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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 12 / Thema
20. Juli 1944

Verschwörung gegen Hitler

Vor 80 Jahren versuchten Militärs im Verbund mit dem zivilen Widerstand den Reichskanzler zu stürzen. Schlaglichter auf den 20. Juli
Von Jürgen Leskien
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Nach dem gescheiterten Attentat. Göring und Bormann begutachten die Zerstörungen in der »Wolfsschanze«

Bei dem folgenden Text handelt es sich um redaktionell leicht bearbeitete Ausschnitte aus einem umfangreichen Essay des Schriftstellers Jürgen Leskien »Aufstand der Offiziere – 20. Juli 1944. Der späte Entschluss zu handeln. Letzte Vorbereitung in der Reichshauptstadt und in der Mark Brandenburg«. (jW)

Schon früh – 1938 – hatten sich einzelne hohe Militärs gegen Hitlers geplanten Krieg gewandt. Sie lehnten die Kriegsvorbereitung gegen die Tschechoslowakei ab. So Generalstabschef Ludwig Beck. Seiner Einschätzung nach war das Heer auf solch einen Feldzug nicht vorbereitet, und die Bevölkerung würde eine solche Aktion nicht mittragen. In der Hoffnung auf Verbündete schrieb er an seine Generäle. Er empfahl, dem Befehl »zum Einmarsch in die Tschechoslowakei« nicht zu folgen.

Das war ein Aufruf zur Opposition. Beck war zu beliebt, um ihn öffentlich herabzusetzen, und so verlangte Hitler den Rücktritt des Generalstabschefs. Beck beugte sich diesem Verlangen und überließ im August 1938 seinem Stellvertreter Franz Halder den Generalstab. Er wirkte fortan in der Gruppe der zum Aufruhr entschlossenen Militärs, von denen vor allem die Namen Stauffenberg, Tresckow, Olbricht, Schulenburg, Schwerin und Stülpnagel noch in Erinnerung sind.

Ludwig Beck wird nach dem gescheiterten Putsch in der Bendlerstraße am späten Abend des 20. Juli die Selbsttötung nahegelegt. Beide seiner Versuche misslingen. Ein Feldwebel des Wachregiments erschießt den General dann in einem Nebengelass.

Abweichende Erinnerungen

Noch in der Nacht ließ der nur leicht verletzte Hitler über den Rundfunk verlauten: »Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen.« In der Bevölkerung setzte sich in der Beurteilung des 20. Juli unter den Bedingungen der Desinformation und des Terrors der Geheimpolizei der Gedanke von der »Clique ehrgeiziger, gewissenloser Offiziere« fest.

Später, in den 1950er Jahren, kultivierten die beiden deutschen Staaten ihre je spezielle Sicht auf Geschichte und Widerstand. Die Bundesrepublik sah den Widerstand vor allem bei den nationalgesinnten Bürgern, bei Kirchenleuten, Intellektuellen. Da gehörten die Männer des 20. Juli erst nach und nach dazu. Sie zu befreien vom Vorwurf des »Verrates am deutschen Volke«, ihnen auch als Personen die Ehre zu erweisen, dazu waren nicht nur die Offiziere der Wehrmacht, die ihre neue Verwendung in der entstehenden Bundeswehr gefunden hatten, nur zögernd und unter Vorbehalten bereit. In der DDR wurde vor allem des Widerstands der Kommunisten gedacht. Die Führung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) war lange Zeit nicht bereit, den sehr heterogenen Hintergrund der Männer um Stauffenberg zu diskutieren. DDR-Historiker um Kurt Finker nahmen sich schließlich des Gegenstandes an. 1964 hob die Dokumentation des DDR-Fernsehens von Karl Gass »Revolution am Telefon« den 20. Juli 1944 für einen Augenblick ins allgemeine Bewusstsein auch der Bürger der DDR.

