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Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 7 / Ausland
Krieg gegen Gaza

Traumata und Panikattacken

Neue Studie zu Kriegsfolgen in Gaza: »alarmierend hohe Rate« psychischer Störungen. Besonders Frauen und Kinder betroffen
Von Jakob Reimann
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Wenn sie überleben, werden die psychischen Folgen des Krieges dauerhaft sein (Nuseirat, 17.7.2024)

Neun Monate des israelischen Vernichtungskriegs in Gaza haben zu einer »alarmierend hohen Rate« an psychischen Störungen unter den Menschen in der abgeriegelten Küstenenklave geführt, insbesondere Frauen und Kinder sind betroffen. Dies zeige sich in verschiedenen Formen oft schwerster Traumata, Angstzuständen, Depressionen, Wutanfällen und einer Vielzahl anderer Störungen, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht einer palästinensischen Gesundheitsorganisation. Demnach habe der anhaltende Krieg Israels zu einer »beispiellosen Krise der mentalen Gesundheit« geführt, die noch »über Generationen hinweg bestehen« bleiben könnte. Doch: »Psychische Gesundheit ist ein Menschenrecht«, stellt das Gaza Community Mental Health Programme (GCMHP) unmissverständlich klar.

Das GCMHP ist die führende palästinensische Nichtregierungsorganisation zur Bereitstellung psychischer Gesundheitsdienste für die Menschen in Gaza. Kinder, die nach Ende der zweiten Intifada 2005 in Gaza geboren wurden, durchleben aktuell den fünften großen Krieg in ihrem Leben, zusätzlich zu zahlreichen kleineren Angriffswellen. Sie »leben in einer endlosen Tragödie«, heißt es daher beim GCMHP. »Die meisten Kinder in Gaza leiden unter Angstzuständen und Dysphorie, Schlafmangel und zeigen andere Anzeichen von Stress, wie ständiges Zittern und Bettnässen«, heißt es im Bericht. Viele würden Schlafwandeln, litten unter erhöhter »Empfindlichkeit und Reizbarkeit« oder wiesen Anzeichen »exzessiver Nervosität« auf. Aufgrund der anhaltenden Extremsituation des Krieges könnten diese psychischen Reaktionen »langanhaltende Auswirkungen haben«.

Vor allem für Kinder, aber auch für Erwachsene, wirkt der Lärm einschlagender Bomben und das permanente Surren der Kampfdrohnen oft retraumatisierend, was sich insbesondere durch »Angst- und Panikattacken« bei Einschlägen und ähnlichen Geräuschen äußere. Viele litten unter Schlaflosigkeit, Albträumen und Nachtängsten. Im Bericht wird der Fall eines 13jährigen Kindes beschrieben, das unter »visuellen und auditiven Halluzinationen leidet«, die auf den Krieg und die traumatischen Szenen, die es erlebt hat, zurückzuführen sind. Eine wissenschaftliche Studie der psychologischen Fakultät der Kingston University London ermittelte bereits 2020, dass über 53 Prozent der Kinder in Gaza zwischen elf und 17 Jahren an posttraumatischer Belastungsstörung litten. Neben einer Zunahme suizidaler Gedanken in der Bevölkerung Gazas ist ein weiteres Problem der traumabedingte Anstieg familiärer Gewalt. »Ich stelle mir immer wieder Leichen vor«, erklärt eine 42jährige Mutter aus Al-Mughraqa, sie denke oft an ihren getöteten Sohn, »dessen Eingeweide herauskommen«. Ihr Trauma äußere sich in aggressivem und gewalttätigem Verhalten, was dazu führe, dass sie ohne Anlass anfange zu schreien oder ihre Söhne zu schlagen.

Ende Juni wurde im Stadtviertel Schujaija in Gaza-Stadt das Haus der Familie Bhar von israelischen Soldaten überfallen. Im Zuge der Razzia wurde der Sohn Muhammed getötet. Der 24jährige lebte mit dem Down-Syndrom; »er war wie ein Einjähriger«, sagte seine Mutter Nabila Ahmed gegenüber Middle East Eye. Bei dem Überfall schickten die israelischen Truppen zuerst einen Kampfhund in das Haus, der auf Muhammed sprang. Der Hund biss dem Mann in seine Brust, »dann biss er in seinen Arm und zerfleischte ihn«, beschreibt Mutter Nabila den Angriff. Muhammed sprach nie, doch schrie er nun »Lass los, mein Lieber, Schluss jetzt!« und versuchte, sich zu befreien, »während das Blut in Strömen floss«, erinnert sich die 71jährige. Nach Flehen und Betteln der Mutter nahmen die Soldaten den Hund weg und brachten Muhammed blutüberströmt in ein separates Zimmer. Noch Stunden später hörte die Mutter ihren Sohn nach Wasser schreien, doch durfte sie ihm keines bringen. »Es gibt ein spezielles Wasser für Muhammed«, soll einer der Soldaten gesagt haben. Ein Arzt habe daraufhin das Zimmer betreten, »und Muhammed verstummte plötzlich«. Die Familie wurde gezwungen, in den Westen der Stadt zu gehen, und konnte erst eine Woche später zurückkehren. Der ältere Bruder Dschebril fand im blutverschmierten Zimmer Muhammeds bereits verwesenden Körper.

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