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Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Metal

Aus dem Staub, in den Staub

Das Dazwischen zählt: »All Is Dust« von Neaera
Von Ken Merten
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Brimborium ist ihnen zu blöd: Die Metaller von Neaera auf dem Vainstream-Festival (Münster, 4.7.2015)

Nomen non omen: Mag die Hetäre Neaira die antike Dirne sein, über die wir durch Überlieferungen am meisten wissen, ist und bleibt die nach ihr benannte Band Neaera zur Kenntnis weniger da. Als hätten sie etwas geahnt, debütierten die fünf Münsteraner 2005 fulminant mit »Rising Tide of Oblivion«, bereits damals schon auf einem Ursprungsmythos des Metal, dem 1981 in Kalifornien gegründeten Label Metal Blade Records.

Vergessen kann man aber nur, was man einmal wusste. Neaera haben ein gewisses Publikum, das an den Landesgrenzen der Bundesrepublik so ziemlich seine Grenzen hat. Während andere teutonische Truppen, die der Metalcore um die Jahrtausendwende herum hervorbrachte, durch andere Kontinente als den europäischen tingelten (Heaven Shall Burn, Caliban), »dümpeln« Neaera bei Deutschland-Tourneen im Vorprogramm eben jener rum.

Aber auch die Zeiten sind vorbei: Nach zwischenzeitlicher Auflösung (2015–2018) spielen Neaera nur noch einzelne Shows und bringen ohne viel Vorlauf Alben raus. 2020 erschien ihre Self-Titled-LP, und auch für ihr jüngst erschienenes achtes Studioalbum, »All Is Dust«, wurde zwar mit zwei Vorabsingles vorgeheizt und ein bisschen die Werbetrommel gerührt. Aber während andere Bands sukzessive und strategisch Infos mit wenig Inhalt an die üblichen Szeneportale durchstechen, sobald ein neues Werk in Arbeit ist, ist den älter gewordenen Herren von Neaera derlei Brimborium wohl einfach zu blöd, nur damit im Anschluss zehn Hardcorekids mehr bei Spotify reinhören.

Reich wird man eh nicht mehr in diesem Leben – aus dem Staub, in den Staub. Das Dazwischen aber zählt. Andere tendentiell auf je eigene Weise unkonventionelle Metalcorebands aus Deutschland wie Fear My Thoughts, Maroon und die 2020 für eine EP kurzzeitig zurückgekehrten Jazzcore-Bekloppten War From a Harlots Mouth haben leider längst die Segel gestrichen.

Neaera indessen beglücken die Welt weiter mit einer Auslegung des Metal, wie es sie selten gibt. Ihr Kniff ist so simpel wie brillant und funktioniert ähnlich wie der Umgang der Öffentlichkeit mit Neaera, nur mit glücklicherem Ergebnis: durch Ignoranz. Konkret tun Neaera so, als hätte es die 1990er nicht oder nicht so gegeben, wie es sie nun einmal gab. Damals amalgamierte sich der aus dem Dekade zuvor noch mit Thrash Metal und auch HipHop kokettierende Hardcore mit dem vordringenden Melodic Death Metal und bildete dadurch seine heute noch weitgehend gültige Metalcore-Skala zwischen stark Schwedisiertem (Killswitch Engage) und auf Groove und Sprechgekeife Ausgerichtetem (Emmure) aus.

Neaera passen da nicht drauf, gehören aber unweigerlich zum Metalcore. Ihr Fremdkörperdasein lebt die Band dadurch, dass sie auf hymnischen Klimperkitsch genauso verzichtet wie auf allzu reißerische Grooveerzeugung durch Akkordspiralen. Statt dessen: Blastbeats und Shredding wie er in den 80ern von Bands wie Obituary über die Sümpfe Floridas gefeuert wurde; dazu leicht angedunkelt, als könnten die Schwarzen Löcher, die der Black Metal wenig später von Norwegen aus in die Welt riss, wirklich und ihrem Namen nach abfärben, statt alles in seiner Nähe ins Nichts zu saugen.

Klar, Ausnahmen sind immer: »Walls Instead of Bridges« vom Debüt ist ein zweieinhalb minütiger Wanddurchbruch, der aus perfekter Flapsigkeit besteht, Punk mit metallischen Mitteln. »Synergy« vom 2007er »Armamentarium« erzeugt seinen Effekt durch perpetuierte Formvollendung melodischer Licks, die Vertonung der Fibunacci­schnecke. Und auf »Ours is the Storm« (2013) hilft Nathan Gray von Boysetsfire für »Slaying the Wolf Within« mit seinen Stimmbändern, das innere Tier zu dessen Hinrichtung anzulocken.

Nichts, an dass das Quintett für »All Is Dust« anknüpft. Ausgenommen das entschleunigte Klagelied »In Vain«, haben Neaera ihr Wesen vollends präsentiert: Mit »Antidote to Faith« brettert das Album los, geht vom Andantino mit entsprechender Doppelfußmaschinenbedienung durch Drummer Sebastian Heldt immer wieder ins Allegro. Der vorab veröffentlichte Title track »All Is Dust« hatte bereits angedeutet, dass Neaera an ihre goldene Frühphase anknüpfen und über die kleinen Hänger und nie ganz groben Schnitzer ihres mittleren, mal mit mehr Weichzeichner, mal mit mehr Körnung gefertigten Werks hinwegspringen.

Nicht minder positiv überraschend ist die Leistung von Sänger Benny Hilleke, der sich nun mal kein neues kaufen kann, wenn sein Instrument mit den Jahren lawede wird. Und der Wechsel zwischen Falsett und Growling klappte in der Vergangenheit zwischenzeitlich wirklich nicht mehr so sauber. Aber ­lecko mio: Wie er da bei »All Is Dust« von unten her immer wieder ausholt und ins Charakterkreischen gerät, hat so viel Wucht, dass man sich dabei wünscht, man hätte sich im Studio beim Stapeln mehrerer Tonspuren und mit Halleffekten etwas mehr zurückgehalten.

»Edifier« in der Albummitte ist dann auch die Ansage daran, dass es weitergehen muss: Mit einem sturzbachgleichen Blastbeat geht es in den Song, ein Humpa hinterher, um in die Spur zu kommen, in der angekommen dann Doppelleadgitarren Kreissägen nachahmen. Und am Ende, nach einem kurzen Basssolo von Benjamin Donath, zitiert Hilleke zu dropped Powerchords im Ausmaß seismischer Aktivitäten in vollster, höllengrollender Überzeugung aus William Ernest Henleys Gedicht »Invictus«: »I am the master of my fate / I am the captain of my soul.« Ay, ay!

Neaera: »All is Dust« (Metal Blade Records)

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