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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 12 / Thema
Israel/Palästina

Jenseits der Menschenrechte

Vorabdruck. Dimensionen eines entgrenzten Krieges. Israels Feldzug gegen die Hamas
Von Johannes Zang
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Kein Stein mehr auf dem anderen. Große Teile des dicht besiedelten Gazastreifens wurden von der israelischen Armee zerstört (Gaza-Stadt, 4.7.2024)

In diesen Tagen erscheint im Kölner Papy-Rossa-Verlag von Johannes Zang das Buch »Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg«. Wir veröffentlichen daraus redaktionell leicht gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das Nachwort.(jW)

Als ich 2006 den Direktor des palästinensischen Menschenrechtszentrums PCHR, Raji Sourani (selbst schon Häftling und Folteropfer in Israel), zur israelischen Militäroperation »Sommerregen« in Gaza-Stadt befragte, sagte er: »Wir sehen hier das Gesetz des Dschungels. Es wird von den Regierungen der Vereinigten Staaten und von Europa vollkommen unterstützt. Zum ersten Mal wird ein Krieg gegen eine gänzlich zivile Bevölkerung geführt. Dagegen tut niemand etwas. Das ist traurig. Das ist schlimm. Nicht für mich als Araber oder Palästinenser, sondern weil ich Mensch bin. Ich bin völlig entsetzt. Wir fordern etwas Einfaches: die Herrschaft des Gesetzes, nicht die des Dschungels. Nichts von der 4. Genfer Konvention ist übriggeblieben, was nicht von Israel gebrochen wurde. Haben Menschenrechte, internationales humanitäres Recht, Genfer Konventionen noch irgendeine Bedeutung?« Dann warnte er vor den Folgen, die US-amerikanische und europäische Unterstützung Israels samt »grünem Licht für ihre Kriegsverbrechen« zeitigen könnte: »Damit ladet ihr Bin Laden ein.« Also quasi eine Einladung für radikalste Terroristen. Auf andere Weise hat sich seine Prophezeiung auf brutalste Weise am 7. Oktober 2023 bewahrheitet.

Mein Entsetzen über das Massaker, das die Hamas an diesem Tag verübte (und das Friedensaktivisten beider Seiten das Leben kostete), mündete nach wenigen Tagen in Wut: Wut über das Versagen der internationalen, auch der deutschen Politik über das anhaltende Schweigen zu einer mittlerweile über 50jährigen Besatzung, über die Feigheit vor dem Freund.

Wurden die Berichte und Analysen der Friedens- und Menschenrechts-NGOs in Tel Aviv, Ramallah, Jerusalem oder Gaza-Stadt, die teilweise mit kirchlichen, deutschen oder EU-Geldern finanziert wurden, in Berlin, Brüssel und Washington überhaupt zur Kenntnis genommen? Wirken sich die Erfahrungen und Einschätzungen der eigenen, dorthin entsandten Friedensfachkräfte auf die Außenpolitik aus? Warum haben Politiker, außer dass sie gelegentlich Bedenken äußerten oder vorsichtig zur Einstellung der Gewalt aufriefen, nichts, aber auch gar nichts unternommen, um Israel und Palästina in Richtung Zweistaatenlösung zu drängen? Und nachdrücklich von Israel ein Ende der Besatzung zu fordern?

Warnungen ignoriert

Seit mindestens 15 Jahren haben mir Friedens- und Menschenrechtsaktivisten in Israel als markanten Satz mitgegeben, sie wünschten sich »rote Linien« für ihre Regierung, die wie betrunken auf den Abgrund zurase. »Lässt man einen Freund betrunken Auto fahren?«, fragte mich einmal eine Gesprächspartnerin und meinte, Bundeskanzlerin Merkel handle genauso. Mancher von mir Interviewte forderte gar Sanktionen.

Die Warnungen standen in dicksten Lettern auf der Mauer. Mindestens seit der zweiten Intifada. Seitdem sind Tausende, wenn nicht Zehntausende an Artikeln, Reportagen, Analysen, Petitionen und Kommentaren erschienen, viele gipfeln in der Warnung: Solange Palästinenser nicht frei, selbstbestimmt und in Würde leben dürfen, solange wird Israel keine Sicherheit bekommen. Daher: Helft, die Militärbesatzung zu beenden!