Im Dienst der falschen Sache

Claus Schenk Graf von Stauffenberg war seit September 1942 entschlossen, Hitler zu töten. Das ist um so erstaunlicher, als er noch im Herbst 1941 Hitlers Anstrengungen, Moskau zügig zu erobern, unterstützt hatte. In den folgenden Monaten musste der Offizier im Generalstab das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener und die grausame Behandlung der zivilen Bevölkerung durch SS, SD und Wehrmacht in den besetzten Gebieten zur Kenntnis nehmen. Im Frühjahr 1942 wurde ihm klar, dass die Ermordung Hunderttausender Juden eine unumstößliche Tatsache war. Das mag seinen Entschluss zum »Tyrannenmord«, wie er es später nannte, befördert haben.

Stauffenberg ging bei seiner grundsätzlichen Ablehnung Hitlers von seinem aus Familientradition und Erziehung gewachsenen Verständnis über die »Aufgaben des Staates« und seinen neugewonnenen Erfahrungen aus. Daraus folgte, Hitler und seine Gefolgschaft vertraten die Interessen des Reiches auf völlige ungeeignete Weise. Der Garant der deutschen Interessen sollte, so Stauffenberg, das Militär sein.

Diese Sicht teilten auch Offiziere des 9. Infanterieregiments der Potsdamer Garnison, das als das preußischste aller Regimenter galt. Die Verbitterung über den Versailler Vertrag saß hier besonders tief. Erst auf langen Umwegen gelangten »alte Potsdamer« wie Henning von Tresckow und Fritz-Dietlof von der Schulenburg zur bitteren Erkenntnis, dass sie ihre preußischen Ideale in den Dienst einer falschen Sache gestellt hatten.

Die Lage verschlechtert sich

Am 1. März des Jahres 1944 hatte an der Ostfront, in der Ukraine, die sowjetische Frühjahrsoffensive begonnen. 23 Armeen der sowjetischen Südflanke, von vier Luftarmeen unterstützt, traten gegen die deutschen Einheiten an. Die Gefechtsstärke der sowjetischen Streitkräfte betrug das Fünffache der deutschen Truppen. Die Verluste auf beiden Seiten waren sehr hoch.

Trotz des schlechten Wetters nahmen im März 1944 die Luftangriffe auf deutsche Städte zu. Allein zwischen dem 23. und dem 27. März griffen 2.220 englische Bomber Frankfurt am Main, Berlin und Essen an. Noch einen Monat zuvor hatte die Reichsregierung bei Bombenopfern die Bestattung ohne Sarg untersagt. Aber die begrenzte Material- und Friedhofskapazität ließ diese Anordnung scheitern. Die Behörden in Frankfurt am Main legten fest, »dass bis zu tausend Tote in ganzen Särgen zu bestatten sind, zwischen zwei- und sechstausend in halben Särgen mit Papierauflage und ab sechstausend in Papiersäcken«. Vermehrt tauchten in den Städten von den Ortsgruppen der NSDAP aufgehängte Transparente auf: »Unsere Maurern brechen, aber unsere Herzen nicht!«

Der Sicherheitsdienst (SD) zeichnete im März ein düsteres Stimmungsbild: »Die Verschlechterung der Nachrichten von der Ostfront, die unveränderte Lage im Luftkrieg, das Fehlen irgendwelcher Anzeichen eines Gegenschlages unsererseits (…) halten die Stimmung der Bevölkerung weiterhin nieder.«

Für die widerständigen Offiziere hohe Zeit zu handeln. Schulenburg und die beiden Stauffenberg-Brüder Berthold und Claus redigierten in den Apriltagen 1944 Proklamationen und Dokumente, in denen sie ihre Politik nach dem Umsturz deutlich machten. In der vorgesehenen Regierungserklärung wurden elf Schwerpunkte genannt. So sollte zum Beispiel die »Fortsetzung des Krieges zur ausschließlichen Verteidigung des Vaterlandes« durchgesetzt werden.

, dass die Verschwörer eine solche Aufgabe formulierten, kannten sie doch die unmissverständliche Haltung der Alliierten. Am 23. Januar 1943 waren Roosevelt und Churchill in Casablanca übereingekommen: »Unconditional Surrender« – bedingungslose Kapitulation Deutschlands.

