75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Mittwoch, 21. August 2024, Nr. 194
Die junge Welt wird von 2900 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 16.07.2024, Seite 12 / Thema
Lieratur

»Das Tschechische ist mir viel herzlicher«

Franz Kafka wird der deutschen Literatur zugerechnet. Wenig bekannt ist seine Verwurzelung in der tschechischen Sprache und Kultur
Von Sabine Kebir
12-13.jpg
Kafka im böhmischen Zürau (Siřem), Aufnahme um 1917

Franz Kafka gilt vielen als vor allem jüdischer Schriftsteller. Er wird aber auch der deutschen Literatur zugerechnet, weil dort seine sprachlich-literarische Herkunft liegt. Aber er war ein europäisch geprägter Autor, der sich unter anderem Flaubert, Kierkegaard, Tolstoi, Dostojewski, Hamsun und Dickens anverwandelte. Als Bürger war Kafka Österreicher und seit der Staatsgründung der Tschechoslowakei 1918 auch Tscheche. Hier soll es um diesen letzten, meist ausgeblendeten Teil seiner multiplen Identität gehen, der auch kulturelles Gewicht hat. Die Wahrnehmung tschechischer Kultur in Kafka, der auch mal mit »František« unterschrieb, wird erschwert, weil die Erinnerung an die Bedeutung der Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918 und die Schattenseiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im allgemeinen Bewusstsein verschüttet sind. Vielmehr herrscht eine massenkulturelle Nostalgie, deren krassester Ausdruck die alten und neuen »Sissi«-Filme sind. Prägend war aber auch manch seriöses literarische Werk wie der »wehmütig-elegische Akkord«, den Joseph Roth 1932 seinem »Radetzkymarsch« setzte.¹

Das Habsburgerreich wurde aber von der überwältigen Mehrheit seiner Untertanen als »Völkergefängnis« empfunden, als Kolonialreich, wenn auch als ein altmodisch-behäbiges. In einigem war es aber auch moderner als manch heutiger Staat, wenn man zum Beispiel an die Nationalitätenpolitik der Ukraine seit 2014 denkt. Um das Imperium überhaupt noch zusammenzuhalten, hatte man kulturelle Zugeständnisse an die größten Volksgruppen machen müssen, allen voran die Ungarn, die sich 1848 eine weitgehende Gleichberechtigung erkämpft hatten. Die Tschechen hatten sich das auch erhofft, waren aber enttäuscht worden. Aber immerhin war zu Kafkas Zeiten nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch Amtssprache.

Niemals unter deutschem Volk gelebt

Kafkas Eltern stammten aus tschechischsprachigen Gebieten Böhmens. Die Mutter war deutsche Muttersprachlerin, der Vater lernte erst Deutsch, als er das für seine Geschäftsinteressen als wichtig erachtete. Mit den Dienstboten musste man tschechisch sprechen, und auch Kafkas Amme war eine Tschechin gewesen. So erklärt sich, dass er 1920 an seine tschechische Geliebte, die hochbegabte angehende Journalistin Milena Jesenská (1896–1944), schrieb, er habe »niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das Tschechische ist mir viel herzlicher«. Dass auch seine Nichte, die Tochter von Schwester Ottla, Anfang der 1920er Jahre mit tschechischem Betreuungspersonal aufwuchs und er mit dem Kind tschechisch sprach, ist durch einen Brief an den Freund und späteren Nachlassverwalter Max Brod (1884–1968) belegt. Dessen Bemerkungen über »Das Schloss« hätten ihn beschämt und erfreut, »so wie ich etwa Věra erfreue und beschäme, wenn sie, was häufig genug geschieht, in ihrem torkelnden Gang sich unversehens auf ihren kleinen Hintern setzt und ich sage: ›Je ta Věra ale šikovná‹« (Ist die Vera aber geschickt). Obwohl die Kleine Schmerz verspürte, habe sein Zuruf »solche Gewalt über sie, dass sie glücklich zu lachen anfängt«.³

