75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Freitag, 23. August 2024, Nr. 196
Die junge Welt wird von 2900 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Der Anfang und die Folgen

Von Helmut Höge
Helmut_Hoege_Logo.png

»Das Prinzip des Privateigentums, des Warentauschs, ist die Negation von Gesellschaft« (Alfred Sohn-Rethel). Der von Herodot so genannte »Demokratiebegründer« Kleisthenes musste – im sechsten Jahrhundert v. u. Z. in Athen – von den unteren Klassen gezwungen werden, zuzulassen, dass auch vermögenslose Bürger in Staatsämter gewählt werden durften. Für den Altphilologen George Thomson zeigte dies bereits »den Mittelstandscharakter der Revolution«, zudem war die neue Verfassung dem früheren »Stammesmodell« nachgebildet – und verbarg so die Tatsache, dass mit ihr die »letzten Überreste der urtümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweggefegt worden waren«, d. h. die Warenbesitzer traten sich nunmehr in der »›Freiheit‹ des offenen Marktes als Gleiche gegenüber«.

Diese allgemeine »Gleichheit vor dem Gesetz« (Isonomia) bezeichnete bereits Diodorus aus Agyrion im ersten Jahrhundert v. u. Z. als Mogelpackung, da sie ohne »Gleichheit des Eigentums« (Isomoiria) durchgesetzt wurde. Infolgedessen hatte sich laut Thomson »der Klassenkampf, weit davon entfernt, beendet zu sein, noch verschärft«. Es standen sich nun nicht mehr Adlige und Bürger, Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft, gegenüber, sondern Sklavenhalter und Sklaven, wobei letztere »aus der Gesellschaft Ausgestoßene« und zugleich »Schöpfer ihres Wohlstands« waren. Dadurch entstand eine Spaltung zwischen Konsumtion und Produktion, zwischen Theorie und Praxis. Die »Ersten Philosophen«, von denen nicht wenige Kaufleute waren, mithin Sklavenhändler, verdanken dieser Trennung von Hand- und Kopfarbeit ihre Existenz.

Mir drängte sich dieser ganze Demokratiewidersinn erstmalig als einkommensloser 18jähriger auf, als ich wegen abgefahrener Reifen an meinem alten VW 160 D-Mark Strafe zahlen musste, die ich nicht hatte. Während zum Beispiel mein beim Staat angestellter Vater eine solche Summe aus seiner Brieftasche hätte bezahlen können – abgesehen davon, dass die Reifen an seinem Auto nie abgefahren waren, weil er immer genug Geld hatte, um sie rechtzeitig zu wechseln. Anders gesagt: Die gerechte – für alle gleiche – Strafgebühr war (und ist) eine schreiende Ungerechtigkeit.

Es kam aber noch dicker: 2001 schlenderte ich die Einkaufsstraße der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar entlang. Als ich an einem Terrassencafé vorbeikam, sah ich in nächster Nähe von mir ein Pärchen vor zwei Cocktails sitzen: eine junge Mongolin und einen etwa 22jährigen US-amerikanischen Volontär des Konzerns Ivanhoe Mines, wie ich etwas später erfuhr. »Ivanhoe« ist der Titel eines Ritterromans von Sir Walter Scott von 1820. Der Bergbaukonzern gleichen Namens hat eine Goldmine in der Mongolei ausgebeutet. Weil er glaubhaft machte, dass er dazu 15 Jahre benötigte, gewährte die Regierung ihm fünf Jahre Steuerfreiheit. Er benötigte jedoch nur viereinhalb Jahre, um alles Gold aus der Mine zu lösen – und weg war er. Dieser »Betrug« erboste die Mongolen derart, dass es zu gewaltsame Ausschreitungen in der Hauptstadt kam. Inzwischen gehört der Konzern dem noch größeren Bergbaukonzern Rio Tinto, der in der Wüste Gobi eine riesige Gold- und Kupfermine ausbeutet.

Zurück zu dem Pärchen auf der Caféterrasse: Während die junge Mongolin etwas gelangweilt die Passanten betrachtete, hatte er sich in ein Buch vertieft. Ich spinne nicht: Es war »The White Man’s Burden« (Die Bürde des weißen Mannes, 1899) – ein Poem von Rudyard Kipling, mit dem er de facto die USA zur Kolonisierung Kubas und der Philippinen aufrief, was er als einen humanitären Akt darstellte. Ausgerechnet diesen »Klassiker« las nun dieser Amischnulli in der Mongolei, während gleichzeitig einen Steinwurf davon entfernt drogenkranke Straßenkinder in der Kanalisation hausten, Frauen an der Landstraße ihre Muttermilch verkauften und die US-Botschafterin in Ulaanbaatar der mongolischen Regierung sagte, was diese als nächstes tun musste.

Zeitsprung in den April 2014: Um Russland wie weiland 1918 von White Man’s Nations zu umzingeln, besucht der US-Verteidigungsminister die Mongolei und bittet die Regierung, eine Militärbasis im Land errichten zu dürfen. Der mongolische Verteidigungsminister bedauert, dass er das nicht genehmigen könne, die Verfassung gäbe das noch nicht her. Aber westliche Experten sind sich sicher: »Wir werden die Mongolei bald nicht mehr wiedererkennen.« Ja, denn schon werden aus reichen Nomaden sesshafte »Farmer«, die für das Hüten ihres Viehs arme viehlose Nomaden beschäftigen. Für sie ist nun der weiße Mann mit seiner Privateigentumsidee die Bürde.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Jenseits urbaner ­Zentren: Kamele werden in der Mongolei eher in...
    25.02.2023

    Wüstenbildung droht

    Mobile Weidehaltung in Mongolei: Ungewisse Zukunft angesichts von Klimawandel und extremer Zunahme an Tieren
  • Sturm auf den Staatspalast in Ulaanbaatar. Ein Demonstrant schwe...
    14.12.2022

    Von Krise zu Krise

    In der Mongolei gehen die Menschen erneut gegen Korruption auf die Straße. Das Land bleibt abhängig von Rohstoffexporten
  • Tausende Lkw mit Kohle aus der Mongolei stauen sich an der Grenz...
    05.04.2022

    Zwischen Russland und China

    Strategische Lage: Verbindungen der Mongolei zur Volksrepublik werden enger

Regio:

Mehr aus: Feuilleton