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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Lyrik

Vom Blues der Apokalypse

Zwei Entdeckungen in der lyrischen Steppe zwischen Nürnberg und Wien
Von Kai Pohl
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»Die Angst / Ein streunender Hund« – Fabian Lenthe

Das Buch legt sich mit heiterem Einband leicht in die Hand, könnte man meinen: eine Seilbahn, in der fröhliche Leute eine entspannte Zeit verbringen – nur, wohin fährt sie, woher kommt sie? Das angenehme Anfangsgefühl weicht einer unruhigen Stimmung, die aufkommt beim Hineinlesen in die fünf Dutzend Gedichte auf den gut einhundert Seiten und verbindet sich mit dem Umschlagbild des österreichischen Grafikers Helmut Pokornig sowie dem Buchtitel »Kafkas Reisen« zu der Ahnung, dass es nur der schöne Schein ist, der aber trügt. In echt entfaltet sich der Gedichtkanon des Bandes der beiden Wiener Beatpoeten Wolfgang Sysak und Gerhard Vladar von Anfang an wie ein permanenter Schlussakkord aus einem fulminanten Namedropping, zahllosen Ex- und Rilke-Engeln, Warpkernbrüchen, alten U-Boot-Dieseln, Voodoo-Priestern, religiösen und bildungsbürgerlich-kulturellen sowie kosmologischen Anspielungen auf alles Mögliche in den wildesten Verästelungen und Querverbindungen, eine »Nebelwelt aus Denkvorgängen«, die in einem Stakkato aus englischer, hochdeutscher und wienerischer Sprache vorgebracht wird, völlig unbekümmert ob der Willkür ihrer Wortzusammenkünfte; ein »antiorganisches karma oder ägyptische blutschuld für anfänger«.

Zu all dem gesellt sich noch etwas anderes, ein stark tönendes Motiv, das sich aus den sparsamen Informationen des Klappentextes erahnen lässt: Hier wird »sms free lyrik schach« gespielt, wobei der eine Autor zu Tarantula neigt, der andere zu Disraeli Gears – was zusammengedacht ein Sahnehäubchen der Versponnenheit ergibt, das von einem klaren, kräftigen Blues durchzogen wird, der als »blueszug« startet, dann als one half blues »in der zarathustraschleife« wieder zum Vorschein kommt, um anschließend als »Brixton blues«, »BLACK CAT BLUES«, »BLUESOPHON«, »HYPER­SPACEBLUES« oder »bluesroboter« noch mehrmals die Gestalt zu wechseln auf dieser Reise, die, aus dem Nichts kommend, wiederum ins Nichts führt; »der blues ist alles / was funktioniert«, oder, wie der ersten Zeile des ersten Gedichts im Buch, astral weeks forever, zu entnehmen ist: »the blues is here to stay«. Und so flitzt er durch die Gehörgänge in unserer europäisch-transatlantischen Käseglocke, unserem »Hausuniversum«; der Blues kichert sich eins zu der irgendwie an sich selbst irre gewordenen Geopolitik, er streicht um die »militärbasen tempel und / zuckerwatte an den knotenpunkten / des bewusstseinsnetzes um / den planeten«; die Experten von gegenüber sind völlig durchgeknallt, darum »vereinigen sich die proletarier / zu einer kommune«, Lou Reed macht die Tür zu und »die braunen rechtdenker … reisen / mit dem blues­zug / in den föhrenwald« und »fälschen … die geschichtsbücher«.

Es ist aufregend nachzulesen, wie der anschwellende Schrottpegel des Zeitgeistes sich in dieser Lyrik, die den Wahn reflektiert, ausbreitet und wie sie mit ihm spielt, in einer launigen Partie zwischen Horror und Schönheit, wobei niemals klar ist, welches Textstück von welchem Dichter beigesteuert wurde, so als trieben sie »aus verschiedenen richtungen / … stollen in den berg … die einander / vorsätzlich verfehlen«.