Der Kreisauer Kreis

Als die Gruppe junger Akademiker um Helmuth James von Moltke den Jüterboger Rathausplatz querten, werden sie keinen Gedanken an Hans Kohlhase aufgewandt haben, über den im Fürstenzimmer des nahen Rathauses 1535 Recht gesprochen worden war. Aber die Kleistsche Novelle »Michael Kohlhaas« werden sie wohl gekannt haben. Nach stimmungsvoller Kneipenrunde strebten die jungen Männer am Januarabend 1934 ihrer Militärunterkunft zu. Mit Hitlers Machtantritt gehörte zum juristischen Assessorenexamen ein »weltanschaulicher Kurs mit militärischer Ertüchtigung«. Der Kurs hatte von Moltkes Blick für das Militär geschärft, dem Drill gewann der Referendar gar eine heitere Seite ab. An die Schauspielerin Helene Weigel, die er gut kannte, schrieb der 27jährige: »Die theoretische Ausbildung war ganz interessant, weil ich doch allerhand gelernt habe, was mir sonst meilenfern liegen würde. Die weltanschaulichen Unterrichtsstunden hingegen waren ein Jokus ersten Ranges.«

Von Moltke, der das Gut seines Vaters in Kreisau, Schlesien, übernommen hatte, entschloss sich entgegen seiner ursprünglichen Absicht, doch nicht Richter zu werden. Für eine Rechtsprechung, die ihren Namen verdiente, sah er nach 1933 keine Chance. Als Rechtsanwalt in Berlin half er, besonders mit Beginn der Judenverfolgung, Menschen, die in Bedrängnis geraten waren.

Über die Verantwortung des Bürgers für das Ganze und die Bestimmung des Staates wurde in dem von Moltke angeregten »Kreisauer Kreis« immer wieder gestritten. Bei Kriegsbeginn wurde Moltke zur »Abwehr/Ausland« versetzt, als Fachmann für Kriegs- und Völkerrecht. Die Debatten im »Kreisauer Kreis«, in die mehr als 45 Personen einbezogen waren, gingen weiter. Man traf sich auf Gut Kreisau, diskutierte in Berliner Privatwohnungen.

Moltke sah das Ende des Hitler-Regimes zeitig voraus. Noch 1942/43 hoffte Moltke auf Aktionen von Offizieren und Generalen gegen die Nazis. Er war von der Unentschlossenheit der Militärs, von ihrem Zögern enttäuscht. Moltkes Haltung zu Claus von Stauffenberg war kühl, nach dem Sturz Hitlers hielt er eine Diktatur der Militärs durchaus für möglich. Stauffenberg wiederum, der das Reich retten wollte, war unter anderem Moltkes Haltung befremdlich, die eine Abtrennung deutscher Gebiete nach dem Sieg der Alliierten schon als gegeben hinnahm.

Fühlung mit den Kommunisten

Julius Leber, um 16 Jahre älter als Claus von Stauffenberg und seit seiner Jugend Mitglied der SPD, Soldat im Ersten Weltkrieg, wurde 1915 zum Leutnant befördert. Er blieb bis 1920 bei der Reichswehr, wurde im selben Jahr zum Thema »Die Ökonomie des Geldes« promoviert. 1924 wurde er Mitglied des Reichstages. Von 1935 bis 1937 hielten ihn die Nazis im Konzentrationslager Esterwegen gefangen. Nach der Entlassung aus dem Lager schlug er sich als Kohlenhändler durch. Lebers gleichsam profunde Kenntnisse in Militär- und Wirtschaftsangelegenheiten, seine Fähigkeiten zu vermitteln, erleichterten Stauffenberg die Debatten in der »Grafengruppe« zur Ausweitung des Widerstandes.

Stauffenbergs Nachtgespräche mit Leber, dessen erklärter Wille, »dem arbeitenden Menschen eine bessere Zukunft zu bauen auf den festen Fundamenten von Gerechtigkeit und Freiheit«, sowie die Lage im Inneren und an der Front ließen bei Stauffenberg die Bereitschaft zur Kontaktaufnahme mit dem kommunistischen Widerstand wachsen. Eine aus Stauffenbergs Sicht gewagte Annäherung, der Leber selbst zu Beginn des Krieges als SPD-Mitglied noch äußerst kritisch gegenübergestanden hatte. Erst im Juni 1944 willigten Stauffenberg, York von Wartenberg und von der Schulenburg in Lebers Vorschlag ein, mit dem kommunistischen Untergrund Fühlung zu nehmen.

