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Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 8 / Inland
Abschiebepraxis

»Er hat 30 Jahre in Deutschland gelebt«

Chemnitzer Ausländerbehörde will Mann nach Serbien abschieben. Vorhaben vorerst gestoppt. Ein Gespräch mit Dave Schmidtke
Interview: Gitta Düperthal
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Protest gegen Menschenfeinde in Sachsen (Chemnitz, 17.2.2023)

Die Abschiebung des 31jährigen Chemnitzers Robert A. nach Serbien wurde in der Nacht zum Montag in letzter Minute vorläufig gestoppt. Der sächsische Innenminister Armin Schuster, CDU, hat beschlossen, dass die Behörden den Fall erneut prüfen sollen. Wie kam es dazu?

Wir erfuhren am Freitag, dass Robert A. bei der Ausländerbehörde in Chemnitz festgenommen wurde. Ursprünglich war es ein normaler Termin. Seine Geburtsurkunde aus Holland sollte endlich anerkannt werden. Dort wurde er unter einem anderem Namen geboren, als seine Eltern 1993 vor dem Jugoslawien-Krieg flohen. Weder Serbien, das Geburtsland seiner Eltern, noch die Niederlande oder Deutschland erkannten ihn als Bürger an. Robert hat keine Staatsangehörigkeit. Die Chemnitzer Grünen-Politikerin Coretta Storz hatte ihn zum Amt begleitet und informierte uns über seine Festnahme. Ich wusste sofort, dass wir jetzt ohne öffentlichen und politischen Druck nicht mehr weiterkommen. Wir informierten die Presse, Menschen aus unserem Netzwerk und starteten eine Petition für ihn. Er war bereits auf dem Weg in den Flieger am Flughafen Frankfurt am Main, als ihn die Nachricht erreichte, dass die Abschiebung abgebrochen wird.

Mehr als 30.000 Menschen unterzeichneten die Petition »Robert bleibt!« innerhalb weniger Tage.

Viele wollen es nicht akzeptieren, dass Menschen ihre Existenzgrundlage entzogen werden soll, die gar nichts für ihr Schicksal können, so wie Robert. Er hat 30 Jahre in Deutschland gelebt. Jetzt soll er in ein Land abgeschoben werden, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht. In Chemnitz machte er seinen Schulabschluss, absolvierte eine Ausbildung. Viele erinnert das an den Fall der Familie Nguyen/Pham, die die Ausländerbehörde Chemnitz im August 2023 mit Abschiebung bedroht hatte. Selbst eine Trennung der Familie wollte sie nicht ausschließen. Auch deren Abschiebung konnte verhindert werden. Die Behörden in Sachsen sollten sich darauf einstellen, dass eine aktive Zivilgesellschaft solche inhumane Abschiebungen nicht hinnehmen will – trotz des Rechtsrucks und der Bedrohung durch extrem Rechte im Landtag in Sachsen.

Was ist Robert A. widerfahren?

Menschen wie Robert mit einer Langzeitduldung werden in ihrer Freiheit extrem eingeschränkt. Keiner seiner Anträge wurde bearbeitet, weder auf Aufenthaltsstatus, noch auf Arbeitsgenehmigung. Dabei hatte er ein Jobangebot. Robert wollte weder von Sozialhilfe leben, noch sein ganzes Leben in einer Geflüchtetenunterkunft verbringen, musste es aber. Ja, er war in der Vergangenheit einige Monate in Untersuchungshaft wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz – was er bereut. Dieses System, das Menschen über Jahre das Arbeiten verbietet, treibt sie geradezu in die erzwungene Alimentierung oder auch in die Illegalität.

Sind es dieselben Personen, die ihn abschieben wollten, die den Fall nun erneut prüfen?

In der Tat, wenn die gleiche Behörde in Chemnitz seinen Antrag erneut prüft, ist das kaum erfolgversprechend. Der Verband der Roma und Sinti Sachsen »Romano Sumnal«, der sich gegen Antiziganismus einsetzt, hat ihm einen Job in Leipzig in der Bildungsarbeit angeboten. Er kann authentisch über seine eigene Lebensgeschichte und die seiner Brüder, die in Serbien leben, berichten. Er weiß, wie Diskriminierung sich auswirken kann. Mit diesem Job könnte er den Zuständigkeitsbereich der Behörde in Chemnitz verlassen, die immer nur eines will: abschieben. Wir warten ab, ob der Innenminister und die ihm unterstellte Landesdirektion Sachsen das restriktive Vorgehen korrigieren. Auch die Härtefallkommission könnte den Fehler bereinigen.