Am deutschem Gymnasium in Prag hatte Kafka am fakultativen Tschechischunterricht teilgenommen. Er sprach und schrieb ein mit leichtem deutschen Akzent versehenes Tschechisch, das »verschiedene Mischungsgrade aus Schul- und Umgangstschechisch« aufwies. Die Beamtenlaufbahn in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung (AUV) konnte er 1908 nur antreten, weil er es im geforderten Maße beherrschte. Für den vorgeschriebenen Personalproporz war er ein idealer »Alibikandidat« gewesen: jüdischer »Deutscher« mit einem Nachnamen, der tschechisch »Dohle« bedeutet. Normale tschechische Amtsbriefe schrieb er selbst, wichtige, insbesondere die eigenen Gesuche um Beförderung, ließ er sich von Ottlas Mann Josef David »in gravitätisch-konservativem Sprachstil« abfassen und setzte, um diese Hilfe zu kaschieren, ein paar kleine Fehler hinein.⁴

Am 22. September 1917 schrieb er an den Freund Felix Weltsch aus Zürau, wo er sich bei Ottla erholte, er lese »hier nur Tschechisch und Französisch und ausschließlich Selbstbiographien oder Briefwechsel«. Ob Weltsch ihm »einen derartigen Band borgen« könne, fragte er. »Es ist fast alles derartige, wenn es nicht allzu begrenzt militärisch, politisch oder diplomatisch ist, für mich sehr ergiebig. Die tschechische Auswahlmöglichkeit wird wahrscheinlich besonders klein sein, zudem habe ich jetzt vielleicht das Beste dieser Bücher, eine Briefwechselauswahl der Božena Němcová, unerschöpflich für Menschenerkenntnis, gelesen.«⁵ Kafka hatte bereits als Gymnasialschüler ihre berühmte Romannovelle »Babička – Die Großmutter« gelesen. Die in der tschechischen Nationalbewegung engagierte Božena Němcová (1820–1842) gilt vor allem durch ihre von den Brüdern Grimm inspirierte umfangreiche Sammlung tschechischer und slowakischer Märchen⁶ als Begründerin der tschechischen Literatursprache. Brod bestätigte: »Kafka liebte ganz besonders das Briefwerk der leidenschaftlich schönen Frau, deren Auftauchen aus der Provinz einst, einige Menschenalter vor unserer Zeit, in der Gesellschaft der Prager tschechischen Patrioten und Spracherneuerer Sensation erregt hatte. Ihre unglückliche Ehe, ihre sinnlich brennende Liebe zu gesinnungsverwandten Freunden, ihre zarte Sorge um ihre Kinder, ihre Aufschwünge und Niederbrüche, das im Gegensatz zu ihrer manchmal altväterlichen Schreibweise sturmgepeitschte Leben, ihr früher Untergang – all das waren Dinge, die in Kafkas Verständnis und Mitgefühl heftig nachschwangen. Oft las er mir aus diesen Briefen vor, die (…) zu den großen Dokumenten einer kämpfenden Seele gehören.«⁷

tschechisch

In der 1920 bis 1921 bestehenden Liebesbeziehung zu Milena Jesenská offenbart sich Kafkas Affinität zur tschechischen Sprache und Kultur erneut. 1919 hatte ihn die erst dreiundzwanzigjährige, von Wien aus für tschechische Zeitungen erfolgreich arbeitende Journalistin gebeten, »Der Heizer« ins Tschechische übersetzen zu dürfen. Warum gerade den »Heizer«? Es mag die tiefgründige Komplexität dieser den »Amerika«-Roman eröffnenden, 1913 aber isoliert publizierten Novelle gewesen sein, die sie faszinierte. Kafka erzählt hier nicht nur von proletarischer Ohnmacht im Gefüge einer bereits globalisierten Klassenhierarchie, sondern auch vom diese Klassenhierarchie stabilisierenden Rassismus innerhalb der Unterdrückten des k. u. k.-Vielvölkergefängnisses. Während sich die globale Oberklasse bestens versteht, folgt aus dem Rassismus der Unterdrückten Konkurrenz und Desolidarisierung. Ein weiterer Aspekt im »Heizer« ist die Schilderung der tiefsitzenden Ehrfurcht vor den Mächtigen. Wenn die Unterklassen ein Zipfelchen aus dem Privatleben der Oberklassen erhaschen können, meinen sie bereits, an deren Glück ein wenig teilzuhaben – womit ein massenkultureller Aspekt berührt war, der für Milena Jesenskás Feuilletons, in denen es auch um die kritische Wirkung von Kinofilmen ging, Relevanz hatte.

