der Sektion Berlin werden Hannah Höch und ihre Dada-Puppen gewürdigt. In dem Zusammenhang wird behauptet, die politischen Dadaisten, also etwa John Heartfield und George Grosz, hätten weibliche kunsthandwerkliche Tätigkeiten und die Verwertung von Kunst abgelehnt. Julia Wallner bezeichnet Grosz zudem als »Zyniker«. Weil er ab 1919 sein Werk in den Dienst des Proletariats stellte und sich der KPD anschloss? Aus der rheinischen Metropole Köln werden die Dada-Damen Marta Hegemann, Angelika Hoerle und Luise Straus-Ernst hervorgehoben. Letztere zeigte im April 1920 in der Ausstellung »Dadavorfrühling« unter dem Künstlernamen Armada von Duldgedalzen mehrere Collagen, von denen nur die nun im Museum Arp gezeigte erhalten blieb. Die Kölner Show wurde wegen Falschanschuldigen geschlossen, die Ausstellenden reagierten darauf mit einem Plakat: »Dada siegt. Dada ist für Ruhe und Orden!«

Luise Straus-Ernst wurde am 30. Juni 1944 über Marseille und Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

»der die dADA — Unordnung der Geschlechter«, Arp-Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, bis 12. Januar 2025. Der Ausstellungskatalog ist im Hirmer Verlag erschien und kostet 38 Euro

www.arpmuseum.org

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