Warum gilt die Chemnitzer Ausländerbehörde als besonders restriktiv?

Sie hat diese Mentalität schon seit den 1990er Jahren. Diese ist weder nur bei AfD-Wählern verbreitet, noch nur in Sachsen. Robert berichtete vom Flughafen Frankfurt am Main, dass Polizisten dort sich beschwert hätten, dass nicht genug Menschen in einen Flieger passen. Die Abschiebeoffensive der Bundesregierung ist in vollem Gange. Wir müssen uns in Einzelfällen mit Empathie entgegenstellen.

Dave Schmidtke ist Sprecher beim Sächsischen Flüchtlingsrat e. V.

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  • Leserbrief von Hans-Jürgen Thiele (18. Juli 2024 um 11:44 Uhr)
    Der letzte Absatz des Textes hätte auch gut an den Anfang gepasst. Diese rigide Mentalität der Ausländerbehörde im Sozialamt Chemnitz kenne ich durch frühere Begleitung von Flüchtlingen. Beim Eintritt aggressive Durchsuchung durch Fremdsecurity, die sowas auch gegen Einheimische mit Gewalt durchsetzen will. Denen ihre Nasen und Zähne halt gegen das Aufreißenwollen meiner Sachen. Innen mir gegenüber zwar maßvoll, waren nur wenige Mitarbeiter sofort lösungsorientiert, selbst bei eindeutigsten Amtsfehlern. Andernfalls Behörden-Kauderwelsch-Abschreckung gegen Ausländer. Selbst Linke-Mitglieder halfen tatkräftig, wie ich später erfuhr.
    Diese Rechtsverstöße interessier(t)en im Rathaus niemanden. Die Vorgängerin des jetzigen OBs setzte nur die lobenswerte Flüchtlingsunterbringung in freien Wohnungen durch. Sie war aber, zu Wendezeiten entsetzt erlebt, DDR-Fakten negierend, politisch erschreckend primitiv. Ihr eigener OB-Vorgänger, ein gewandter DDR-Renegat, baute die krankhaft ehrgeizige Grundschullehrerin zu seiner Nachfolgerin auf. Deren letztes Werk ist die Kulturhauptstadt 2025 in einer unter fünf Prozent deindustrialisierten Stadt. Ohne große Kulturtraditionen als ehemals sächsisches Manchester, zu DDR-Zeiten aber mit enormem Kulturmehrangebot als heute.

    In dieser Suppe köchelte und konzentrierte sich das teils faschistoid zu nennende Personalverhalten nicht nur in der Stadtverwaltung zusammen. Ein Auslöser die pervers rechtsbeugende Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt in Chemnitz mit mehr Stimmen, als es Stimmberechtigte oder Einwohner gab. Die einstige Industriehochburg der DDR zerfiel.
    Die wenigsten Menschen sind bereit, solch fatale Abläufe korrekt zu erkennen und zu durchdenken. Selbst nette und hilfsbereite Leute lassen dann oft Anpassungsaufforderungen oder Anti-Asylanten-Geplärre ab. Die Angst vor irgendwelchen Nachteilen bei eigener Standhaftigkeit ist riesengroß.
    Dass dieser Robert hier bis jetzt überhaupt durchgehalten hat, muss man ihm hoch anrechnen. Nur wird er es mit seinen doch etwas rechtsängstlich wirkenden Unterstützern wohl kaum schaffen. Da gilt wohl eher der Spruch eines ehemaligen KZ-Insassen, in der DDR als »Altkommunist« verfemt. Faschistisch Handelnde, ob dumm, doof oder helle, kannst Du nicht überzeugen und bekehren, frag da mal Psychiater, die müssen weg.
    Justiz und Polizei, so hörte ich schon in den 1960–1970ern von DDR-unfreundlichen Westverwandten meiner Stiefmutter über ihren (!) Staat, sind die mit Abstand kriminellsten Organisationen dort. Ich habs dann am eigenen Leibe erfahren. Beim Robert haben sie faschistisch-wunschgemäß mitgewirkt.
    Da drauf ein paar Fragen: Wer beantragte denn den Haftbefehl mit welcher Begründung und wann, wer genehmigte ihn und wann, wer legte ihn Robert vor, wer vollzog ihn? Hätte er nicht seine ganze Habe verloren? Wer lud Robert übers Anliegen täuschend vor Das zeigt doch die Rechtsbrecher wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Der straffe Rechtsaußen Schuster als Sachsens Innenminister reagierte? Erstauntes Lob für ihn, sowieso für Roberts Helfer.

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