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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 8 / Ansichten

Neues aus der Grauzone

Urteil gegen junge Welt
Von Arnold Schölzel
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Die Anwälte des Geheimdienstes sind fleißige jW-Leser, die dicke Akten mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten gefüllt haben

In den 70er Jahren definierte der Jurist Jürgen Seifert die Bundesrepublik als einen »Rechtsstaat mit Grauzonen«. Gemeint war: Es gebe eine Tendenz zur »Nebenverfassung« dadurch, »dass Einrichtungen der Exekutive in immer größerem Ausmaß sich Befugnisse anmaßen oder kraft Gesetz Befugnisse erhalten, Sonderbehandlungen oder Maßregelungen durchzuführen, die die Grundrechte in ihrer Substanz bedrohen«. Das Grundgesetz bleibe dabei formal unangetastet, seine Freiheitsrechte würden »als Schutzwälle« gefeiert, während Regierung und Apparat sie durchlöcherten.

Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, die Tageszeitung junge Welt habe die Nennung in Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS) hinzunehmen, stammt aus jener »Grauzone des Rechts«, in der VS und Richter mit Begriffen hantieren, für die es keine Legaldefinition, keine durch ein Gesetz gegebene Begriffsbestimmung, gibt, also letztlich Willkür herrscht. Das betrifft »Extremismus« ebenso wie »Freiheitliche demokratische Grundordnung«, die zum Beispiel 2021 im »Handwörterbuch des politischen Systems« als Begriff »von bedauerlicher Unschärfe geprägt« bezeichnet wird.

In der staatlichen Praxis resultierte aus der ungeschriebenen Nebenverfassung immer wieder ein »vorverlegter Staatsschutz«, der mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hat. Das betrifft Gummiparagraphen wie den 129 im Strafgesetzbuch, der von1871 bis 1945 in erster Linie gegen die Arbeiterbewegung und deren Presse durch Kriminalisierung als »staatsfeindliche Verbindungen« eingesetzt wurde. Bereits 1949 beschloss die Bundesregierung, die KPD verbieten zu lassen und schuf sich bis zum Antrag 1951 ein passendes juristisches Instrumentarium. Die Gründung des VS – einer im Vergleich mit anderen westlichen Ländern formal einmaligen, für »hoheitlichen Verruf« (Jürgen Seifert) zuständigen Behörde – gehörte ebenso dazu wie das sogenannte »Blitzgesetz« von 1951, das aus dem »Landesverratsgesetz« von 1934 abgeschrieben war, und bis 1958 zu 200.000 Ermittlungsverfahren und rund 10.000 Urteilen vorwiegend gegen Kommunisten und Friedensaktivisten führte. Das jetzige Urteil knüpft daran an.

Auch in anderer Hinsicht. Dem Verbot der KPD 1956 ging 1952 das Verbot der nazistischen, von VS-Leuten durchsetzten SRP voraus. Im Verbotsurteil berief sich das Bundesverfassungsgericht erstmals auf die »Freiheitliche demokratische Grundordnung« – Vorstufe und Feigenblatt fürs KPD-Verbot. Zwei Tage vor dem Urteil gegen jW wurden die Unternehmen des Faschisten Jürgen Elsässer, die zu politischen Organisationen umdefiniert wurden, unter Berufung aufs Vereinsrecht verboten. Um ähnliche Umdefinition bemüht sich der VS auch im Fall jW. Elsässer hatte es übrigens 1997 im Jungle-World-Putsch fast geschafft, jW zu beseitigen. Seit seinem Scheitern taucht die Zeitung im VS-Bericht auf. Eine Grauzone.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Thomas Ewald aus Nidderau (22. Juli 2024 um 15:33 Uhr)
    Compact wurde – ohne dass vorher gerichtliche Schritte gegen das Blatt eingeleitet wurden – mit den Mitteln des Vereinsrechtes verboten. Ob Compact »rechtsextrem« ist, entzieht sich meiner Beurteilung; ich kenne das Blatt schlicht nicht. Es mag zudem eine unappetitliche Zeitschrift sein. - War es nicht dennoch durch Artikel 5 Grundgesetz (GG) mit dem Recht auf »freie Meinungsäußerung« und »Medienfreiheit« besonders geschützt (»Eine Zensur findet nicht statt«)? Ist die in Artikel 5 GG niedergelegte »Pressefreiheit« nicht ein besonders hohes und damit schützenswertes Gut und gilt das nicht auch für Compact? - Reicht für solche weitgehenden Grundrechtseinschränkungen (behördliches Verbot und existenzvernichtende Illegalisierung) eine Beurteilung durch eine Behörde wie z. B. das »Bundesamt für Verfassungsschutz«? Könnten behördliche Beurteilungen nicht auch linke Presseorgane, wie die linken Medien, für die Jürgen Elsässer einst arbeitete, in der Existenz unter dem dem Label »Extremismusbekämpfung« treffen? - Auch wenn ein »Schlag gegen rechts« behauptet wird, durchweht die Verbotsverfügung etc. auf ungute Weise eine Begrifflichkeit, wie ich sie aus den unseligen Zeiten der »Berufsverbote«-Praxis der siebziger Jahre her gegen links kenne. A. Schölzel bemüht sogar die Horrorzeit des »KPD-Verbotes«. Was »Journalismus« und »journalistische Berichterstattung« ist, sollte jede Zeitung täglich für sich bedenken. Auch die junge Welt ist ein »kapitalistisches« Wirtschaftsunternehmen, das im Verlag 8. Mai GmbH (siehe Impressum) erscheint und weitgespannt unternehmerisch tätig ist und auch sein muss. Das kann jetzt junge Welt als Nachteil nicht ausgelegt werden. - Auch wenn man Compact aus guten Gründen ablehnt, ist hier doch ein harter Schlag gegen die Pressefreiheit erfolgt. Demnächst kann es linke Verlage und Publikationen treffen!?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (22. Juli 2024 um 12:37 Uhr)
    Weil hier zweimal der schwammige Begriff »Rechtsstaat« vorkommt: Man denkt unwillkürlich an das Begriffspaar Rechtsstaat/Unrechtsstaat, also BRD gleich Rechtsstaat, DDR gleich Unrechtsstaat. Was Recht ist und was Unrecht, kommt immer auf die Perspektive an. Der fortschrittliche Arbeiter, der sieht, wie der Kapitalist von der Ausbeutung seiner Arbeitskraft immer reicher wird, wird sich die »Expropriation der Expropriateure« herbeisehnen. Der Ausbeuter wird das als himmelschreiendes Unrecht empfinden. Deshalb auch die nie endende Propaganda vom Unrechtsstaat DDR.

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