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Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Naher Osten

Signale der Annäherung

Syrien und Türkei: Arabische Liga, China, Russland, Iran und Irak vermitteln zwischen den Konfliktparteien
Von Karin Leukefeld, Beirut
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Einst galten sie als gute Freunde: Syriens Präsident Assad (r.) und der damalige türkische Premier Erdoğan 2010 in Damaskus

Während Israel seinen Feldzug gegen Gaza ungebremst von seinen westlichen Partnern in den USA, Deutschland, der EU und Großbritannien fortsetzt und gleichzeitig dem Libanon droht, das Land »in die Steinzeit zu bomben«, gibt es deutliche Entspannungszeichen in und um Syrien.

Im Rahmen des diesjährigen Gipfeltreffens der Shanghaier Organisation für Kooperation (SOK) in der kasachischen Hauptstadt Astana erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, er denke daran, den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad in die Türkei einzuladen, um gemeinsam einen neuen politischen »Prozess beginnen« zu können. Die »vergangenen Jahre in Syrien haben allen deutlich gemacht, dass ein Mechanismus für eine dauerhafte Lösung« eingerichtet werden müsse, so Erdoğan am Rande des SOK-Gipfels am 5. Juli 2024 vor Journalisten, die den türkischen Präsidenten begleiteten. Der russische Präsident Wladimir Putin habe sich bereit erklärt, den Besuch von Assad zu vermitteln, wenn er selbst seinen lange geplanten Staatsbesuch in der Türkei antreten werde. Der syrische Präsident Assad zeigt sich grundsätzlich zur Aufnahme bilateraler Gespräche bereit. Bisher hatte er allerdings ein Treffen mit Erdoğan verweigert, solange türkische Truppen weiterhin syrisches Territorium entlang der syrisch-türkischen Grenze besetzt hielten.

Problem Besetzung

Die Türkei steht mit Truppen und Einheiten des Geheimdienstes MIT sowohl in Idlib als auch in mehreren seit 2016 besetzten Gebieten um Al-Bab und Dscharabulus, Afrin sowie zwischen den Grenzstädten Tal Abjad und Ras Al-Ain. In diesen Gebieten hat die Türkei bisher bewaffnete Gegner der syrischen Regierung unterstützt und finanziert eine »Syrische Nationale Armee«, die unter dem Kommando der türkischen Streitkräfte steht.

Während in Al-Bab und Dscharabulus durch russische Vermittlung zwischen Syrien und den von der Türkei unterstützten Kräften eine Art Kooperation besteht, verweigern die dogmatisch islamistischen Kräfte von Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) in Idlib jeglichen Dialog. Den Anspruch auf eine 30 Kilometer breite Pufferzone auf syrischem Territorium entlang der Grenze hat Ankara bisher mit den politischen und militärischen Aktivitäten der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte begründet. Ankara gibt an, diese Kräfte würden von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geleitet, die von der Türkei und den NATO-Mitgliedstaaten als »Terrororganisation« gelistet ist. Ankara bezeichnet die kurdischen Aktivitäten im Norden Syriens als »Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei«.

Die syrische Tageszeitung Al-Watan berichtete vor einer Woche unter Berufung auf Regierungskreise in Damaskus, in der irakischen Hauptstadt Bagdad bereite man sich aktuell auf den Beginn von syrisch-türkischen Gesprächen vor. Ziel sei es, die »bilateralen Beziehungen zu normalisieren« und sich hinsichtlich der Grenzregion zwischen beiden Ländern auf einen Modus Vivendi zu verständigen. Eine »dritte Partei« werde nicht teilnehmen. Russland und Irak hätten demnach die Gespräche vermittelt, die »ohne Medienöffentlichkeit« stattfinden sollen. Die bilaterale Annäherung der beiden Länder erhalte, so Al-Watan, »breite Unterstützung sowohl in der arabischen Welt als auch von Russland, China und Iran«.

Irak bietet sich an

Am Rande des NATO-Gipfeltreffens in Washington bestätigte der irakische Außenminister Fuad Hussein eine »irakische Initiative, um die beiden Länder wieder zusammenzubringen«. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien seien »kompliziert«, so der Außenminister. Beide Länder hätten ihr Interesse an einer Annäherung signalisiert, möglicherweise könne es zu einem Treffen der beiden Präsidenten Erdoğan und Assad in Bagdad kommen.

Seit Monaten haben bilaterale Treffen zwischen türkischen und syrischen Diplomaten meist abseits der Medienöffentlichkeit stattgefunden. Die Treffen fanden unter irakischer und iranischer Vermittlung auf der Ebene der Geheimdienste, Militärs und der Außenminister statt. Beide Seiten waren von Verbündeten zu einer Einigung gedrängt worden, um Syrien in einer von Krisen und Kriegen gezeichneten Region wieder zu stabilisieren.