Statt auf deren Ende hinzuarbeiten, haben Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA, ja die ganze Staatengemeinschaft – zumindest die westliche –, durch ihr Schweigen und Wegsehen Israel nachgerade ermuntert, den Weg der Kolonisierung, Enteignung und Unterdrückung fortzusetzen. Straflosigkeit war sozusagen garantiert.

Wir alle haben uns letztlich mundtot machen lassen. Vor allem Deutschland, aber auch andere Staaten, haben so agiert oder eben nicht agiert, als hätten sie wegen der Schoah, wegen Scham und Schuld, doppelte Samthandschuhe angelegt. Diese vom Westen bewusst oder unbewusst verinnerlichte Prämisse hat ein Israeli einmal so beschrieben: Sein Land komme ihm vor »wie ein randalierender Jugendlicher, dem niemand von außen eine Grenze setzt, weil er eine sehr schwere Kindheit gehabt hat«.¹

Diese Haltung hat die Autonomiebehörde um Mahmud Abbas und das gesamte palästinensische wie auch das israelische Friedenslager nachhaltig geschwächt und damit zugleich die Rolle der Hamas gestärkt. Als die 2006 die Wahlen gewann, hat der Westen sogleich Forderungen an sie gestellt und die Hamas-Regierung sanktioniert, anstatt auf allseitige Verhandlungen über die Zukunft Gazas zu setzen. Der israelische Friedensblock Gusch Schalom hat das mantraartig kritisiert, einmal, 2007, mit diesen Worten: »Wir haben Gaza isoliert. Wir haben Gaza ausgehungert. Wir haben Hunderte von Millionen, die ihnen gehören, enteignet. Wir haben die Welt überzeugt, eine Blockade gegen sie zu verhängen. Wir haben Mahmud Abbas gedemütigt. Wir haben Hamas boykottiert. Wir haben sie in einen Bruderkrieg gedrängt. Nun herrscht dort Anarchie. Den Preis dafür bezahlt: Sderot.«²

Sderot, eine israelische Kleinstadt unweit des Gazastreifens, bezahlte mit Tausenden von Raketen und Mörsern und ebenso vielen traumatisierten Einwohnern. Ab 2011 wurde es für die Einwohner von Stadt und Umland ruhiger. Das Abfangsystem Iron Dome fing fortan 90 Prozent der Geschosse ab. Hinzu kam, dass die Hamas Waffenruhen meist einhielt.

Zwei Zitate belegen das direkt oder indirekt. »Sie kann sehr diszipliniert sein«, sagte mir der israelische Journalist Danny Rubinstein über die Hamas und deren Einhalten einer Waffenruhe. Und ein Arte-Film nennt die Hamas gar Israels »besten Feind.« Für das Ziel, »in Sicherheit zu leben, ohne die besetzten Gebiete zurückzugeben«, habe Israel »in der Hamas früher einen Verbündeten« gesehen.³

Fünf Wochen vor dem Massaker am 7. Oktober 2023 machte der israelische Kolumnist Gershon Baskin in seinem Text »Die Zukunft der Hamas«⁴ wieder einmal einen Briefwechsel zwischen ihm und einem Hamas-Führer publik und unterbreitete einen Vorschlag zur Annäherung: Vollkommene Waffenruhe im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem für fünf Jahre. Im Gegenzug hebt Israel die Blockade auf; stellt alle Siedlungsaktivitäten ein (»die Mehrheit der Israelis befürwortet das«); erlaubt Palästinensern das Reisen zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen; lässt die Einfuhr von Waren in den Gazastreifen nach notwendiger Sicherheitsprüfung zu; erlaubt palästinensische Wahlen in allen besetzten Gebieten, auch in Ostjerusalem, und erkennt das Wahlergebnis an; entfernt alle internen Kontrollpunkte im Westjordanland und »erlaubt Menschen aus dem Gazastreifen das Gebet in der Al-Aksa-Moschee« in Jerusalem. Darin sah Baskin, der seit Jahren mit unterschiedlichen Hamas-Führern die Möglichkeit eines langfristigen Waffenstillstands (Hudna) erörtert hatte, einen gangbaren Weg.

