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Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Der Stein muss rollen

Ein Filmporträt zeigt den langen Kampf des Abbé Pierre gegen das Elend
Von Felix Bartels
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Die Nächstenliebe beim Wort genommen: Der junge Abbé Pierre, im Film gespielt von Benjamin Lavernhe (M.)

Was ist ein Drama, was ein Held? Zunächst braucht das Genre diesen Figurentypus, denn persönlich-handelnde Darstellung kommt ohne Personen, die handeln, nicht aus. Dennoch geht die Welt darin nicht auf. Wo die Dinge sich meist hinterm Rücken der Beteiligten durchsetzen und die Menschen einem Ganzen ausgeliefert sind, das sie nicht ändern, allenfalls begreifen können.

War Kafka der größere Realist als Shakespeare? Nun, dass aus Nicht­handelnkönnen auch Nichtbegreifenkönnen folge, scheint so eine Weisheit, die das Bürgertum der Moderne für allgemeingültig hält, in der sich allerdings bloß das Unbehagen an der eigenen Ohnmacht ausdrückt. Der Held ist keine Erfindung des Dramas. Es gibt ihn, wenn auch in anderer Funktion als im klassischen Drama, das ihn hochhebt, während die moderne Epik ihn leugnet.

»Ich habe mein Leben lang gegen Hunger gekämpft. Gegen das Elend. Ich habe alles getan, um anderen zu helfen. Hat es gereicht? Hat es die Welt etwas besser gemacht?« Diese Sätze spricht Abbé Pierre am Anfang dieses Films, der sich seines Lebens annimmt. Das Dilemma des Helden in der Welt (im Gegensatz zum Helden in der Kunst) wird hier zusammengefasst: Er kämpft in einer Wirklichkeit, laboriert dabei am Einzelnen, ohne das Ganze, aus dem das Elend kommt, beseitigen zu können. Kampf aber am eigenen Ort ist besser als Nichtstun. Der Held heilt sie nicht, die Welt, er macht sie vermutlich auch nicht besser. Doch er sorgt, dass es einigen besser geht. Wie Sísyphos rollt er den Stein ohne Ende. Und zugleich ist das eine Übung an sich selbst. Die ewige Vorwegnahme eines Friedens, den es in der Welt nicht geben kann, am und im Einzelnen.

»Unglücklich das Land«, heißt es in Brechts »Galilei«, »das keine Helden hat«. Die Antwort dort folgt umgehend: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« Abbé Pierre war ein Mensch, im emphatischen Sinn des Wortes. Ein Priester, der die Nächstenliebe beim Wort genommen hat. Aus wohlhabendem Hause kommend, kämpfte er ein Leben lang gegen Hunger, Unterdrückung, Verfolgung. Während des Weltkriegs mit der Résistance, nach 1945 in der Nationalversammlung und als Gründer der NGO Emmaüs.

Frédéric Telliers wuchtiges Filmporträt »Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre« packt den Zuschauer an Stellen, die sich so leicht nicht identifizieren lassen. Was um so bemerkenswerter ist, als der Film formal recht konventionell – oder vielmehr: plakativ unkonventionell und damit (mittlerweile) konventionell – scheint. Dick aufgetragene Musik steht, wann immer sie einsetzt, konvergent zur erzählten Handlung, verdoppelt, was Wort und Tat bereits mitteilen. Beleuchtung und Farben hingegen erzählen im Visuellen eben jenes Verhältnis nach, in dem der vereinzelte Held in der Welt steht, deren Leid er nicht tilgen kann. Warme Farben konterkarieren die meist novembrige Szene. Das Licht setzt oft einen Schein in dunkle Orte. Auf die Art wirkt die konkrete Geste größer. Was sie auch soll.

Im streng Dramatischen, das keine Erzählung, keinen Kommentar zulässt, scheint aber auch eine gewisse Furcht zu liegen, sich zum Stoff zu verhalten. Um auf Shakespeare zurückzukommen: Bei ihm macht das Ensemble der Personen Totalität, ein Ganzes entsteht aus dem Gegeneinander der Teilwahrheiten. In »Abbé Pierre« folgt man ganz einer Person, über die man folglich auch nicht hinauskommt. Aber vielleicht ist ja gerade das beabsichtigt.

»Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre«, Regie: Frédéric Tellier, Frankreich 2023, 138 Min., bereits angelaufen

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