Der Rundfunk arbeitet

Goebbels hatte schnell die Bedeutung des Rundfunks erkannt. Ganz Deutschland sollte den Führer hören, und so wurde die Großproduktion eines preisgünstigen Rundfunkempfängers angekurbelt. Als standardisiertes, in 28 Firmen produziertes Gerät kam der VE 301 auf den Markt. VE steht für »Volksempfänger«, die Zahl 301 für den 30. Januar. Der Preis der »Goebbels-Schnauze«, wie das Radio im Volksmund hieß, lag zwischen 65 und 76 Reichsmark. 1936 gab es im Reich fünf Millionen angemeldete Rundfunkhörer, bei Kriegsbeginn waren es zwölf Millionen.

Selbstverständlich wussten die Verschwörer um die Bedeutung der Macht über Rundfunk- und Sendeanlagen. So ließen sie durch eine Panzerfunkkompanie am Abend des 20. Juli den Sender Herzberg besetzen. Zur selben Zeit erreichte ein Trupp der Infanterieschule Döberitz das Funkhaus in der Berliner Masurenallee. Der verantwortliche Offizier ließ sich in den Hauptschaltraum führen. Techniker erklärten, es sei alles stillgelegt. Tatsächlich aber befand sich der aktive Hauptschaltraum in einem nur unweit entfernten Bunker. Es gab keine Unterbrechung des Senderbetriebes. Ähnlich in Nauen und in Tegel. Auch hier besetzten Soldaten aus Döberitz zwar das Gelände, konnten aber aus Mangel an Fachkenntnissen nicht feststellen, ob die Sendeanlagen tatsächlich »tot« waren. Alle Rundfunksender, auch der in Königs Wusterhausen, blieben in der Hand des Propagandaministeriums. Dieser Umstand hatte für den Umsturz verheerende Folgen. Nicht nur, dass General Fritz Lindemann, der die politische Erklärung der Verschwörer über den Rundfunk verlesen sollte, nicht aufzufinden war. Ab 17.42 Uhr wurde in kurzen Abständen die offizielle Verlautbarung verkündet, dass Hitler lebe.

Damit war das Unternehmen »Walküre« gescheitert. Der Plan unter diesen Operationsnamen war ursprünglich zur Bekämpfung innerer Unruhen oder für den Fall eines massiven Angriffs durch Luftlandetruppen im Kern des Reiches ausgearbeitet worden. Im Falle des »Staatsnotstandes« sollten Teile des Ersatzheeres alarmiert und an zuvor bestimmte Orte verlegt werden. Zum Ersatzheer gehörten unter anderem jene Einheiten, die Soldaten ausbildeten und aus deren Bestand die Kräfte an der Front »aufgefüllt« wurden. Chef des Stabes beim Ersatzheer wurde 1944 Claus von Stauffenberg, sein direkter Vorgesetzter war General Friedrich Fromm. »Walküre« erlaubte den Verschwörern, die militärischen Schritte des Umsturzes getarnt vorzubereiten.

Die Wlassow-Armee

Südwestlich von Königs Wusterhausen, nahe dem Standort des Oberkommandos der Wehrmacht in Wünsdorf, liegt die Gemeinde Dabendorf. Am Westrand des Ortes existierte seit dem Frühjahr 1943 ein Lager der »Russkaja Oswoboditelnaja Armija« (Russische Befreiungsarmee, ROA). In diesem Lager, das neben Andrej Wlassows Villa in Berlin-Dahlem als zweiter Dienstort des russischen Generals galt, wurden russische Freiwillige, gefangengenommene und übergelaufene Angehörige der Roten Armee, für die Propaganda gegen die Sowjetunion ausgebildet. Das Lager in Dabendorf galt als geistiges Zentrum der Wlassow-Bewegung.

