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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Nachruf

Lacht doch mal!

Wehe dem, der sich zu ernst nimmt: Zum Tod des Karikaturisten und politischen Künstlers Harald Kretzschmar
Von Thomas Behlert
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Verstand seine Kunst als genuin politisch: Harald Kretzschmar (23.5.1931–27.6.2024)

Es ist erst wenige Monate her, da machte der Karikaturist und Porträtzeichner Harald Kretzschmar dem Satiricum im Greizer Sommerpalais ein großes Geschenk: Mehrere Konvolute historischer französischer Karikaturen und wertvolle Fachliteratur zur Geschichte der Karikatur vermachte er dem Museum. Der Künstler aus Kleinmachnow gehörte auch zu den Organisatoren der dort regelmäßig stattfindenden Karikaturenausstellungen.

Schon früh begann der am 23. Mai 1931 in Berlin geborene Kretzschmar Lehrer, Freunde und Familienmitglieder komisch zu porträtieren. Von 1950 bis 1955 studierte er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und veröffentlichte erste Karikaturen in der Leipziger Volkszeitung. Die dort verdienten Minihonorare verprasste er mit seiner Freundin und lebenslangen Muse in der Kneipe »Kümmelapotheke«. An der Hochschule musste der angehende Künstler zunächst »antike Gipsköppe« gestalten, wie er selbst sagte, bevor es bei Frau Professor Elisabeth Voigt ans Porträtieren ging. Endlich die Richtige, die ihn weiterbringt, die ihn versteht. Doch gab es gleich ein Donnerwetter, als sie hinter sein Zeichenbrett trat: »Kretzschmar, sie zeichnen zu schnell, da kann ja nix draus werden.«

Nur wenig später gehörte er auf Anregung von Hannes Hegen (Erfinder der Digedags) zum festen Stamm der damals wöchentlich erscheinenden Satirezeitschrift Eulenspiegel. Für die Silvesterausgabe 1957/1958 durfte Kretzschmar den Ministerrat der DDR karikieren, sogar Walter Ulbricht. Das gab natürlich Zoff. Chefredakteur Heinz Schmidt musste gehen. Es waren die letzten humorvollen Bilder der Ministerriege in DDR-Medien. Dazu schrieb der Künstler in einem Anekdotenbuch: »Die Verklemmtheit der Politiker gegenüber der Porträtkarikatur war gewiss einer der nebensächlichsten Geburtsfehler der DDR. Sie nahmen sich so gewaltig ernst, wie es Politiker wohl überall auf der ganzen Welt tun. Die zur Macht gekommenen Arbeiterfunktionäre hielten dummerweise nichts von dem bürgerlichen Gesellschaftsspiel des Politikerkarikierens – am Ende verschonten sie sogar ihre Gegner damit.«

Bis zum nicht ganz freiwilligen Ausscheiden zeichnete Harald Kretzschmar für den Eulenspiegel über tausend Por­träts in einer eigenen Kolumne. Nachblättern kann man in diversen Büchern wie »Mimen & Mienen«, »Mimengalerie«, »Eulen-Leute« und »Von Angesicht zu Angesicht«, die zumeist im Eulenspiegel-Verlag erschienen. Daneben gab es vor wie nach der »Wende« eine Vielzahl von Werkschauen, wie 2017 in der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg: »Querdurch und mittendrin – Satirezeichnungen zur Unkultur unserer Zeit 1954–2016.«

Bis 1990 gehörte Harald Kretzschmar dem Verband Bildender Künstler der DDR an. Als Vorsitzender der Zentralen Sektionsleitung Karikatur organisierte er zahlreiche Ausstellungen und zählte zu den Mitbegründern des Satiricum Greiz. Neben dem Zeichnen verfasste Kretzschmar Porträtessays und schrieb u. a. für das Neue Deutschland Glossen und Kunstkritiken. Natürlich bekam er auch Preise, etwa den belgischen Preis für künstlerische Gebrauchsgrafik (1970), den Kunstpreis der DDR (1971) und den Vaterländischen Verdienstorden in Silber (1984).

Mit der »Wende«, berichtet Kretzschmar im Buch »Wem die Nase paßt« (2001), war er in der Marktwirtschaft angekommen: Bankhäuser und Firmen luden zu Festen ein, damit er die Gäste porträtierte. Noch im Jahr 1990 fand eine großartige Ausstellung im DDR-Kulturzentrum Paris statt, wo neben Kretzschmars Karikaturen auch seine Terrakotten gezeigt wurden. Einige Querstraßen weiter konnte er die Arbeiten seines großen Idols Honoré Daumier bewundern. Er stand mit schlotternden Knien davor.

In einem Alter, in dem sich andere zur Ruhe setzen, dachte der Brandenburger Künstler nicht ans Aufhören – seine Veröffentlichungen in der Tagespresse nahmen noch zu. Dass er seine Kunst als eine genuin politische verstand, wie er 2019 dieser Zeitung sagte, wurde darin besonders deutlich. Druckgrafiken und andere freie Arbeiten entstanden, wie etwa Acrylporträts oder der Siebdruck »Die Bewegten« für die jW-Kunstedition. Seiner Wahlheimat Kleinmachnow (seit 1956) setzte der wunderbare und immer freundliche Kretzschmar mit Porträtbüchern (u. a. »Paradies der Begegnungen«, 2008) ein Denkmal. Im dortigen Rathaus kann man in einer Dauerausstellung Porträts von Originalen und Berühmtheiten aus der Gegend bewundern.

Der Karikaturist, Porträtist, Grafiker, Journalist und Autor ist am 27. Juni 2024 im Altern von 93 Jahren in Kleinmachnow verstorben.

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