In dem 1920 einsetzenden Briefwechsel teilt ihr der von der Bedeutung der eigenen »Schreibereien« wenig überzeugte Kafka seine Verwunderung mit, dass sie sich »mit der Übersetzung inmitten der trüben Wiener Welt« überhaupt abgebe.⁸ Nach den Kriegs- und Revolutionswirren herrschte dort Hunger und Elend. Kafka erfuhr erst später, dass sich Milena, die von ihrem Ehemann, dem Publizisten und Bankbeamten Ernst Polak kein Geld in die Hand bekam, damals zeitweise als Kofferträgerin am Westbahnhof verdingte.

Als er einen Teil der Übersetzung bekommen hatte, wiederholte er, es sei ihm »unbegreiflich, dass Sie diese große Mühe auf sich genommen haben, und tief rührend, mit welcher Treue Sie es getan haben, Sätzchen auf und ab, einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, was ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch?« Gern wolle er ihr beweisen, dass es sich um eine »abgründig schlechte Geschichte« handele. »Dass Sie die Geschichte gern haben, gibt ihr natürlich Wert. (…) Gewiss verstehe ich tschechisch.« Um der geliebten Frau näherzukommen, folgt: »Schon einige Mal wollte ich Sie fragen, warum Sie nicht mal tschechisch schreiben. Nicht etwa deshalb, weil sie das Deutsche nicht beherrschten. Sie beherrschen es meistens erstaunlich und wenn Sie es einmal nicht beherrschen, beugt es sich vor Ihnen freiwillig, das ist dann besonders schön; das wagt nämlich ein Deutscher von seiner Sprache gar nicht zu schreiben. Aber tschechisch wollte ich von Ihnen lesen, weil sie ihm doch angehören, weil doch nur dort die ganze Milena ist (die Übersetzung bestätigt es), hier doch immerhin nur die aus Wien oder die auf Wien sich vorbereitende. Also tschechisch.«⁹ Milenas nun tschechisch geschriebene Briefe an ihn zerreißen »manche Unsicherheiten, ich sehe Sie deutlicher, die Bewegungen des Körpers, der Hände, so schnell, so entschlossen«.¹⁰

Während sie zunächst ablehnte, ihm ihre Feuilletons zugänglich zu machen, die sie, zum Teil unter Pseudonym, in Tribuna und Národni Listy veröffentlichte, bat er eindringlich darum: »Mögen sie schäbig sein, Sie haben sich auch durch die Schäbigkeit der Geschichte durchgelesen, bis wohin?«¹¹ Kafka war regelrecht vernarrt in ihre Feuilletons und Artikel – und das sogar, wenn es sich um Berichte von Modenschauen handelte. Er bewunderte ihr Schreiben, in dem sie nicht nur beträchtliches Bildungskapital mit ihren persönlichen Haltungen zu verbinden verstand. Aber sie sah in Neuerungen der Moderne mehr positive Potentiale als er. Wenige Jahre später wird sie eine profilierte Vertreterin der funktionalistischen Avantgarde der Tschechoslowakei sein.

Bald war der von ihrer Übersetzung sehr angetane Kafka überzeugt: »Alles, was Sie mit den (seinen, S. K.) Büchern und Übersetzungen tun werden, wird richtig sein, schade dass sie mir nicht wertvoller sind, damit die Übergabe in Ihre Hände das Vertrauen, das ich zu Ihnen habe, wirklich ausdrückte.«¹² Und da sie ihn um Durchsicht ihrer »Heizer«-Übersetzung bat, kündigte er nur wenige Anmerkungen an, »seitenlang gar nichts, die wie selbstverständliche Wahrheit der Übersetzung ist mir, wenn ich das Selbstverständliche von mir abschüttle, immer wieder erstaunlich, kaum ein Missverständnis, (…) aber immer kräftiges und entschlossenes Verstehen. Nur weiß ich nicht, ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist (nicht einmal der Geschichte wegen sondern meinetwegen), vorwerfen; mein tschechisches Sprachgefühl, ich habe auch eines, ist voll befriedigt, aber es ist äußerst voreingenommen. Jedenfalls, wenn es Ihnen jemand vorwerfen sollte, suchen Sie die Kränkung mit meiner Dankbarkeit auszugleichen!«¹³

Außer vom »Heizer« fertigte Milena auch die ersten tschechischen Übersetzungen von »Das Urteil«, »Die Verwandlung« und »Betrachtung« an, die in den Zeitschriften Tribuna und Kmen erschienen. Nach der Publikation der »Verwandlung« sprach er in befremdlicher Weise von seinem »Aufsatz«, der in Milenas Übersetzung »viel besser als im Deutschen« sei, »Löcher hat er allerdings noch immer oder vielmehr man geht in ihm wie in einem Sumpf, jedes Fuß-herausziehen ist so schwer. Letzthin sagte mir ein Tribuna-Leser, ich müßte große Studien im Irrenhaus gemacht haben. ›Nur im eigenen‹ sagte ich, worauf er mir noch Komplimente wegen des ›eigenen Irrenhauses‹ zu machen suchte. (Zwei, drei kleine Missverständnisse sind in der Übersetzung.)«¹⁴