Wlassow, ein hochgewachsener Mann von 1,96 Meter, war ein mit dem Leninorden geehrter General Stalins. Bis Juli 1942, dann geriet er in deutsche Gefangenschaft und war bald bereit, eine »Russische Befreiungsarmee« aufzubauen, zunächst in einer Stärke von zehn Divisionen, in deutscher, feldgrauer Uniform, mit der alten zaristischen Kokarde in den Farben weiß-blau-rot an der Offiziersmütze. Die Eidesformel der Angehörigen der Wlassow-Armee verpflichtete sie dem Obersten Befehlshaber Adolf Hitler. Mit dieser »Befreiungsarmee« wollte Wlassow an deutscher Seite gegen Stalin kämpfen. Diese Haltung passte zu den Vorstellungen der späteren Verschwörer von Tresckow und von Stauffenberg.

Von Tresckow hatte im Herbst 1941, nachdem mehr als eine halbe Million Rotarmisten bei Wjasma/Brjansk in deutsche Gefangenschaft geraten waren, die Idee zur Bildung einer »Befreiungsarmee aus 200.000 slawischen Freiwilligen« entwickelt. Im Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, »Mauerwald« in den fernen Masuren, hatte Stauffenberg ähnliche Gedanken geäußert. Er sprach von »russischer Aufstandsarmee«. Stauffenberg war davon überzeugt, dass mit Hitlers »Untermenschenkonzept« die Sowjetunion nicht zu besiegen sei. Der Schlag müsse »innerhalb des russischen Reiches, von den Russen selbst« geführt werden. Stauffenberg, 1942 Gruppenleiter in der Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres, warb für die Idee russischer Freiwilligenverbände. Ohne Erfolg. Hitler misstraute der Schlagkraft und der Eidestreue der Wlassow-Soldaten. Als im Frühjahr 1945 dann doch die ersten selbständigen ROA-Einheiten aufgestellt wurden, war deren Schicksal längst besiegelt. Wlassow geriet in Gefangenschaft und wurde 1946 in Moskau gehängt.

Misstrauen gegen die Grafen

Am 21. Juni 1944 bombardierten 2.500 US-amerikanische Bomber Berlin und Umgebung. Hermann Maaß, Mitglied des zivilen Kreises der Verschwörer, konnte vom Balkon seines Holzhauses in der Babelsberger Heimdahlstraße die Angriffe beobachten. Maaß, der sich selbst als deutscher Sozialist bezeichnete, war, ohne konfessionell gebunden zu sein, ein tiefgläubiger Mensch. Über den Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner, in dessen Betrieb er als Prokurist seinen Lebensunterhalt verdiente, fand er zum Widerstand. Maaß galt als Mittler zwischen den Militärs der Verschwörung und den Sozialdemokraten. Nicht nur Leuschner stand ihm nahe, auch die Sozialdemokraten Adolf Reichwein und Julius Leber schätzen den präzisen Denker Maaß. Im Winter 1943/44 war es erstmals in der Heimdahlstraße zu intensiven Gesprächen mit Stauffenberg und mit Ulrich-Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld gekommen. Die Gespräche im holzgetäfelten Esszimmer der Familie Maaß, mit dem Blick in den weiten Garten, waren von gegenseitiger Achtung getragen, aber von seinem Misstrauen gegenüber der »Grafengruppe« konnte Maaß sich nie völlig befreien. Er befürchtete wohl, dass die Adligen sich letzten Endes nur um die Wiederherstellung ihrer Privilegien sorgten und ihnen demokratische Verhältnisse unter starker Volksbeteiligung, wie es dem sozialdemokratisch gesinnten Teil der zivilen Verschwörer und auch den Kommunisten um Anton Saefkow vorschwebte, suspekt waren.

Himmler fehlt

Am 23. Juni 1944 hatte an der Ostfront die sowjetische Operation »Bagration« begonnen. Die Offensive würde sich bis zum 28. August hinziehen und mit der Vernichtung der Heeresgruppe Mitte enden. Eine halbe Million deutscher Soldaten würde ihr Leben verlieren, 350.000 würden in Gefangenschaft geraten. Stauffenberg bekam diese aktuellen Verlustmeldungen jeden Morgen auf den Tisch. Er antwortete Anfang Juli Carl Friedrich Goerdeler, dem zivilen Oberhaupt einer zukünftigen Regierung nach dem Sturz Hitlers, auf dessen Frage, wie es denn im Osten nun wirklich stehe, Ostpreußen sei nicht mehr zu retten.

