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Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Energiepolitik

Staumauern und Talsperren

Schweiz: Deutliches Volksvotum für neues Stromgesetz. Ausbau alpiner Wasserkraft bleibt aber Streitpunkt bei Umweltverbänden und Nationalräten
Von Oliver Rast
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Überflutungsgefahr: Alpine Gletscherlandschaft im Berner Oberland soll Stausee werden

Massiv sind sie, die Bauten. Millionen Kubikmeter Beton werden dafür verbaut. Für Staumauern und Talsperren, um Täler in Stauseen zu verwandeln. Für die Energieerzeugung durch Wasserkraft. Mitten in den Schweizer Alpen. Die eidgenössische Topographie samt Niederschlagsmengen ist prädestiniert dafür. Wasserkraft ist mit rund 58 Prozent die wichtigste heimische Quelle für die Stromerzeugung, auch unter den erneuerbaren Energieträgern, schreibt das Bundesamt für Energie (BFE) auf seiner Homepage.

Nun ist aber eine Debatte um den Aus- und Zubau von alpinen Wasserkraftanlagen entbrannt, neu entbrannt. Und das, nachdem die Schweizer Bevölkerung am 9. Juni über das Stromgesetz, den sogenannten Mantelerlass, abgestimmt hatte. Knapp 69 Prozent votierten für die Gesetzesvorlage, das heißt, für die Versorgungssicherheit, für die Energiewende, gegen zuviel Importstrom, betonen Befürworter. Die kommen aus allen politischen Lagern, auch aus Umwelt- und Naturschutzverbänden. Indes nicht aus allen.

Denn mit dem Votum sind ferner 16 Wasserkraftprojekte in Planung. Nur: Wasserkraft als Energieträger sei zu »95 Prozent des technisch Sinnvollen in der Schweiz ausgeschöpft«, so der Exdirektor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), Mario F. ­Broggi, am Montag zu jW. »Für mich ist die Zitrone ausgepresst.« Und die Errichtung neuer Anlagen sei »nur noch möglich mit enormen Einbußen bei der Biodiversität«, ergänzte die »Aqua Viva«-Präsidentin und sozialdemokratische Nationalrätin Martina Munz gleichentags gegenüber jW.

Schärfer reagierte Vera Weber auf das Ergebnis des Volksentscheids. »Es kann und darf nicht sein, dass Milliarden Franken ausgegeben werden, um die Natur zu zerstören«, wurde die Präsidentin der »Fondation Franz Weber« jüngst in einer Mitteilung zitiert. Naturschutz, Biodiversität und direkte Demokratie müssten gewahrt bleiben.

Apropos (Anti-)Demokratie: Der »Mantelerlass« ermächtige den Schweizer Bundesrat »zur Genehmigung von Wind- und Solarparks im Schnellverfahren«, verlautbarte das »Naturkomitee gegen das Stromgesetz«. Referenden dagegen könnten nicht eingeleitet werden. Kantone diktierten »von oben herab, wo Windturbinen und Freiflächensolaranlagen gebaut werden«. In sogenannten Eignungsgebieten. Auch dagegen könne die örtliche Bevölkerung kein Plebiszit organisieren. Und nicht zuletzt habe bei den 16 Wasserkraftprojekten die Energienutzung Vorrang vor Naturschutzbelangen.

Julien Duc widerspricht. Das neue Stromgesetz bringe Stromproduktion sowie Umwelt- und Landschaftsschutz in Einklang, meinte der Mediensprecher des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) auf jW-Nachfrage. »Es schafft klare Leitplanken, wo neue Projekte realisiert werden dürfen und wo nicht.« Überdies: Es gebe keinen »Blankoscheck« für Kantone bei Energieinfrastrukturprojekten, die im »nationalen Interesse« seien. Eine Abwägung von Schutzgütern »muss es in jedem einzelnen Fall geben«, so Duc weiter. Das bestätigt Jürg Grossen gegenüber jW. Der Nationalratsabgeordnete und Präsident der Grünliberalen Partei Schweiz (GLP) hebt dabei hervor, dass das Stromgesetz erstmals Effizienzvorgaben für die Branche enthält, um den Energieverbrauch zu optimieren. Merksatz: »Eingesparte Energie ist die umweltfreundlichste.«

Um so mehr stört VSE-Vertreter Duc das: Einzelne kleine Umweltverbände würden trotz des klaren Votums »so wichtige Wasserkraftprojekte torpedieren«. Projekte, die zentral für die Energieversorgung der Schweiz seien – vor allem im Winter. Duc dürfte etwa den juristischen Clinch um den geplanten Stausee im Berner Oberland am Triftgletscher meinen. »Aqua Viva«-Präsidentin Munz: »Dieses einzigartige Gebiet darf nicht geflutet werden.« Den Rechtsweg zu beschreiten sei das gute Recht von Umweltaktivisten, so Grossen. Ob sie damit im Sinne des Naturschutzes handelten, »beurteilen die Grünliberalen im Einzelfall anders als gewisse Verbände«.

Die Stimmung bleibt spannungsreich. Forstingenieur Broggi mahnt hingegen »in einer Zeit der Energiehysterie« zu mehr Gelassenheit. Zumal die Energiefrage durch zusätzliche Solaranlagen auf Dächern und bei Infrastrukturvorhaben »weitgehend« gelöst werden könnte. Ganz ohne neue alpine Staumauern und Talsperren.

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