Am 29. Mai 1920 schrieb er, dass er »zu Ihrem Schreiben fast so viel Vertrauen wie zu Ihnen selbst« habe. »Ich kenne (bei meiner geringen Kenntnis) im Tschechischen nur eine Sprachmusik, die der Božena Němcová, hier ist eine andere Musik, aber jener verwandt an Entschlossenheit, Leidenschaft, Lieblichkeit und vor allem einer hellsichtigen Klugheit.« Diese Bemerkung belebte offenbar auch Milenas Interesse an »Babička«, denn sie bat Kafka, ihr ein Exemplar nach Wien zu schicken.¹⁵

Auf Distanz zur Republik

Dass seine Kenntnis des Tschechischen nicht so gering war, wie er ab und zu behauptete, zeigte sich daran, dass er immer wieder Formulierungen aus Milenas Briefen zitierte und zerpflückte. Am Erstaunlichsten scheint, dass ihm seine Erzählungen in ihrer tschechischen Übersetzung besser gefielen als im eigenen Original. Dieser bei beiden quasi symbiotische Wunsch kultureller Verschmelzung erklärt sich nicht allein aus der fast nur als Korrespondenz gelebten Liebesbeziehung, sondern auch aus Erwartungen an die neue tschechoslowakische Republik, so gering sie auf seiten des bereits todkranken Kafka auch waren. Milena stammte aus einer altprotestantischen böhmischen Patrizierfamilie. Einer ihrer fernen Vorfahren war 1620 nach der Schlacht am Weißen Berge von den Habsburgern hingerichtet worden.¹⁶

Ihrer Machtbasis beraubt, blieben die Nachfahren des tschechischen Adels volksverbunden und gehörten zu den treibenden Kräften der Nationalbewegung, die 1918 in die Republik mündete. Entgegen dem in vielen der neuen Nationalstaaten und auch in der jungen Tschechoslowakei aufbrandenden Antisemitismus schloss Milena auch die Juden in ihren Nationenbegriff ein. Gegen den Willen ihres Vaters hatte sie mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Juden Polak geheiratet und verstrickte sich nun erneut in ein Liebesverhältnis zu einem anderen Juden. Dass ihr rassistische Zuordnungen völlig fremd waren, zeigte sich an Kafkas Erstaunen über ihre Frage: »Jeste žid?« – Bist du Jude? Sähe sie, als Pragerin, nicht schon allein in der Frage, »wie in ›Jeste‹ die Faust zurückgezogen wird, um Muskelkraft anzusammeln? Und dann im ›žid‹ den freudigen, unfehlbaren, vorwärts fliegenden Stoß? Solche Nebenwirkungen hat für das deutsche Ohr die tschechische Sprache öfters.«¹⁷ Wenig später bekräftigt er: »Dein Tschechisch verstehe ich sehr gut, hör auch das Lachen, aber ich wühle mich ja in Deine Briefe noch zwischen Wort und Lachen.« Und seine Bemerkung zur »Judenfrage« sei nur »ein dummer Spaß gewesen«.¹⁸

Der die Anfänge des tschechoslowakischen Nationalstaats begleitende Antisemitismus richtete sich natürlich besonders stark gegen sozial aufgestiegene deutschsprachige Juden – ein Grund, weshalb Kafka immer mal wieder mit dem Gedanken an Auswanderung spielte.¹⁹ Immerhin hatte er persönlich von seiten der ab 1918 dem tschechoslowakischen Staat unterstehenden AUV eine »republikanische« Wertschätzung erfahren. Nicht nur, weil er als begnadeter »Concipist« und Jurist geschätzt wurde und einen Teil seiner Amtsaufgaben auch tschechisch bewältigte, sondern auch, weil er nie eine deutsch-nationalistische Haltung an den Tag gelegt hatte, gehörte er zu den wenigen »Deutschen«, die 1918 nicht entlassen wurden.²⁰