Zwei Lager

36 Tage später herrschten in Israel und Palästina Terror und Todesangst, Wut und Rachegelüste, Entsetzen und Verzweiflung, Trauer und Niedergeschlagenheit – und mit jedem weiteren Tag: Hoffnungslosigkeit.

Die Welt teilte sich schnell in zwei Lager: Pro-Palästina oder Pro-Israel. Und ich fragte mich: Wo ist das Menschenrechtslager? Das der Kriegsgegner? Das derjenigen, die die Fahne des Dialogs, des Friedens und der Versöhnung hochhalten?

Da waren deutsche Politiker und die meisten Medien schon längst ins Pro-Israel-Lager geeilt und schienen in einen Wettstreit einzutreten: Wer befürwortet deutlicher den israelischen Krieg, wer ist der hartnäckigste Antisemitenjäger, wer der größte Philosemit? Sogenannten Pro-Palästina-Demonstranten wurde in vereinfachendster, ja ehrabschneidender Weise unterstellt, sie stünden auf der Seite der Hamas und damit des Terrors. Dabei verlangte die Mehrzahl einfach ein Ende des Tötens, der Blockade, der Besatzung. Talkshow nach Talkshow nahm sich des Themenkreises Israel-Palästina-Hamas-Antisemitismus-Hass/Hetze an. Zeitschriften veröffentlichten Sondernummern. Sender interviewten immer wieder israelische oder deutsch-jüdische Stimmen. Und ich fragte mich: Warum wird keine Amira Hass eingeladen? Wo sind Judith Bernstein oder Nirit Sommerfeld? Keine Bettina Marx, die Autorin eines Gaza-Buches?

Judith Bernstein, in Jerusalem geboren, in München lebend, hatte schon im November 2023 voller Sorge an das Auswärtige Amt geschrieben: »Leider gewinne ich den Eindruck, dass man in Deutschland die Situation nicht richtig einschätzt. Wir stehen vor einer schrecklichen Katastrophe, die wirklich zu einem 3. Weltkrieg führen kann. Die Reaktionen in der gesamten muslimischen Welt und auch bei uns sehen wir schon jetzt. Israel hätte einen ganz anderen Weg gehen können.«⁵ Sie verweist per Link auf einen früheren Beitrag, in dem sie die Frage stellt: »Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanjahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann: die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder (das Israel) mit den Friedensgruppen?« Dann fragt sie: »Warum findet bei uns kein Umdenken statt? Ich höre schon jetzt Stimmen, die warnen vor einer neuen Flucht­katastrophe aus dem Gazastreifen.« Abschließend warnt sie: »Netanjahu und seine rechte Regierung gefährden nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Juden weltweit.«

Kein Podium für Kritik

Genau wie sie habe ich eine andere deutsch-jüdische Stimme in Radio und Fernsehen vermisst: die von Nirit Sommerfeld. Wenigstens in der Berliner Zeitung erhielt sie eine Plattform. »Die allermeisten Israelis wissen nicht, was in Gaza derzeit wirklich passiert«⁶, teilt die Schauspielerin und Sängerin dem deutschen Publikum mit. Anschließend verdeutlicht sie, welches Bild vom »Araber« in Israel den Kindern von klein auf vermittelt werde: das eines ungebildeten, rachsüchtigen, hasserfüllten Aggressors. Von Palästinensern sei in Israel übrigens nie die Rede. »Dabei haben alle israelischen Regierungen immer dafür gesorgt, dass zwei Grundsätze im israelischen Bewusstsein manifestiert wurden – erstens: Wir sind immer die Opfer, die angegriffen werden. Und zweitens: Es gibt weder einen historischen Kontext noch jedwede Rechtfertigung für Gewaltausbrüche; sie werden ausschließlich aus Hass gegen uns entfacht.« Viele Israelis hätten »die Fähigkeit verloren, Palästinenser als menschliche Wesen zu betrachten. Wer von Opfern auf der anderen Seite spricht, ist ein Verräter, so wie der Lehrer Meir Baruchin, der seinen Job verlor, inhaftiert wurde und Morddrohungen bekommt«.

