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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Hochkultur und Stagnation

Das Nationalmusum in Kraków zeigt die »Kunst Georgiens« mit atemberaubenden Exponaten aus der Antike und Leerstellen bei der Moderne
Von Reinhard Lauterbach
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Niko Pirosmani: »Tenne«, Öl auf Karton, 1916

Kaum jemand in Deutschland, zumal im Westen, weiß etwas über Georgien. Vielleicht gerade noch, dass das Land ungefähr so groß ist wie Bayern und im Süden des Kaukasus liegt. Wer im Osten aufgewachsen ist oder in der Sowjetunion war, erinnert sich vielleicht an den legendären Ruf der georgischen Küche, die mit ihrer Vielfalt an Gewürzen aus dem Salz-Pfeffer-Zwiebel-Dill-Einerlei der russischen Alltagsküche hervorstach. Insofern ist die große Ausstellung georgischer Kunst aus fünf Jahrtausenden, die in diesem Sommer das Nationalmuseum in Kraków zeigt, auf jeden Fall horizonterweiternd und lohnt den Wochenendausflug in den Süden Polens.

Die im wesentlichen mit Leihgaben des georgischen Nationalmuseums in Tbilissi bestückte Ausstellung ist chronologisch gegliedert. Das ist museumsdidaktisch nicht besonders originell, aber in diesem Fall eine ausgesprochen glückliche Entscheidung. So wird man als Besucher gleich in Beschlag genommen von Hunderten von Artefakten aus der Zeit ab dem späten vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Georgien – selbstverständlich nicht das moderne Land, sondern der Natur- und Kulturraum am Ostende des Schwarzen Meeres – präsentiert sich hier als eine der großen vorderasiatischen Hochkulturen, 1.000 Jahre älter als das minoische Kreta, zeitgleich mit dem Alten und dem Mittleren Reich in Ägypten.

Zwischen Türken und Persern

Mehrere günstige Bedingungen haben diese frühe Hochkultur ermöglicht. Ausreichende Wasservorräte förderten den Übergang zur Landwirtschaft, Reichtum an mineralischen Rohstoffen bis hin zu Gold, das mit Hilfe von Tierhäuten – dem aus der griechischen Mythologie bekannten »Goldenen Vlies« – aus den kaukasischen Bergflüssen gewonnen wurde, schufen früh Möglichkeiten der Schatzbildung und der Produktion einer Mehrwertmasse, die sich auch in der beinahe unübersehbar großen Auswahl hervorragend gearbeiteter Schmuckobjekte zeigt. Hier lassen sich keine einzelnen Stücke hervorheben, eines ist schöner als das andere.

In der Zeit des Hellenismus unterhielt Georgien enge Handelskontakte zur griechischen Welt, später zur byzantinischen. Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung etablierte sich das Christentum als Staatsreligion in Georgien, fein gearbeitete Steinreliefs aus frühchristlichen Kirchen offenbaren ein Niveau, das sich vor den Schätzen Ravennas nicht zu verstecken braucht. Bis ins 12. Jahrhundert blühte die Hochkultur, dann stoppten mehrere Wellen mongolischer Plünderungszüge ihre Entwicklung. Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 war für Georgien eine »Zeitenwende« eigener Art; die georgischen Fürstentümer wurden zu Vasallenstaaten, um die sich Türken und Perser stritten. Man kann das sehen: Die georgische Kunst orientalisierte sich in dieser Zeit. Schriftrollen mit Texten in georgischer und persischer Sprache aus dem 16. und 17. Jahrhundert orientieren sich an der Miniaturenmalerei der islamischen Kunst. Dass Georgien peripher geworden war, zeigt sich auch an den Exponaten des 17. und 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert: Die Säbel und Flinten sind noch fein intarsiert, aber letztere wirken mit ihren Steinschlössern technisch bereits rückständig.

Faszination Kaukasus

Das stufenweise ausgedehnte Protektorat des Zarenreiches über Georgien seit den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts war seitens der georgischen Fürsten ein Notbündnis angesichts der Übermacht der muslimischen Nachbarstaaten. Es wundert nicht, dass die Ausstellungsmacher darin vor allem den Verlust georgischer Autonomie erkennen. Was sie zwar zeigen, aber nicht thematisieren, ist die Tatsache, dass über das Zarenreich eben auch die Verbindung Georgiens zur europäischen Kultur erneuert wurde: Vermittelt über Ausbildungsjahre georgischer Künstler in Moskau und St. Petersburg oder über Angehörige der polnischen Intelligenz, die nach den verlorenen Aufständen von 1831 und 1863 von den russischen Behörden in den Südkaukasus verbannt, dort aber offenbar meist in Ruhe gelassen wurden.

