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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Laut und deutlich! Der Mozartbub soll ein Gedicht aufsagen

Von Pierre Deason-Tomory
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»Es gingen zwei Jäger auf die Pirsch / Sie wollten erjagen den weißen Hirsch. Mehr weiß ich nicht.«

Als wir 1978 aus Nürnberg weggezogen sind nach Laufen, einer Kleinstadt in Südostbayern, 20 Kilometer von Salzburg entfernt, hatte ich die Arschkarte gezogen. Ich war neun Jahre alt, wurde in eine vierte Klasse der Grundschule gesteckt, und die autochthonen Klassenkameraden verübten am zugereisten Preußenkind unerfreuliche Integrationsmaßnahmen. Aber schon bald wurde ich von dieser Trübsal abgelenkt, mein Ziehvater besorgte mir im Salzburger Landestheater, wo er als Sänger engagiert war, einen Statistenjob in Mozarts »Hochzeit des Figaro«. Ich rannte also abends oft im Theater herum, verschlang in der verrauchten Kantine Debrecziner und trug kostümiert, geschminkt und perückt im zweiten Akt einen Säbel auf die Bühne, im letzten einen schweren Maibaum, der mich jedes Mal fast umwarf.

Eines Tages wartete ich mit meinem großen Bruder in der Maske auf den Vater, dem gerade eine Perücke angepasst wurde. Neben ihm saß »der Haberland«, der gefürchtete Intendant. Er ließ sich die Haare schön machen und richtete plötzlich durch den Spiegel das Wort an mich: »Kann er auswendig lernen?« Ich war so erschrocken, dass ich nicht antwortete, aber mein Bruder erklärte souverän: »Klar! Pierre kann lauter Gedichte.« – »Er soll sich in der Dramaturgie melden zum Vorsprechen.«

Die schickte mich zum Regisseur, dem kürzlich verstorbenen Klaus Gmeiner, und der wollte, dass ich ein Gedicht aufsage, irgendeins. Mir fiel keins ein. Panik. Dann deklamierte ich: »Es gingen zwei Jäger auf die Pirsch / Sie wollten erjagen den weißen Hirsch. Mehr weiß ich nicht.« Ich bekam die Rolle. Eine Hauptrolle, ich sollte den verwaisten Jungen in »Der Tod im Apfelbaum« von Paul Osborne geben.

In den Sommerferien lernte ich meinen Text. Als einziger, stellte ich auf der ersten Probe fest, die richtigen Schauspieler liefen mit dem Buch in der Hand herum. Alle auf und hinter der Bühne waren ganz herzig zu mir, besonders kümmerte sich der Regieassistent um mich, der junge Paulus Manker. Ich habe mich daran erinnert, als die Machtmissbrauchdebatte um Manker aufgekommen ist. Ich füge hinzu: Diese Geschichte will kein Beitrag zu dieser Debatte sein, sie ist eine Erinnerung.

Aus meiner Zwergensicht war Paulus ein hochgewachsener, saulässiger Typ, der lange schwarze Lederhosen trug. Er arbeitete viel mit mir, geduldig versuchte er mir beizubringen, wie man auf einer Bühne vor siebenhundert Plätzen spricht. Er schrieb mit der Feder in ausgreifenden Buchstaben »deutlich und laut« auf die Vorderseite meines Textbuchs, und auf der Rückseite notierte er Probentermine. Ich habe dieses Textbuch noch heute. Was mich auch für ihn einnahm, war, dass er mich zur Würstelbude am Theater mitnahm, die es nicht mehr gibt. Ich war ein unglaublich verfressenes Kind, die Essensbons für die Debrecziner in der Kantine, die am Anfang des Monats ausgereicht wurden, waren immer bald alle.

Nach der Premiere vom »Tod« waren der Regisseur und der Manker plötzlich verschwunden und ich untröstlich. Dann gewöhnte ich mich an dieses Exitphänomen nach der Probenzeit, das sich bei allen weiteren Stücken wiederholen sollte, in denen ich in den folgenden fünf Jahren am Landes- und beim Straßentheater spielte. Was Paulus mir gezeigt hatte, reichte für diese fünf Jahre und half mir später beim Radio. Meine Theaterkarriere endete, als die Familie am zweiten Weihnachtsfeiertag 1983 mitten in der Nacht nach meiner letzten Vorstellung als gemeuchelter Thronfolger in »Richard III.« nach Nürnberg zurückzog.

Viele Jahre später, 2007 oder 2008, lief ich über den Weimarer Herderplatz und sah Manker vor einem Kaffeehaus sitzen, mit einer Dame im Gespräch vertieft. Geh weiter, der weiß nichts mehr davon nach 30 Jahren, sagte ich mir, und steuerte doch direkt auf ihn zu. Ich entschuldigte mich bei der Dame für die Störung und sagt zu ihm: »Sie werden sich nicht erinnern, ich war der Bub in ›Der Tod im Apfelbaum‹ 1979 in Salzburg.« Doch er erinnerte sich, wir plauderten kurz, und er fragte: »Was machst du jetzt?« – »Hauptsächlich Politik.« – »Du bist aber nicht bei den Nazis, oder?« – »Nein, bei der Linken.« – »Dann ist ja alles in bester Ordnung.«

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