Solche Stimmen sind offenbar in deutschen Talkshows nicht erwünscht. Wie sonst lässt es sich erklären, dass wir immer die gleichen Gesichter sehen: Gerhart Baum, Roderich Kiesewetter, Omid Nouripour, Ahmed Mansour, Kevin Kühnert oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Dem Publikum wird vorenthalten, ob sich die Gesprächspartner jemals in Israel/Palästina selbst ein Bild der Lage gemacht haben, oder ob sie je in den abgeriegelten Gazastreifen gereist sind. Erlebt der Zuschauer Studiogäste aus Israel, sind sie meist stramm auf Regierungslinie wie Melody Sucharewicz oder der Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar; wie wohltuend wäre da die Gegenposition eines Exsoldaten von Breaking the Silence.

Für die Haaretz-Journalistin Amira Hass, die einige Jahre in Gaza lebte, »macht Deutschland den Staat Israel zum Fetisch und unterstützt damit dessen siedlerkolonialistische Merkmale.« Das zeige sich in letzter Zeit dadurch, wie »Deutschland all die Stimmen verfolgt und zum Schweigen bringt, die den Staat Israel kritisieren, darunter sogar linke Juden und Israelis«.⁷ Ich ergänze: zum Schweigen bringen auch dadurch, dass ihnen gar kein Podium geboten wird.

Grundrechte beschnitten

Fabian Scheidler bringt es auf den Punkt: »Wer sich heute in Deutschland auf die UNO, das Völkerrecht und anerkannte Menschenrechtsorganisationen beruft, wird zur Persona non grata, zum Israel-Hasser, zum Antisemiten erklärt. Und nicht nur das: Er hat inzwischen sogar mit einem Einreise- und Betätigungsverbot zu rechnen, wie etwa der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und der weltweit renommierte britisch-palästinensische Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, Ghassan Abu-Sittah, der am Berliner Flughafen mehrere Stunden festgehalten und dann zurückgeschickt wurde.«⁸ Beide waren zu einem Palästina-Kongress im April 2024 in Berlin eingeladen; Sittah hatte im Herbst 2023 für Ärzte ohne Grenzen im Al-Schifa-Hospital in Gaza-Stadt gearbeitet. Mit Hunderten von Polizisten wurde der Kongress nach zwei Stunden aufgelöst, der Strom gekappt, 250 Teilnehmer mussten den Saal verlassen.

Träume ich? Bin ich noch in Deutschland? Passiert das gerade in einem Land, das auf der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Rang 10 steht? Oder sollte es 110 heißen?

Ein pensionierter Richter formulierte bei der Konferenz des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) in Nürnberg im Mai 2024, just 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, seine Sorge so: »Das Grundgesetz hat sich nicht verändert, aber die politische Diskussion, die Befindlichkeit unseres Landes hat sich gravierend verändert. Wesentliche Grundrechte werden eingeschränkt, von der Seite her, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und das auf Versammlungsfreiheit.«⁹

Schon im zweiten Kriegsmonat forderte der Journalist Stephan Detjen im Deutschlandfunk eine Debatte über das Verständnis von Antisemitismus: »Unterdessen fokussiert sich die staatlich gelenkte Antisemitismusbekämpfung in Deutschland darauf, Begriffe wie ›Besatzung‹ oder ›Apartheid‹ als antisemitisch zu verdammen«¹⁰, dabei würden diese auch von israelischen und jüdischen Wissenschaftlern immer öfter verwendet.

Zurück zum Krieg: Auf der erwähnten BIP-Konferenz 2024 lernte ich ein junges, palästinastämmiges Paar aus Norddeutschland kennen. Sie trug eine klitzekleine palästinensische Flagge an der Halskette. Im Gespräch bekannte sie, enttäuscht zu sein, von Kollegen oder Freunden nicht nach ihrem Befinden oder dem ihrer palästinensischen Verwandtschaft gefragt zu werden. Ihr Partner: »Ich habe durch die ganze Schulzeit gehört: Nie wieder Krieg!« Er ist fassungslos, dass das jetzt im Gazakrieg für Palästinenser nicht gilt. Auf sie trifft zu, was Hanna Pfeifer und Irene Weipert-Fenner in einer Analyse der Heinrich-Böll-Stiftung zu »Israel-Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs« so formulieren: Es stehe jeden Tag »auf dem Spiel«, dass sich Muslime, Araber, Migranten »in unserer Mitte nicht mehr gehört und zugehörig fühlen«, weil ihnen »Teile des Staates und der Gesellschaft offen drohen, sie verwirkten ihre Schutzrechte«.¹¹

