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Aus: Ausgabe vom 18.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der Schrecken der Ewigkeit

Vergängliches dem Tod entreißen: Anna Mitgutschs »Unzustellbare Briefe«
Von Werner Jung
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Mitgutsch geht es vor allem darum, anderen Menschen näherzukommen und dergestalt sich selbst, die Schreibende, besser kennenzulernen (Symbolbild)

Man kann das neue Buch der österreichischen Schriftstellerin Anna Mitgutsch auf verschiedene Weise lesen. Einmal als Erzählband, dessen Teile in Briefform an die unterschiedlichsten Adressaten gerichtet sind und dabei nicht zuletzt Porträts dieser Figuren zeichnen. Zum anderen aber als Roman, der – in Maßen autobiographisch – die Entwicklungsgeschichte einer Schriftstellerin erzählt.

Mitgutsch geht es vor allem darum, anderen Menschen näherzukommen und dergestalt sich selbst, die Schreibende, besser kennenzulernen. So werden entlang einer Biographie verschiedene Menschen vorgestellt, die auf ihre jeweilige Art bedeutungsvoll für die Erzählerin gewesen und es teilweise auch geblieben sind. Oft werden sie durchs Aufschreiben überhaupt erst dem Vergessen entrissen. Der Reigen beginnt mit der Großmutter, einer einfachen Landfrau, die »in einem Austragshäusl auf einer Lichtung des Böhmerwaldes« jahrzehntelang eintönig ihr gewöhnliches Leben verbracht hat und von der 40 Jahre nach ihrem Tod nichts mehr geblieben ist: »alles ist ausgelöscht und getilgt, dein Name auf deinem Grab, das Haus, sogar die Tannen in der Lichtung sind längst gefällt.« Es folgen weitere Familienmitglieder, eine Cousine, Jugend- und Studienfreundinnen, das Porträt der vermeintlichen Lieblingslehrerin, verschiedene Männer, nicht zuletzt aus dem akademischen Umfeld, schließlich Lektorinnen und Lektoren, die für die Schriftstellerin wichtig waren.

An einer Stelle ihres eindrucksvollen Textes, im längsten der insgesamt 18 ungeschriebenen Briefe, der an ihren »Mentor«, »Freund« und Lektor gerichtet ist, formuliert Mitgutsch eine zentrale poetologische Einsicht, die all diese Erzählungen (und auch ihre großen Romane) grundiert: »Aber was war denn Schreiben anders, als das Vergängliche dem Tod zu entreißen, ein wenig, mit schwacher Kraft, auch wenn das Geschriebene am Ende vielleicht ebenso zum Sterben verurteilt ist. Aber manches wird als Vermächtnis, zumindest als Zeugnis stehenbleiben.« Vor diesem Hintergrund erschließt sich dem Leser, dass es der Briefschreiberin immer wieder darum zu tun ist, Brüche und Abbrüche, Ende und Verlust von Freundschaften und Beziehungen zu thematisieren. Es geht darum, den »Haarriss einer kaum wahrgenommenen Verstimmung« aufzuspüren: nämlich davon zu erzählen, ohne es zu deuten, zu erklären oder zu interpretieren, und sich selbst schreibend zu beobachten.

Dabei gelingen Anna Mitgutsch solch grandiose Stellen: »Wenn Freunde fortgehen, abrupt und ohne ausreichende Erklärung, bleibt immer eine Frage offen. Sie bohrt, mitunter obsessiv, im Bewusstsein weiter, wühlt in Erinnerungen, wann das Zerwürfnis angefangen und was die Freunde vertrieben haben könnte, bis sie uns irgendwann gleichgültig werden. Aber selbst dann noch geht für eine Weile der stumme Dialog weiter, sie sind immer da, wenn auch nicht für uns. Das bloße Faktum, dass sie am Leben sind, hält die Erwartung aufrecht, dass sie wiederkommen. Und wenn man sich mit der Endgültigkeit abgefunden hat, ist es ein wenig, als sei ein Stück der eigenen Vergangenheit gestorben. So fällt der Schrecken der Ewigkeit auf jenen Teil des Lebens, der aus so vielen kostbaren Augenblicken bestanden hatte.«

Anna Mitgutsch: Unzustellbare Briefe. Erzählungen. Luchterhand-Verlag, München 2024, 320 Seiten, 24 Euro

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