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Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Naher Osten

Gemeinsam über die Prozenthürde

Neues Mitte-links-Bündnis in Israel: Awoda und Meretz vor dem Zusammenschluss
Von Knut Mellenthin
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Soll die israelische Linke aus der Bedeutungslosigkeit führen: Der Militärkommandant Jair Golan (Beer Sheva, 24.2.2024)

Es stand schon mal besser um die israelische Linke. Vor dem Hintergrund des Kriegs gegen die Bevölkerung von Gaza, einer innenpolitischen Dauerkrise und der Forderung nach Neuwahlen wollen Israels traditionelle Arbeitspartei Awoda und der etwas weiter links stehende Meretz ihre Kräfte vereinen. Der Ankündigung des Vorhabens durch beide Parteiführungen am 30. Juni folgte am Freitag vergangener Woche die Bestätigung durch eine gemeinsame Konferenz beider Organisationen mit mehreren hundert Delegierten. Die neue Partei soll »Die Demokraten« heißen. Bis einheitliche Strukturen auf allen Ebenen geschaffen und stabilisiert sind, wird aber wahrscheinlich noch einige Zeit vergehen. Verluste auf diesem Weg oder sogar ein Scheitern der geplanten Vereinigung sind durchaus denkbar.

Gründen und Wiederauflösen von Wahllisten und taktischen Zweckbündnissen sind in Israel normale, alltägliche Vorgänge. Oft dienen sie einfach dazu, gemeinsam die 3,25-Prozent-Barriere für den Einzug ins Parlament, die Knesset, zu meistern. Wohin die Schritte letztlich führen, ist zumeist nicht von vornherein zu erkennen. Die Arbeitspartei und Meretz sind selbst schon, ebenso übrigens wie die rechte Partei Likud, aus solchen Zusammenschlüssen entstanden.

Eine gemeinsame Liste von Awoda und Meretz, zu der außerdem die kleine liberale Partei Gescher – eine Abspaltung von der extrem rechten Partei Jisrael Beitenu – hinzustieß, gab es bereits vor zwei Jahren: Unter dem Namen Emet (»Wahrheit«) war sie im Vorfeld der Wahl zur 23. Knesset gegründet worden und kam am Wahltag, dem 2. März 2020, auf 5,83 Prozent und sieben Mandate. Die Verbindung wurde im April 2020 wieder aufgelöst.

Mit Blick auf diesen Vorausgang heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Führungen von Awoda und Meretz, die am 30. Juni veröffentlicht wurde: »Anders als in der Vergangenheit handelt es sich diesmal nicht um einen ›technischen Block‹« – also nicht nur um einen wahltaktischen Schachzug –, »sondern um einen historischen Schritt, der endlich eine große und vereinigte Partei schafft, eine liberal-demokratische zionistische Partei, die als politische Heimat für eine breite Öffentlichkeit dienen wird«. Die neue Formation werde »Heimat aller Kräfte sein, die in den vergangenen Jahren für die Demokratie und für das Ansehen Israels gekämpft haben: Protestorganisationen (…), die Zivilgesellschaft, Jugendbewegungen (…), Reservistenvereinigungen, die für gleiche Verteilung der Lasten kämpfen«. Gemeint ist damit vor allem die Einbeziehung orthodoxer Jugendlicher in die Wehrpflicht. Der Zusammenschluss all dieser Kräfte sei »ein notwendiger Schritt zum Aufbau einer breiten und starken demokratischen Basis, der zur Ablösung der extrem rechtslastigen Regierung unter Leitung Benjamin Netanjahus führen wird«.

Man kann diese anspruchsvolle Absichtserklärung wohl am besten vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage verstehen: Die Opposition gegen Benjamin Netanjahu wird von Politikern geführt und repräsentiert, die ebenfalls zum rechten Spektrum gehören und einmal selbst dem Likud angehörten oder Schlüsselpositionen in Koalitionsregierungen innehatten, an deren Spitze der Premier stand. Eine Ausnahme ist, abgesehen von den arabischen Parteien, nur Jair Lapid, Chef der liberal-zentristischen Jesch Atid (»Es gibt eine Zukunft«). Seine Partei stellt in der aktuellen Knesset 24 der 120 Abgeordneten, würde aber jüngsten Prognosen zufolge bei Neuwahlen nur noch 13–15 Mandate holen. Arbeitspartei und Meretz befinden sich am Tiefpunkt ihrer Geschichte. Bei der Wahl am 1. November 2022 bekamen sie zusammengerechnet 6,85 Prozent der Stimmen. Die Arbeitspartei hat nun nur noch vier statt vorher sieben Abgeordnete, Meretz schaffte den Einzug in die Knesset nicht. Erste Prognosen nach der Ankündigung des Zusammenschlusses sehen »Die Demokraten« im Fall von Neuwahlen bei acht bis zehn Mandaten.

