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Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Geschichte

Freiheit und Befreiung

Der italienische Historiker Enzo Traverso hat eine Geistesgeschichte der Revolution geschrieben
Von Sabine Fuchs
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»Hängt ihn höher!« – Haitianischer Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint-Domingue im Jahr 1791 (Illustration von 1805)

Der italienische Historiker Enzo Traverso, 1957 als Sohn eines kommunistischen Lokalpolitikers geboren, hat eine »andere Geschichte« der Revolution verfasst, wie es im italienischen Original heißt. In der englischen Fassung ist daraus eine »intellectual history« geworden, in der deutschen Übersetzung eine »Geistesgeschichte«. Am ehesten könnte man wohl von einer Phänomenologie vergangener Revolutionen sprechen. Methodisch orientiert Traverso sich am Spätwerk Walter Benjamins, dessen Konzept »dialektischer Bilder« er aufnimmt, in denen Vergangenes mit Gegenwärtigem zusammenstößt und so zu einem schockartigen Moment der Erkenntnis führt.

In sechs Kapiteln führt der Autor – während seiner Zeit in Frankreich war er lange Mitglied der trotzkistischen ­Ligue communiste révolution­naire – eine Menge Material zusammen, untersucht an unterschiedlichen realen und imaginär-symbolischen Bildern Realität und Strahlkraft historischer Revolutionen. So wird Marx’ Metapher der »Revolution als Lokomotive der Geschichte« unter Rückgriff auf William Turners Eisenbahnbilder, die Rolle der Eisenbahn in der mexikanischen Revolution und den Panzerzug, den Trotzki während des Russischen Bürgerkriegs nutzte, kritisch analysiert. Und wie Benjamin sieht Traverso Revolutionen eher als Notbremse im System des sich immer rasender entwickelnden Kapitalismus. Im Kapitel »Revolutionäre Körper« handelt er den kollektiven Körper aufständischer Massen ebenso ab wie Lenins einbalsamiertem Leichnam, Wsewolod Meyerholds biomechanisches Körpertheater und Alexandra Kollontais Utopie einer Sexualmoral der freien Liebe. Symbolische Bilder und Erinnerungsorte, die sich wandelnde Rolle revolutionärer Intellektueller und die Bedeutung von Freiheit und Befreiung werden gleichermaßen analysiert.

Immer wieder misst Traverso seine Quellen kritisch an Benjamins Dialektik, zeigt, wie aus Bildern unterschiedlicher Vergangenheiten – die Hinrichtung des französischen Königs 1793, die gestürzte Vendôme-Säule der Pariser Commune, die Erstürmung des Winterpalais in St. Petersburg, Che Guevara und Fidel Castro beim Einzug in Havanna – Bilder kollektiver Imagination entstehen. Intellektuell ungemein anregend ist das, gleichwohl hat das Buch Schwachstellen. Im letzten Abschnitt »Historisierung des Kommunismus« gibt Traverso den dialektischen Ansatz Benjamins auf. Diesem ging es ja gerade nicht um Historisierung, sondern um ein Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart in einer Konstellation, die in der Jetztzeit relevant ist.

Für Traverso zeigt sich der Kommunismus in vier unterschiedlichen Gestalten: als Revolution, Regime, Antikolonialismus und als sozialdemokratischer Kommunismus. Den Gegensatz zwischen Kommunismus als Revolution und Kommunismus als Regime handelt er schlüssig am Beispiel der Russischen Revolution und ihres Übergangs zum Stalinismus ab, unter Kommunismus als Antikolonialismus subsumiert er den Maoismus und die antikolonialen Befreiungsbewegungen des globalen Südens sowie deren Kooperationen mit der Sowjetunion. Dass er die aus einem Sklavenaufstand hervorgegangene Haitianische Revolution von 1791 gleichwertig mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution untersucht, ist ein weiterer Pluspunkt.

Weniger zwingend erscheint Traversos Konzept des sozialdemokratischen Kommunismus. Darunter fasst er so unterschiedliche Phänomene wie den New Deal der USA der 1930er Jahre, den Aufstieg eurokommunistischer Parteien in den 1970er und 1980ern und die keynesianische Wirtschaftspolitik vieler sozialdemokratischer Parteien, während er der LGBTQ-Bewegung oder der revisionistischen griechischen Partei Syriza aus unverständlichen Gründen revolutionäres Potential zumisst. Er betont verständlicherweise die Zäsur des Jahres 1989, doch entgeht ihm dadurch das gegenwärtige, durch die Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus generierte revolutionäre Potential. Seine Behauptung, dass das »alte Modell von Revolution nicht mehr funktioniert« ist zwar insofern richtig, als sich Geschichte niemals deckungsgleich wiederholt, mehr aber eben auch nicht.

Aber auch wenn man Traverso nicht überall hin folgen mag: »Revolution. Eine Geistesgeschichte« ist eine äußerst anregende Reflexion über die Wirkungsmacht vergangener revolutionärer Transformationsprozesse. Bleibt zu hoffen, dass diese Macht auch in Zukunft nicht nachlässt.

Enzo Traverso: Revolution. Eine Geistesgeschichte. Aus dem Englischen von Brita Pohl. Verlag Turia und Kant, Wien 2023, 500 Seiten, 39 Euro

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