Anschlag auf die Pressefreiheit
Von Nick BraunsEs ist eine Niederlage für die junge Welt, aber auch für die Pressefreiheit im Lande: Das Verwaltungsgericht Berlin hat am Donnerstag in der mündlichen Verhandlung die Klage der Verlag 8. Mai GmbH gegen die Nennung der Tageszeitung in den Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz abgewiesen.
Die junge Welt sei eine marxistisch-kommunistische Tageszeitung und strebe eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft mit Einparteiendiktatur an, unterstellt der Verfassungsschutz der Zeitung. Dies sei »richtig wiedergegeben und eingeordnet«, meinte der Vorsitzende Richter Wilfried Peters. Das Niveau der Beweisfindung hatte sich bereits während der Verhandlung gezeigt, als dieser Richter auf eine Bildmontage auf der jW-Leserbriefseite mit Lenin an seinem Schreibtisch verwies. Die Zeitung sei also nicht nur marxistisch – diese Blattlinie zur Analyse weltweiter Vorgänge hatte Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder offen angeführt –, sondern marxistisch-leninistisch. Und der Marxismus-Leninismus sei nun mal verfassungswidrig, wie im KPD-Verbotsurteil festgeschrieben, argumentierten die Anwälte des Verfassungsschutzes mit diesem Damoklesschwert gegen linke Bestrebungen von 1956. Zwar verwies Verlags-Rechtsanwältin Anja Heinrich darauf, dass laut dem KPD-Verbotsurteil von 1956 Marxismus-Leninismus nur in der von Stalin geprägten Deutung verfassungswidrig sei. Doch der Richter konterte, das Gericht begebe sich nicht in die Binnenlogik des Marxismus, sondern schaue sich nach »bürgerlicher, historischer Logik« die Figur von Lenin an. »Und Lenin ist jemand, der die FDGO in energischster Weise bekämpft, indem er eine Einparteiendiktatur in Russland errichtet hat«, verstieg er sich in absurder Unlogik, schließlich wurde das Konstrukt einer Freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) fast drei Jahrzehnte nach dem Tod des sowjetischen Revolutionsführers vom Bundesverfassungsgericht geprägt. »Wer Lenin sympathisch findet, übernimmt seine Sichtweise«, so die Schlussfolgerung des Gerichts.
Die jW distanziere sich nicht von Gewalt, sondern biete vielmehr Akteuren, die politische Straftaten rechtfertigten, eine Plattform, wurde unter Verweis auf einen – im übrigen selbstkritischen – Beitrag eines ehemaligen RAF-Mitgliedes angeführt. Schließlich sieht auch das Gericht eine personelle Verflechtung von einzelnen Redakteuren und Autoren mit dem »linksextremistischen Spektrum«, insbesondere der DKP. Richtig sei zudem die Einschätzung, die jW sei mehr als ein Informationsmedium, Richter Peters verweist dabei auf die Rosa-Luxemburg-Konferenzen. Es gehe dort nicht nur um Lesergewinnung, sondern auch um die »Überwindung des Kapitalismus« durch Klassenkampf, sieht er auch dort Anhaltspunkt für Bestrebungen gegen die FDGO.
Die Prozesskosten muss der Verlag 8. Mai GmbH tragen. Dies ist bei einem auf 115.000 Euro angesetzten Streitwert keine Kleinigkeit. Auch das erscheint als ein Versuch, der Zeitung den »Nährboden zu entziehen«, wie die Bundesregierung die Nennung der jW im Verfassungsschutzbericht in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage gerechtfertigt hatte.