Obwohl er wenig später seine Bemerkung zu »Jeste žid?« nur als Spaß verstanden wissen wollte, bleibt eine misstrauische Distanz zu konstatieren, mit der er die neue Republik betrachtete – bei allem Respekt, den er ihr zollte, weil sich in ihr endlich die Mehrheiten repräsentiert fühlten. Anlässlich des 14. Juli, den die Republik zum tschechoslowakischen Nationalfeiertag erklärt hatte, schrieb er Milena: »Es ist französischer Nationalfeiertag, die Truppen marschieren unten von der Parade nachhause. Es hat – das fühle ich, in Deinen Briefen atmend – etwas Großartiges. Nicht die Pracht, nicht die Musik, nicht das Marschieren; nicht der alte, aus einem (deutschen) Panoptikum entsprungene Franzose in roter Hose, blauem Rock, der vor einer Abteilung marschiert, sondern irgendeine Manifestation von Kräften, die aus der Tiefe rufen: ›trotzdem, ihr stummen, geschobenen, marschierenden, bis zur Wildheit vertrauensvollen Menschen, trotzdem werden wir euch nicht verlassen, auch in euren größten Dummheiten nicht und besonders in ihnen nicht‹. Und man schaut mit geschlossenen Augen in jene Tiefen und versinkt fast in Dir.«²¹

Die Auflösung des Habsburgischen Reichs brachte es mit sich, dass die neu entstandenen Grenzen nur für Menschen mit gültigem Pass überschreitbar waren. Neben den Selbstzweifeln Kafkas war das ein Grund, weshalb reale Begegnungen mit Milena sehr erschwert wurden.

Die anonyme Macht

In der Zeit des Briefwechsels, die auch eine Zeit der Rückbesinnung auf Božena Němcová war, schrieb Kafka am Roman »Das Schloss«. Schon Max Brod hat auf strukturelle Verwandtschaft zu Němcovás »Babička« hingewiesen, obwohl das »ein idyllischer Roman von herzenszarter Einfachheit« war.²² Auch bei Němcová gibt es diesen unüberbrückbaren Gegensatz von Dorf und Schloss, und auch hier stehen zwischen den Dörflern und der Herrschaft im Schloss Beamte, Diener und Bürokraten, die den Menschen das Leben schwer machen, besonders den Frauen, denen gegenüber sie sexuell übergriffig sind. Die Schlossherrin ist allerdings eine idealisierte, aufgeklärte Fürstin, die sich für das Leben der Dörfler interessiert, helfen will, persönlichen Kontakt sucht und sich sogar von der bäuerlichen Großmutter beraten lässt. Diese – als idealisierter Nationalcharakter zu verstehende – Figur lässt sich vom Luxus der Fürstin und ihres Schlosses nicht beeindrucken, sie sucht und findet in ihr die gerechte Herrschaft. Babička lehnt sogar das von der Fürstin angebotene, ihr fremde Essen höflich ab. Bei Němcová, die so weit Realistin war, kein allumfassendes Happyend zu konstruieren, kommt die Fürstin gegen ihren eigenen, aus dem ganzen Habsburgischen Reich zusammengewürfeltem Hofstaat letztlich nicht an, sie kann ihn nicht kontrollieren.

Ähnliche Macht maßen sich die ebenfalls aus allen Provinzen der k. u. k Monarchie stammenden Verwalter von Kafkas »Schloss« an. Der Schlossherr selbst ist allerdings unerreichbar – wie eine unfassbare anonyme Macht. Deren Verwalter missbrauchen ihre Macht nicht nur gegenüber den Dörflern, die sich an ihre Lage gewöhnt zu haben scheinen, sondern vor allem gegen den Landvermesser – einen Abgesandten des modernen Staates, der für die feudalen Residuen eine besondere Herausforderung darstellt. Kafka hat sich hier in eine Tradition der tschechischen Nationalbewegung gestellt und sie bis in die Verhältnisse seiner Gegenwart fortgeschrieben.

Auf Grund der schweren physischen und psychischen Leiden Kafkas ebbte die auch wegen der räumlichen Entfernung schwer zu realisierende Liebesbeziehung zu Milena Jesenská 1921 ab. Er starb drei Jahre später. Jesenská lebte ab 1925 als erfolgreiche Journalistin wieder in Prag. Sie trat in die Kommunistischen Partei ein, ging aber wegen ihrer kritischen Haltung zur Sowjetunion auf Distanz zu ihr. Weil sie während der deutschen Besetzung Antifaschisten und Juden zur Flucht verhalf, wurde sie 1939 verhaftet. Mangels Beweisen freigesprochen, wurde sie jedoch ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt, wo sie 1944 starb.

