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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 8 / Ansichten

Schwervermittelbares des Tages: Ukrainisch

Von Reinhard Lauterbach
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Ukrainische Sprache, schwere Sprache

Dieser Tage an einem Badestrand in Odessa: Die Wellen plätschern, das Softeis schmilzt, von irgendwo dudelt Musik. Alles könnte so friedlich sein, aber nein: Eine Frau beschwert sich beim Bademeister, dass die gespielte Musik russisch sei. Wobei die Songs sogar noch aus der Sowjetzeit stammten, also auch keine Verherrlichung Putins darstellen konnten. Genau deshalb aber regte sich eine Bikinipatriotin auf. Und zettelte damit einen Zoff knapp unterhalb der Handgreiflichkeit an. Denn die meisten Badenden wollten die als anstößig monierten Songs hören.

Überhaupt ist es mit der Durchsetzung des Ukrainisch-Gebots schwierig. Zumal im Ausland, wo das ukrainische Sprachgesetz ja nicht gilt. So hat eine Kiewer Geschäftsfrau am Comer See sauteuer geheiratet und Videos davon gepostet. Nicht nur, dass Teile der ukrainischen Volksseele kochten, denn wie könne man, »während die Jungs im Schützengraben sitzen«, so einen Luxus zur Schau stellen. Und dann noch mit einem russischen Sänger als Stargast. Das ging für das patriotischen Onlinekommentariat gar nicht, obwohl der Musiker drei oder vier Lieder in ukrainischer Sprache vortrug.

Derweil regte sich in Estland der Vorsitzende der konservativen Nationalpartei auf: Die Regierung habe Estland »in zwei Jahren stärker russifiziert als Zar Alexander III. und Stalin zusammen«. Wie das? Indem sie nämlich ukrainische Flüchtlinge ins Land gelassen habe, und die redeten doch tatsächlich auf der Straße und untereinander russisch. Also, so der Politiker gegenüber der – notabene zumindest im Internet auch auf Russisch erscheinenden – Zeitung »Postimees«: Raus mit ihnen!

Schließlich bekam in Dnipro (Dnjepropetrowsk) eine Mathematiklehrerin ein Disziplinarverfahren und eine Gelddstafe von umgerechnet 85 Euro aufgebrummt, weil sie in einer Onlineunterrichtsstunde den Pythagoras auf Russisch erklärt hatte. Klare Feindbegünstigung.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (15. Juli 2024 um 12:49 Uhr)
    Beispiel Schweiz! Es ist zutreffend, dass die Ukraine eine vielschichtige kulturelle und sprachliche Landschaft hat, wobei die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen bedeutend sind. Die Ukraine stand im Laufe der Jahrhunderte unter der Herrschaft verschiedener Reiche und Nationen, darunter das Kiewer Rus, das Litauische Großfürstentum, das Polnisch-Litauische Reich, das Osmanische Reich, das Habsburgerreich und das Russische Reich. Jede dieser Herrschaften hinterließ ihre Spuren in der Kultur, Sprache und Identität der Region.
    In der Ukraine werden sowohl Ukrainisch als auch Russisch weit verbreitet gesprochen, wobei die Verteilung regional unterschiedlich ist. Ukrainisch ist die Amtssprache, aber Russisch wird im Alltag, besonders im Osten und Süden des Landes, häufig genutzt.
    Der ukrainische Wortschatz stimmt zu gut 60 % mit dem russischen überein. Noch größer ist jedoch seine Nähe zum belarussischen und sogar polnischen Vokabular. Für das Ukrainische wird die kyrillische Schrift verwendet, die auch im Russischen, Bulgarischen und in verschiedenen anderen slawischen Sprachen genutzt wird. Das ukrainische Alphabet besteht aus 33 Buchstaben, darunter dem Buchstaben »і«, der im russischen Alphabet nicht existiert. Außerdem umfasst es mehrere Buchstaben, die in keinem anderen kyrillischen Alphabet vorkommen. Was die Sprache anbelangt, ist jedoch festzustellen, dass das Ukrainische nicht über eine vergleichbare literarische Größe wie das Russische verfügt.
    Die Ukraine versucht im 21. Jahrhundert, ihre nationale Identität zu stärken und sich als souveräner Nationalstaat zu definieren, was sie aber nicht ist. Die Bemühungen, eine einheitliche nationale Identität zu fördern, haben die Spannungen und Konflikte in einem Land mit so vielen unterschiedlichen regionalen Identitäten dadurch verschärft.
    Die Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht, sind Teil eines größeren globalen Phänomens, bei dem viele Staaten versuchen, eine Balance zwischen Einheit und Diversität zu finden – Beispiel Schweiz. Die Ukraine muss ihren eigenen Weg finden, um eine nationale Identität zu schaffen, die die Vielfalt ihrer Bevölkerung anerkennt und respektiert.

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