Der Abstieg ist besonders für die Awoda – diesen Namen führt sie erst nach dem Zusammenschluss mit kleineren Parteien seit Januar 1968 – schmerzlich. Als Teil der internationalen Sozialdemokratie stand sie nach der Staatsgründung 1948 fast drei Jahrzehnte lang in »Regierungsverantwortung«, die 1977 zum ersten Mal an den Likud überging. Immerhin erhielt die damalige sozialdemokratische Wahlliste aber noch 24,6 Prozent der Stimmen und gewann 32 Knesset-Mandate. Ihren vorerst letzten Regierungschef stellte die Arbeitspartei zwischen Juli 1999 und März 2001 mit Ehud Barak.

»Die Demokraten« werden in nächster Zeit zwei immer noch separate Organisationen unter einem gemeinsamen Namen bleiben. Einer der Gründe: Meretz hat einen hohen Schuldenberg bei Wahlkämpfen angehäuft. Diesen soll die Partei allein bezahlen. Die getrennten Strukturen beider Parteien in einigen Bereichen, zum Beispiel in den Gewerkschaften, bleiben zunächst erhalten. In anderen Bereichen, etwa den kommunalen Verwaltungen, sollen sie allmählich zusammengeführt werden. Falls es zu Neuwahlen käme, würde jeder vierte Listenplatz Meretz-Kandidaten vorbehalten bleiben. Das erscheint angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Parteien bei den vorausgegangenen Wahlen ungerecht gegenüber Meretz und wird vielleicht für Streit sorgen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden »Die Demokraten« dann parteilosen Politikern wie der früheren Justiz- und Außenministerin Tzipi Livni sichere Listenplätze anbieten.

Hintergrund: Vom Militär in die Politik

An der Spitze der neugegründeten Partei »Die Demokraten« steht mit einer klar erkennbaren Ausnahmeposition der 62jährige Jair Golan, der als charismatische Figur gilt und sich als früherer stellvertretender Generalstabschef der Streitkräfte (IDF) auch Teilen der israelischen Gesellschaft empfiehlt, die Meretz und Awoda politisch weniger nahe stehen.

Politiker mit hochrangiger militärischer Vergangenheit sind in Israel eine gängige Erscheinung. Golan kann in seiner Biographie immerhin darauf verweisen, dass er – Sohn eines Vaters aus Deutschland und einer Mutter aus der Ukraine – schon als Heranwachsender Aktivist der linkssozialdemokratischen Organisation »Arbeitende und Studierende Jugend« war. Doch danach folgte eine lange Pause von der Politik. 1980 zog man ihn zu den IDF ein, wo er eine Laufbahn nahm, die ihn schließlich über die Leitung des Heimatfrontkommandos und des Nordfrontkommandos im Dezember 2014 auf den Posten des stellvertretenden Generalstabschefs führte. Er hätte – wenn man seiner eigenen Erzählung folgt – auch noch Generalstabschef werden können, wenn er nicht 2016 in einer Rede zum Holocaust-Gedenktag gewisse negative Trends in der israelischen Gesellschaft mit Vorgängen im Deutschland der 1930er Jahre verglichen hätte.

2019 ging Golan in die Politik: zunächst als Kandidat einer von Ehud Barak geführten Listenverbindung namens »Demokratische Partei«, dann zweimal als Knesset-Abgeordneter der linken Partei Meretz. Im Februar dieses Jahres bekundete er öffentlich sein Interesse, die Führung der Arbeitspartei zu übernehmen. Die Wahl, an der sich rund 60 Prozent der Mitglieder beteiligten, gewann er im Mai überzeugend mit 95 Prozent der Stimmen. Für die meisten war offenbar ausschlaggebend, dass ihm zugetraut wird, die Partei nach personellen Experimenten aus der Misere und als Teil des neuen Zusammenschlusses zu früherer Größe zurückzuführen. (km)

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