Spätestens hier kommt die Vermutung auf, dass »von allem was man sagt … man das gegenteil behaupten (könnte) / und es wäre noch immer falsch«. Diese skeptische Äußerung aus »Kafkas Reisen« trifft so ziemlich den Kern der Lyrik von Fabian Lenthe, nachprüfbar in seinem Gedichtband »Streichhölzer« aus dem XS-Verlag. In diesen durchweg titel- und reimlosen Versen ist die Sprache reduziert auf wenige Worte, kurze Zeilen, prägnante Äußerungen zum Alltagsgeschehen; auch hier liegen Horror & Schönheit dicht beieinander: »Ein Kadaver am Straßenrand / Schnabel und Federn / Und etwas später ein Stück Papier / Darauf stand nicht mal ein Name.«

Franz Kafka war Raucher und soll bevorzugt Streichhölzer verwendet haben. Dass dies eine gute Idee ist, darum geht es auch im titelgebenden Gedicht des Buches von Fabian Lenthe auf Seite 80: »Du hattest mir / Streichhölzer versprochen / Du sagtest / Dass es wichtig sei / Immer welche / Bei sich zu haben / Dass man / Im Notfall / Immer etwas / Anzünden könnte.« Ausweglosigkeit, Alleinsein, keine Illusionen haben – »Die Angst / Ein streunender Hund« – solche Stimmungslagen ziehen sich durch die Zeilen, und es ist ziemlich egal, an welcher Stelle man das Buch aufschlägt und zu lesen beginnt, man landet immer sanft und sicher in einem Flow aus Ereignissen und Betrachtungen, die man leicht wiedererkennt, obwohl man sie genau so noch nie angestellt hat. »Bevor ich mich dazu entschließen konnte / Vor die Tür zu gehen / Musste ich zuhause / Auf das Unglück warten«. Schlaglichtartig wie Streichhölzer sorgen diese äußerst verknappten Gedichte für kurze, helle Momente. »Vermutlich / Habe ich / Dieselben Dinge gesehen / Wie du.« Überhaupt, wer ist dieses Du, das immer anwesend scheint und mit dem der Autor in stillem gedanklichem Dialog steht? Gewidmet ist das Buch einer Vera, die nur 31 Jahre alt wurde, und beschrieben wird es im Einleitungstext als eine »Geschichte vom Ende der Liebe«. Im Forum für autonome Poesie »Signaturen« finden sich vier kurze Texte von Fabian Lenthe mit dem Titel »Alle Gedichte sind Vera Freytag gewidmet«. Um diese Vera handelt es sich offenbar in der Widmung der »Streichhölzer«-»Geschichte«. Vera Freytag hatte musikalisches und schriftstellerisches Talent und äußerte einst in ihrem weitläufigen sozialen Netzwerk, ein Jahr vor ihrem Freitod: »Es ist so unfassbar schwer, seinen Platz in dieser verrotteten Welt zu finden.«

Von den Schwierigkeiten dieser Suche handeln Lenthes Verse: »Draußen ein Vulkan / Oder drinnen / Drei Uhr nachmittags / Apokalypse und Gedichte / Bewaffnet mit Bierdosen und Pumpguns / Auf dem Boden / Worthülsen und Erbrochenes / Im Perser / Ein Brandloch / In der Form / Eines Brandlochs / Hier brauchst du dir / Nichts vorzustellen / Dinge sind Dinge / Ein Tisch und ein Stuhl / Ich wünschte / Alle Hunde in der Gegend / Würden auf mein Kommando hören.«

Wolfgang Sysak/Gerhard Vladar: Kafkas Reisen. Gedichte, Moloko Print, Pretzien 2023, 105 Seiten, 15 Euro

Fabian Lenthe: Streichhölzer. Gedichte, XS-Verlag, Berlin 2024, 96 Seiten, 18 Euro

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