Meine Bekannte R. S. aus dem Westjordanland hatte mir schon im Oktober 2023 ihren Text »Die Heuchelei der zweierlei Maße« geschickt. Sie, die in Deutschland studiert hat, erinnert an die Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet nach zwei Weltkriegen. Darin wurde »detailliert verankert, wie das Leben eines jeden Menschen aussehen soll, damit Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit etc. gewährleistet sind. Und???« Nach drei Fragezeichen fährt sie fort: »Diese Menschenrechtserklärung existiert für uns – Palästinenser – (nur) auf dem Papier. Sie besteht immer noch. (Aber) die einen sind es wert, dass alle Paragraphen realisiert werden, für die anderen gilt nur eine eingeschränkte Version, weil sie als niedrigere Menschen betrachtet werden.« Den folgenden, sehr verschachtelten Satz habe ich geglättet, damit er verständlicher wird: »Und wenn sie sich dann Demokraten und Verfechter von Menschenrechten und Menschenwürde nennen, sind sie Heuchler.« Sie sollten sich »nochmals die Erklärung von 1948 gründlich durchlesen«, und zwar »mit Hilfe eines Wörterbuches, denn anscheinend sind ihnen viele Begriffe zu Fremdwörtern geworden!«¹²

Ihre Botschaft habe ich in Palästina landauf, landab vernommen. So wie R. S. empfinden in der arabischen und muslimischen Welt sehr viele. Der Ägypter Mohammed El Baradei, emeritierter Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), prognostiziert einen Bruch zwischen dieser Welt und dem Westen. Ich füge hinzu: zwischen dem Westen oder dem globalen Norden und dem globalen Süden. Folgende Worte von El-Baradei kann ich unterschreiben: »Darüber hinaus hat die arabische bzw. muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht.«¹³ Sein Schlusssatz: »Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gazakrieg Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.«

Die israelische Journalistin Amira Hass – sie hat auch an US-Präsident Biden geschrieben – bekannte in der erwähnten BIP-Konferenz, dass es ihr »emotional« sehr schwerfalle, aber sie müsse es sagen: »Israel begeht einen Genozid in Gaza.« Bedauernd erklärt sie, »Deutschland und andere europäische Staaten, die sich nach dem Holocaust für Israel verantwortlich fühlen, hätten eingreifen und Israel vor seinem kolonialistischen Selbst retten sollen. Das haben sie nicht gemacht. Daher verrät Deutschland seine selbsterklärte Verantwortung.« Das fühle sich »wie ein weiterer Angriff von Deutschland« an. Das hatte die preisgekrönte Journalistin schon am zehnten Kriegstag Kanzler Scholz vorgehalten: »Ihr Deutschen habt eure ›aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung‹, also aus der Ermordung unter anderem der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden, längst verraten. Ihr habt sie verraten, indem Ihr ein Israel vorbehaltlos unterstützt habt, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt befördert.«¹⁴

Gaza – das ist seit 1948 Krieg und Vertreibung, Militäroperationen zu Land, Wasser und aus der Luft, dazu innerpalästinensische Gewalt zwischen Fatah und Hamas sowie das Lynchen von Kollaborateuren. Die regelmäßigen Militäroperationen (ich nenne sie Kriege) – mal dauern sie Stunden, mal Tage, mal Wochen – nennt Israel »Rasen mähen«. Soll heißen: die palästinensische Gewalt auf ein erträgliches Maß zurechtstutzen. Neben dieser blutigen Gewalt macht die Besatzungsmacht Israel den über zwei Millionen Palästinensern das Leben auch anderweitig, zum Beispiel bürokratisch schwer. Die Menschenrechtsorganisation Gisha hat 50 derartige Hürden als »50 Shades of Control« bezeichnet. Ich wähle per Zufallsprinzip Nr. 39 aus: »(Israel) hindert Akademiker daran, zu Konferenzen ins Ausland zu reisen oder Kollegen in den Gazastreifen einzuladen. Israel verbietet auch ausländischen Forschern die Einreise nach Gaza.«¹⁵