Anmerkungen

1 František Kautman: Franz Kafka und die tschechische Literatur. In: Franz Kafka aus Prager Sicht (Materialien der internationalen Kafka-Konferenz, die 1963 im Schloss Liblice bei Prag stattfand), Prag 1966, S. 63

2 Franz Kafka: Briefe an Milena, Frankfurt am Main/Hamburg 1970, S. 15

3 Kafka an Max Brod, Ende Juli 1922, zit. n. ders.: Über das Schreiben, hg. v. Erich Heller und Joachim Berg, Frankfurt am Main 1983, S. 101

4 Klaus Hermsdorf: Arbeit und Amt als Erfahrung und Gestaltung. In: Ders.: Franz Kafka: Amtliche Schriften, Berlin 1984, S. 65

5 Zit. n. Hans Dieter Zimmermann: Franz Kafka liest Božena Němcová. In: Božena Němcová: Mich zwingt nichts als die Liebe. Briefe, München 2006, S. 7

6 Der bis heute oft im Fernsehen gezeigte Film »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, eine Koproduktion von DDR und ČSSR, beruht auf der Version Němcovás, in der ein weitaus forscheres emanzipiertes Aschenbrödel angelegt und auch die soziale Abgehobenheit der Adeligen deutlicher als bei den Brüdern Grimm hervorgehoben war. Siehe auch: Lubomir Sůva: Der tschechische Himmel liegt in der Hölle. Märchen von Božena Němcová und den Brüdern Grimm im Vergleich, Weimar 2021

7 Zit. n. ebd., S. 7 f.

8 Franz Kafka: Briefe an Milena, a. a. O., S. 6

9 Ebd., S. 9

10 Ebd., S. 15

11 Ebd., S. 9 f.

12 Ebd., S. 15

13 Ebd., S. 14 f.

14 Ebd., S. 125

15 Ebd., S. 187

16 Obwohl die Familie Jesensky sicherlich zwangskatholisiert war, lebte der Protestantismus als Element des nationalen Widerstands in Milena Jesenská fort. Das zeigt ein Brief an ihre Lehrerin Albina Honzáková vom 10. Oktober 1914, in dem sie von ihrer Begeisterung für die Frühprotestanten Jan Hus und John Wiclef schrieb. In: Die Briefe von Milena, hrsg. v. Alena Wagnerová, Frankfurt am Main 1999, S. 23 f.

17 Franz Kafka: Briefe an Milena, a. a. O., S.36

18 Ebenda, S. 53

19 Dafür kam nicht nur Palästina in Frage. Wie die Erzählung »Schakale und Araber« belegt, war sich Kafka sehr bewusst, dass Juden auch dort nicht willkommen waren. Als Zufluchtsort erschien ihm schließlich Berlin, wohin er in seinem letzten Lebensjahr zog, im August 1923.

20 Rainer Stach in der »Langen Nacht« über Kafka vom 2. zum 3. Juni 2023 im Deutschlandfunk. Stach hat auch die zur Zeit aktuellste Biographie Kafkas vorgelegt.

21 Franz Kafka: Briefe an Milena, a. a. O., S. 79

22 Max Brod: Über Franz Kafka, Frankfurt am Main, 1974, S. 371

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Mai über die Auseinandersetzung um die Ausstellung »Al Nakba«.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Slawa Ukraini! Herzlich Willkommen! Begrüßung deutscher Soldaten...
    19.05.2023

    »Stoßrichtung Ukraine« – zweiter Versuch

    Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg rückte für den deutschen Imperialismus der Kampf gegen die Sowjetunion an die erste Stelle. Der ukrainische Nationalismus erhielt dabei einen höheren Stellenwert. Eine Literaturstudie (Teil II)
  • Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Zweite Polnische Repub...
    04.07.2022

    Doppelbödiger Journalismus

    Die Artikel der sowjetischen Agentin Ilse Stöbe zeigen, wie eine falsche Minderheitenpolitik Hitlers Kriegspläne stützte
  • Der britische Premier Arthur Neville Chamberlain und sein franzö...
    29.09.2018

    Erpresst und ausgeliefert

    Vor 80 Jahren ermöglichten Frankreich, Großbritannien und Italien Nazideutschland die Annexion der Sudetengebiete. Das war der erste Schritt zur Unterwerfung der gesamten Tschechoslowakei