Jedenfalls malten künstlerisch begabte Verbannte aus Polen die wilden Berglandschaften des Kaukasus im Stil der heroischen Landschaftsmalerei Europas. Sie betätigten sich auch als Ethnographen und katalogisierten die als exotisch geltende Kultur der Kaukasusvölker. Es war eine ähnliche Faszination für den Kaukasus, wie man sie auch in der russischen Kultur bei Puschkin, Lermontow und dem jungen Tolstoi findet. Und im frühen 20. Jahrhundert reisten georgische Maler – selbstverständlich mit russischen Pässen – zur Ausbildung nach Paris und eigneten sich die künstlerischen Trends ihrer Zeit an.

Alles gut also? Ein Bild gegen Ende der Ausstellung gibt Rätsel auf, die auch der Katalog nicht auflöst: »Imeretien« von David Kakabadze (1889–1952) zeigt eine Berglandschaft, aufgelöst in bunte Farbflecken. Doch der zweite Blick lässt stutzen: Am unteren Bildrand wird von hinten eine sowjetische Dorfversammlung gezeigt. Die Komposition gleicht den vielen »Landschaften mit Flucht nach Ägypten« aus der europäischen Renaissancekunst; das sakrale Motiv als vorgeblicher Anlass, etwas ganz anderes zu malen. Damit nicht genug: Zwei von drei Transparenten zeigen Porträts von Lenin und Stalin, das dritte bleibt weiße Fläche, bei genauem Hinschauen sieht man aber noch Schatten einer Gestalt. War hier einmal Trotzki dargestellt und wurde dann übermalt? Wurde vielleicht sogar zweimal retuschiert? Denn 1919, als das Bild laut Katalog entstand, herrschten die Bolschewiki in Georgien gar nicht. Einmal also, als die Versammlung dazu gemalt wurde, ein zweites Mal, ein paar Jahre später, als Trotzki wieder weg musste? Es darf spekuliert werden.

»Das goldene Vlies – Die Kunst Georgiens«, Nationalmuseum in Kraków, bis 15. September 2024

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael P. aus Berlin (21. Juli 2024 um 15:48 Uhr)
    Beitrag zu den Leerstellen der Ausstellung. Wer von dem Kunstschaffen in Georgien spricht und es ausstellt, kommt an dem bedeutendsten Maler des Landes, Niko Pirosmani, (1862–1918), dem »Marc Chagall aus Georgien«, nicht vorbei. In Georgien schmücken seine Werke Geldscheine, in der Sowjetunion widmete man ihm ganze Ausstellungen, und 1982 sang Alla Pugatschowa ihr Lied »Eine Million Rosen« nach einer Geschichte von ihm. Jüngst gab es eine sehenswerte internationale Ausstellung zu Pirosmani in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel. Obwohl er von Kennern fast schon kultisch verehrt und in seinem Heimatland als Volksheld gefeiert wird, wartet Pirosmani noch darauf, von der »westeuropäischen Öffentlichkeit entdeckt zu werden«, so das Fazit der Schweizer Ausstellungsmacher, die erstmalig 50 Werke seines Schaffens präsentierten. In der DDR war es das Verdienst von Alfred Nützmann, der im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft schon 1975 ihm und seinem Werk ein ganzes Buch widmete und ihn in seiner Zeit vorstellte.

    Ergänzung: Niko Pirosmani wurde 1862 als Sohn einer Bauernfamilie im georgischen Dorf Mirsaani geboren. In einer Druckerei erlernte er den Beruf des Schriftsetzers; ab 1890 arbeitete er als Bremser für die Transkaukasische Eisenbahn, die auch als Objekt seiner Malerei eine wichtige Rolle spielte. Bei dieser schweren und schlecht bezahlten Tätigkeit lernte Pirosmani unterschiedliche Gegenden kennen, etwa das Schwarze Meer oder den Kaukasus. Während seines Lebens lebte er in Armut und malte oft gegen Essen; der wirkliche Ruhm kam erst nach seinem Tod.

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