Das Gericht habe »eins zu eins das krude und dumme Zeug des Verfassungsschutzes übernommen«, empörte sich Dietmar Koschmieder. Es habe allerdings nie die Erwartung bestanden, gleich in der ersten Instanz zu siegen. Zwar hat der Richter mit der Begründung, es handele sich um einen Einzelfall, der keine grundsätzliche Bedeutung hätte, eine Berufung nicht zugelassen. Allerdings wird die junge Welt alle Rechtsmöglichkeiten ausschöpfen. Wenn der Vorwurf des Geheimdienstes laute, die jW schaffe Reichweite und beeinflusse den Meinungsbildungsprozess, dann werden wir das weiter tun, versprach Koschmieder.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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Zeigt doch die Begründung, wieder mal, mit welch schlichtem Geschichtswissen bzw. seinem Verständnis man es in die westliche Elite schafft. Seit 75 Jahren wird im westdeutschen Bildungssystem (ab 1990 nun auch im Übernahmegebiet) das Feindbild Russland latent gepflegt und feiert seit 2022 laute Bestätigung. Nur mit dem Hintergrund ist die Aussage des Richters über Lenins Einparteiendiktatur zu erklären. Den Horror der Zarenherrschaft hat man ihm niemals beschrieben, und somit ist für ihn Lenin wohl ein böser Rebell gegen eine gottgewollte Ordnung, da er keinen Plan für westlich zivilisatorische Mehrparteiensysteme vorlegen wollte. Mit der z. Zt. massiven Militarisierung inklusive Dämonisierung des potentiellen Kriegsgegners Russland hat an der Heimatfront Ruhe zu herrschen ähnlich dem Spruch des Kaisers 1914: »Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.« Mit Corona hat sich das politische Klima bzw der Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen weiter polarisiert. Gewollte Vorgaben und deren Verbreitung in (zu) vielen willfährigen, weil abhängigen, Medien lassen freie Meinungsäußerung vermehrt zur Makulatur werden. Wir fallen in Bezug auf den einstigen Ausgleich Ost/West zum Vorteil aller Staaten z. B. mit florierendem Handel/Wandel in finsterste Zeiten zurück. Ein ehemaliger Außenminister (S. Gabriel, SPD) fordert gar, Russland müsse den Krieg »verlieren so wie wir 45«. Wo sind die älteren Zeitgenossen von Kohl, Brandt, Bahr, die im Weltkrieg ihre Verwandten verloren, um den forschen Nachkriegskindern und nun tüchtigen Kriegern ins Gewissen zu reden ? Es bleibt auf eine Revision inkl. vergrößerter Aufmerksamkeit, auch im Ausland, zu hoffen, um die gepriesene Freiheit gegen ihre, scheinbar dünnhäutig gewordenen, Apologeten zu verteidigen. Wie sagte Max Reimann 1949 bei der Verabschiedung des GG nach seiner Unterschrift: »Wir werden es einst noch gegen Sie verteidigen müssen.«
Mache ich mich strafbar, wenn ich die Ideen von Marx, Engels sowie auch Lenin für richtig bei der Analyse bundesdeutscher Zustände und als Grundlage meiner Gedankengänge in der Öffentlichkeit heranziehe?
Vielleicht wirft ein von einem Berliner Verwaltungsrichter unterstützter Verfassungsschützer eines Tages einen Blick in meine Schreibtischschublade: In dieser liegt doch tatsächlich eine Gedenkmünze zu 5,00 D-Mark zum 100. Todestag (1983) von Karl Marx! Und wer hat sie herausgegeben? Laut Prägung die Bundesrepublik Deutschland!
Daher muss der Widerstand weitergehen! Und es ist nicht nur der Angriff auf Presseagenturen, nein auch bei Demos immer mehr Festnahmen, daher: Es reicht, und wir rufen auf zu einer Demo in Berlin bis Düsseldorf für unsere wahre Pressefreiheit!
Es ist noch ein langer Kampf!
grämt Euch nicht, ist doch irgendwie rührend, wie Richter Peters in der jw den Marxismus-Leninismus wiederentdeckt, den es nirgendwo auf der Welt mehr gibt – nicht einmal mehr im Mutterland des Weltkommunismus. Der Richter hat die weltgeschichtliche Umwälzung der 90er Jahre (zusammenfassend dazu siehe Robert Gernhardts Zeichnung »Nach dem 12. Biere ähneln sich alle Tiere«) halt nicht mitbekommen.
Er mag Eure Zeitung auch nicht. Verständlich, wenn ihm sein Bauchgefühl das sagt, er findet halt andere Sachen lustig als einen zeitunglesenden Lenin über der Leserbriefseite einer Zeitung. Ich persönlich mag zum Beispiel die Verunglimpfung von Personen nicht, wie auf S. 9 das »Dummschwätzer« neben dem Foto von Herrn Lindner auf der jW-Werbung. Unter Eurem Niveau, kein guter Stil, geht Richtung Nancy Faeser und schadet Euch.
Linksextremistisch stimmt ja wohl; ein Pendant zu dem vielfach zu beobachtenden Rechtsextremismus. Aber wird nicht alles extremer heutzutage? Das Wetter, das Klima. Und nicht zu vergessen: Deutschland hatte schon immer eine extreme Mitte, so das Wort eines unserer besten Soziologen.
Grämt Euch also nicht, es ist schließlich eine gute Sache unter dem Schutz der Verfassung zu stehen, das ist wie beim Naturschutz, beim Tierschutz, beim Artenschutz. Obwohl?