Hintergrund: BRICS und SOK

Die Veränderung der globalen Machtverhältnisse ermöglicht Lösungen für langjährige Konflikte. So ist die Wiederannäherung zwischen der Türkei und Syrien auch ein Ergebnis der Wiederannäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien im März 2023, die von China, Irak, Oman und zahlreichen anderen Staaten vermittelt worden war. Sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran – als die beiden politischen Schwergewichte der Golfregion – sind aus wirtschaftlichen und politischen Gründen an einer Beruhigung der langjährigen Krisen und Konflikte interessiert. Beide Länder sind seit Anfang 2024 Mitglied der Staatenallianz BRICS und haben ihre Beziehungen zu China und Russland ausgebaut und gefestigt. Iran gehört auch der Shanghaier Organisation für Kooperation (SOK) an, Saudi-Arabien hat dort den Status eines Dialogpartners, ebenso die Türkei. Syrien wiederum verbindet ebenso wie Saudi-Arabien mit China eine strategische Partnerschaft.

Das Interesse der Türkei, wie bereits andere Staaten der Region Anschluss an die BRICS zu suchen, hat die syrische-türkische Annäherung befördert. Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien sind seit Anfang 2024 volle BRICS-Mitglieder und stimmen die regionale Politik zunehmend auch mit China und Russland ab. In der SOK sitzen diese Staaten auch mit der Türkei und den zentralasiatischen Staaten zusammen, um die politische und wirtschaftliche Kooperation zu koordinieren. Auch der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, ist dabei, der sich später mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin traf, der ihn zu einem Staatsbesuch nach Russland einlud. Der Emir nahm an. Katar hat bisher an der Seite der Türkei die Gegner der syrischen Regierung unterstützt. Seit 2022 ist Katar nun auch Dialogpartner der SOK.

Der jüngste SOK-Gipfel in Astana hat sich explizit für eine »gerechte Lösung der Palästina-Frage« ausgesprochen. Das Bündnis lehnt »einseitige Sanktionen« ab und plant, einen SOK-Investitionsfonds zu schaffen, um Staaten unabhängig von westlichen Geldquellen und damit verbundenen Forderungen zu unterstützen. Gemeinsam und auf bilateraler Ebene wollen die SOK-Staaten »eine neue Sicherheitsarchitektur in Eurasien aufbauen«.

BRICS und SOK planen, die arabischen Staaten, Iran und die Türkei bei ihrem Vorhaben zu unterstützen, die Region zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf nach jahrzehntelangen Krisen und Kriegen im eigenen Interesse zu stabilisieren. Syrien hat für die Region strategische Bedeutung, daher soll für die Stabilität des Landes, einschließlich der Rückkehr der syrischen Flüchtlinge und dem Wiederaufbau, zusammengearbeitet werden. (kl)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (16. Juli 2024 um 16:05 Uhr)
    Ein staatstragender Artikel, der Kurden und Jesiden bzw. die Verbrechen an ihnen, aber auch die revolutionäre Chance der kurdischen Selbstverwaltung nicht anspricht. Die Besetzung Syriens durch den NATO-Staat Türkei als »Problem« zu bezeichnen, ist Euphemismus. Die Türkei macht in Syrien und Nordirak – ebenso wie Israel in den Palästinensergebieten – dass, was auch Russland und die Ukraine tun: Krieg zum Wohle des Kapitalismus.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (15. Juli 2024 um 22:21 Uhr)
    Zu befürchten ist, dass ein Abkommen zwischen den zwei autoritären Regimen, für die kurdische Bevölkerung in der Region – auch außerhalb Syriens – mehr Gewalt und Unterdrückung bedeuten könnte; abgesehen von den kurdischen Verrätern und Vasallen des Barzani-Clans im Nordirak. Die KurdInnen in Syrien haben, wie zuvor die KurdInnen im Irak, auf die USA gesetzt. M. E. ein Fehler, aber nachvollziehbar, da weder Russland und Türkei, geschweige Iran und Irak ein unabhängiges Kurdistan erlauben. Die »Revolution« in Rojava, die auch eine starke Rolle der Frauen einschließt, sollt unbedingt erhalten und ausgebaut werden. Da Irak an den Verhandlungen teilnimmt, sollten auch die Vertreibung und der Genozid an JezidInnen miteinbezogen werden. Die Verbrechen in Sinjar sind jedoch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Genauso wie diejenigen an Rohingyas in Myanmar. Von ungefähr 350.000 JezidInnen wurden mehr als 30.000 von Islamisten ermordet oder entführt; viele Mädchen und Frauen als Sexsklavinnen genommen und danach weiterverkauft! Noch heute fehlt jegliche Spur von 3.000 JezidInnen. Ungefähr 100.000 sind nach Europa und andere Statten geflüchtet, ca 170.000 leben in Flüchtlingslagern in Nachbarstaaten und knapp 50.000 sind nach Sinjar zurückgekehrt, wo sie unter prekären und unsicheren Bedingungen leben. Es ist wünschenswert, dass Karin Leukefeld auch mal aus der Perspektive dieser Verfolgten und Unterdrückten schreiben würde.

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