Zuspruch finde ich bei Gideon Levy, dem Haaretz-Journalisten, den ich zweimal traf. Schon vor über zehn Jahren attestierte er seiner Gesellschaft, im Koma zu liegen. Nun schrieb er, sie lebe »in Verleugnung, völlig abgekoppelt von der Realität in ihrem Hinterhof«, womit er das Westjordanland und den Gazastreifen meint. Dort herrsche »ein Apartheidregime, eine der brutalsten und grausamsten Tyranneien der Welt.« Um trotzdem als Israeli mit sich und seinem Umfeld in Frieden zu leben, seien verschiedene Mechanismen am Werk, darunter »die systematische Entmenschlichung der Palästinenser«. Denn »wenn sie keine Menschen sind wie wir, dann stellt sich die Frage nach den Menschenrechten nicht wirklich«.¹⁶

Zurück zum Krieg, der nach rund acht Monaten schon 30mal so viele Tote gefordert hat, wie Israel am 7. Oktober 2023 beweinen musste. Wie kann er endlich überwunden werden? Wie kann eine vorsichtige Annäherung der beiden Seiten gelingen (von Frieden wage ich kaum zu reden)? Noch weit vor Gesprächen über Ein-Staat-, Zweistaatenlösung oder das Parallel-States-Project der schwedischen Lund-Universität muss passieren, was der israelische Friedensvisionär Uri Avnery mit Blick auf die Nakba so formulierte: »Ein wirklicher Friede, basierend auf wirklicher Versöhnung, beginnt mit einer Entschuldigung.« Avnery (1923–2018) stellte sich die Rede seines Staatspräsidenten oder Premierministers vor der Knesset so vor: »Sehr geehrte Mitglieder der Knesset, im Namen des Staates Israel und all seiner Bürgerinnen und Bürger wende ich mich heute an die Söhne und Töchter des palästinensischen Volkes, wo immer sie sich befinden. Wir erkennen die Tatsache an, dass wir gegen Sie eine historische Ungerechtigkeit begangen haben, und wir bitten Sie in aller Demut um Vergebung.«¹⁷

Anmerkungen

1 Zit. n. Clemens Ronnefeldt: Der Gazakrieg. Hintergründe jenseits von Kassam-Raketen, in: Zivilcourage Feb./März 2009, S. 6

2 Gusch Schalom-Anzeige in Haaretz, 18.5.2007

3 Arte-Reportage: Hamas: Die Erschaffung eines Monsters, 2024

4 Gershon Baskin: The Future of Hamas, 1.9.2023, www.timesofisrael.com

5 Judith Bernstein: Brief an das Auswärtige Amt, 3.11.2023, Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe (jpdg.de)

6 Nirit Sommerfeld: Nahostkonflikt: Warum Israelis kein Interesse daran haben, den Krieg zu beenden, Berliner Zeitung, 4.3.2024

7 Vortrag von Amira Hass per Zoom: 3. BIP-Konferenz, Nürnberg, 25.5.2024

8 Fabian Scheidler: Deutsche Israel-Politik: Die falschen Lehren aus der Vergangenheit, Berliner Zeitung, 22.4.2024

9 3. BIP-Konferenz, Nürnberg, 25.5.2024

10 Stephan Detjen: Kommentar. Wir brauchen eine Debatte über das Verständnis von Antisemitismus. Deutschlandfunk, 11.11.2023

11 Hanna Pfeifer; Irene Weipert-Fenner: Israel-Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs, Heinrich Böll-Stiftung e. V., 18.12.2023

12 Private E-Mail vom 29.10.2023

13 Mohammed El-Baradei: Weltordnung in Trümmern, IPG Journal, 25.1.2024

14 Amira Hass: You Have Long Since Betrayed Your Responsibility, Haaretz, 16.10.2023

15 Gisha: 50 Shades of Control, ohne Datum, www.gisha.org

16 Gideon Levy: Die bedingungslose Unterstützung Israels, junge Welt, 15.5.2024, Beilage »Naher Osten«, S. 4 f.

17 Zit. n. Ronnefeldt 2009 (vgl. Anm. 1), S. 5

Johannes Zwang: Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg. Köln: Papyrossa 2024, 279 Seiten, 19,90 Euro

Johannes Zang ist freier Journalist und betreibt den Nahost-Podcast »Jeru-Salam«.

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