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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 2 / Inland
Wirtschaftspolitik

»Die Logik der Sparpolitik bricht in sich zusammen«

Über Lindners Schuldenbremse, freie Marktwirtschaft und Faschismus. Ein Gespräch mit Clara Mattei
Interview: Alex Favalli
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Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler (Berlin, 29.5.2024)

Ist die Schuldenbremse eine unausweichliche Notwendigkeit?

Nein. Die Vorstellung, dass die Schuldenbremse eine absolute Notwendigkeit ist, ist ganz offensichtlich eine politische Entscheidung, um zu verbergen, was eine viel größere Priorität ist. Es geht darum, die Verteilung von Ressourcen weg von den arbeitenden Klassen hin zu den investierenden Eliten zu rechtfertigen. Das ist offensichtlich, denn man hat eine Schuldenbremse, aber paradoxerweise den Spielraum, die militärischen Mittel über den NATO-Bedarf hinaus zu erhöhen, um Israel zu bewaffnen, und um den Krieg in der Ukraine weiter anzuheizen. Die Logik der Sparpolitik bricht in sich zusammen, sobald man sieht, wofür der kapitalistische Staat tatsächlich Geld ausgibt.

Es gibt kein Geld für das Sozialsystem, aber es gibt immer einen Haufen Geld für das Großkapital, den militärisch-industriellen Komplex, die gesamte grüne Transformation, die in den Händen der globalen Vermögensverwalter liegt.

Inwiefern erklärt dies die Wahlerfolge rechter Parteien?

Es ist offensichtlich, dass die Rechten durch die Unzufriedenheit mit der Prekarität, durch die Folgen der Austeritätspolitik, angeheizt werden.

Stabilisiert die Sparpolitik überhaupt die Wirtschaft oder lügt der Finanzminister einfach?

Er lügt definitiv. Das ist das Interessante an der klassischen Ökonomie, d. h. an der Hardcoresparpolitik. Sie wissen, dass die Art von Wachstum, die sie anstreben, nur den oberen Schichten zugutekommt. Sie drängen auf Kürzungen bei den Sozialausgaben, denn wenn man sie einmal gekürzt hat, werden sie nicht wieder erhöht. Wirtschaftswachstum bedeutet höhere Gewinne für die Unternehmen. Der Wert in der Wirtschaft wird immer durch Ausbeutung erzeugt, aber es ist klar, dass sie in diesem historischen Moment mehr denn je auf eine höhere Ausbeutung drängen, um die Umverteilung von Kapital zu vermeiden. Das führt nicht zu Stabilität, aber das ist auch nicht das Ziel. Die Priorität liegt darin, die Arbeiterklasse in Schach zu halten und die Bedingungen für die Kapitalakkumulation stabil zu halten, das ist ihre Definition von Stabilität.

In jeder Krise versuchen liberale Ökonomen, das System zu retten, und die Lohnabhängigen zahlen den Preis dafür. Aber wie kam es dazu, dass sich der Produktivitätsgedanke von den Beschäftigten zu den Unternehmern verschob?

Marx hat gesagt, dass Hegemonie bedeutet, die Menschen davon zu überzeugen, dass das, was im Interesse einiger weniger liegt, auch im Interesse aller anderen ist, und es gibt keine besseren Leute, um den hegemonialen Konsens durchzusetzen, als Akademiker, die letztlich vom System profitieren.

Sie machen sich keine Sorgen darüber, es nicht bis zum Monatsende zu schaffen, im Gegensatz zu vielen Menschen in der BRD. Die Vorstellung, dass die Sparmaßnahmen dem Wohl des Ganzen dienen, ist für diejenigen attraktiv, die den wirtschaftlichen Zwang nicht direkt erleben. Wir leben in einem zerstörerischen Wirtschaftssystem, dem die Lebensgrundlagen der Menschen völlig egal sind.

Wir Linke können nicht für höhere Sozialausgaben plädieren, ohne über Lohnverhältnisse zu sprechen. Wenn wir nicht über Ausbeutung sprechen, beteiligen wir uns nur an der Verschleierung des Systems.

Wie nahe liegen Faschismus und freie Marktwirtschaft in ökonomischer Hinsicht beieinander?

Man sagt uns, der Faschismus sei etwas ganz anderes als unsere jetzige Gesellschaftsform. Ich zeige in meinem Buch, dass der Faschismus sowohl in Bezug auf die Politik als auch in Bezug auf die Theorie nur Kapitalismus auf Steroiden ist. Der Faschismus ist der beste Verbündete des Kapitalismus, wenn es darum geht, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, die Arbeiter zu schwächen und sie gefügig zu machen.

Maffeo Pantaleoni, einer der Gründerväter des Faschismus und des Marginalismus in Italien, wird heute unter Wirtschaftswissenschaftlern immer noch als großer Denker diskutiert. Ökonomen trennen einfach die Theorie von der Politik. Aber wenn man diese beiden zusammenbringt, ist es wirklich offensichtlich, dass der Faschismus mit der neuen klassischen Wirtschaftstheorie übereinstimmt und völlig mit der Sparpolitik einhergeht, die unsere angeblich demokratischen Verhältnisse noch heute beherrscht.

Clara Mattei ist Wirtschaftshistorikerin an der New School for Social Research in New York. 2022 erschien ihr Buch »The Capital Order: How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism«

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