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Aus: Ausgabe vom 19.07.2024, Seite 15 / Feminismus
Fußball und Alkohol

Gefährliche Meisterschaften

Anstieg von partnerschaftlicher und familiärer Gewalt während EM. Hilfesystem unterfinanziert
Von Claudia Wrobel
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Enthemmtes Trinken bedeutet für Frauen oft auch enthemmte Gewalt (Berlin, 14.7.2024)

Die Fußballeuropameisterschaft der Männer ist vorbei, die Emotionen sind abgekühlt. Doch solche Großereignisse haben Auswirkungen, die weit über die Fanmeilen hinausgehen. Seit Jahren ist bekannt, dass es rund um Fußballspiele zu einem sprunghaften Anstieg von Gewalt gegen Frauen und Kinder kommt. Dabei spielt es weniger eine Rolle, ob die eigene Mannschaft gewinnt oder verliert, aber eine wichtige Konstante lässt sich in jedem Fall feststellen: Die Täter sind männlich und in den meisten Fällen alkoholisiert.

Bereits 2021 wurde in einer Studie des London Centre for Economic Performance der Zusammenhang zwischen Fußball, Alkohol und Gewalt untersucht. Auffällig ist zunächst, dass während eines Fußballspiels die partnerschaftliche und familiäre Gewalt um rund fünf Prozent zurückgeht, danach aber sehr deutlich ansteigt: Gewann England ein Spiel, waren bis zu zwölf Stunden danach rund ein Viertel mehr Männer gewalttätig, besonders gegen Frauen und in geringerem Maße auch gegen Kinder, bei einer Niederlage erhöhte sich die Zahl Gewalttätiger sogar um 38 Prozent. Die Studie hob besonders hervor, dass der Anstieg um so größer ausfiel, je früher am Tag das Fußballspiel begann. Die Forscherinnen und Forscher erklärten dies mit den größeren Mengen Alkohol, die die Zuschauer konsumieren, wenn sie früher anfangen zu trinken und nach dem Spiel noch viel Zeit haben, weiterzutrinken. Insbesondere der Zusammenhang zwischen Fußball und Alkohol ist laut Studie ausschlaggebend. Besonders kritisch sehen die Autoren daher das Sponsoring durch Alkoholmarken. Ein restriktiver Umgang mit Alkohol und ein Werbeverbot rund um Fußballspiele könnten nach Ansicht der Autoren hingegen dazu beitragen, partnerschaftliche und familiäre Gewalt einzudämmen. Doch auch zu dieser Europameisterschaft war eine Biermarke einer der Hauptsponsoren.

Ob und in welchem Ausmaß die Gewalt gegen Frauen und Kinder während der Spieltage zugenommen hat, lässt sich noch nicht von allen Akteuren abschließend sagen. So teilte das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen auf Anfrage von junge Welt mit, dass »noch keine qualitätsgesicherten Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik Nordrhein-Westfalen« vorlägen. Die Polizei Berlin verzeichnete in den ersten drei Wochen der EM einen leichten Anstieg der partnerschaftlichen Gewalt. In dem Zeitraum zählt sie 924 angezeigte Fälle, im Gegensatz zu 869 Fällen in den drei Wochen vor Beginn der EM, wie aus Daten hervorgeht, die jW vorliegen (Stand 4. Juli). Die angefragten Frauenberatungsstellen teilten mit, dass sie derzeit noch an der Auswertung der Hilfegesuche arbeiteten. Das vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) initiierte »Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen« verzeichnete während der EM-Wochen kein erhöhtes Beratungsaufkommen. Allerdings schränkte Stefanie Keienburg vom BAFzA gegenüber junge Welt ein: »Ob Frauen sich unmittelbar nach einem Gewaltgeschehen oder erst mit zeitlicher Verzögerung Unterstützung suchen, ist sehr individuell und lässt sich nicht pauschal sagen.«

Klar ist aber schon jetzt, dass diese EM ein Hilfesystem, das finanziell ohnehin am Limit ist, zusätzlich belastet hat. So richtete unter anderem die Frauenberatungsstelle Düsseldorf während des Turniers explizit eine Notfallsprechstunde ein. Dabei hatte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erst im Juni eine Kostenstudie veröffentlicht, wonach das Hilfesystem für Frauen deutlich unterfinanziert ist. Demnach beliefen sich die Ausgaben dafür im Jahr 2022 auf insgesamt 270,5 Millionen Euro, davon 98,3 Millionen für die Fachberatungsstellen. Würde die BRD die Vorgaben der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen umsetzen, lägen die Kosten laut Studie jedoch bei rund 1,6 Milliarden Euro. Der Finanzbedarf ist also bereits ohne Mehraufwand fast sechsmal so hoch.

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