Die Festnahme von Mitwissern durch die Gestapo, die Sorge um die drohende Entdeckung und die Lage an der Front trieben die Verschwörer zur höchsten Eile. Stauffenberg, der bislang auf Generalmajor Hellmuth Stieff als Attentäter gehofft hatte, entschloss sich, die Bombe selbst zu legen.

Am 11. Juli war er zur Berichterstattung bei Hitler auf den Obersalzberg befohlen worden, der Sprengstoff steckte in seiner Aktentasche. Stauffenberg wollte handeln, aber Stieff verwies darauf, dass Himmler an der Besprechung nicht teilnehmen werde und sie vereinbart hatten, die Bombe nur zu zünden, wenn es Hitler und Himmler gleichzeitig traf. Stauffenberg ließ den Zünder für das Sprengstoffpaket unberührt.

Drei Tage später, am 15. Juli, ergab sich eine neue Gelegenheit. General Fromm und Stauffenberg hatten Hitler vorzutragen, diesmal in Ostpreußen, in der »Wolfschanze«. Stauffenberg war zur Tat bereit. Als Stauffenbergs Maschine in Rangsdorf abhob, löste Mertz von Quirnheim um 10.30 Uhr für die Heeresschulen in Krampnitz, Potsdam, Berlin die »Walküre«-Marschbereitschaft aus.

Wieder war Himmler bei der Lagebesprechung nicht zugegen. Stieff forderte Stauffenberg unmittelbar vor dem Beginn der Besprechung im Namen der anderen Verschwörergenerale eindringlich auf, die Bombe nicht zu zünden. Gegen 14.45 Uhr teilte Stauffenberg Mertz von Quirnheim mit, dass er nicht aktiv geworden war. »Walküre« wurde als Übung ausgegeben. Zeitzeugen berichteten später, dass bei einigen unter den in Berlin verbliebenen Verschwörergeneralen beim Eintreffen der Nachricht, dass Stauffenberg nicht gezündet habe, sich eine »nahezu euphorische Stimmung« breitgemacht habe.

Am nächsten Abend, einem Sonntag, trafen sich die Brüder Stauffenberg mit den engsten Freunden, um sich über die jüngsten Fehlschläge zu verständigen. Die 50. Armee der 2. Weißrussischen Front operierte an diesem Tag nur noch sechzig Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.

Der Rubikon ist überschritten

Nach dem unterlassenen Versuch, Hitler in der »Wolfsschanze« zu töten, wurden die Verschwörer um Stauffenberg mehr und mehr zu Getriebenen. Das Reichssicherheitshauptamt ordnete am 17. Juli an, den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Friedrich Goerdeler, zu verhaften. Zu Stauffenbergs Überraschung suchte Goerdeler, der zivile Kopf der Umstürzler, ihn am 18. Juli auf. Goerdeler bedrängte den Oberst, das Ende durch eine »Westlösung«, durch Verhandlungen mit dem Westen, doch noch abzuwenden. Der Oberst zeigte für diesen realitätsfernen, zu oft debattierten Vorschlag kein Verständnis.

Als er nach dem Gespräch mit Goerdeler erfuhr, dass in Berlin bereits das Gerücht kursiere, das Führerhauptquartier werde wohl bald in die Luft fliegen, reagierte er gelassen, aber auch sehr bestimmt: »Da gibt es keine andere Wahl mehr. Der Rubikon ist überschritten.«

Die Tage bis zu Stauffenbergs nächstem Vortrag bei Hitler in der »Wolfsschanze« dienten der letzten Vorbereitung. Zuverlässige Kommandeure von Einheiten des Ersatzheeres in Potsdam, Kramp­nitz und Cottbus wurden durch Codeworte auf den 20. Juli orientiert.

Alles hing nun an einem kriegsversehrten Oberst. Eine Flachzange wurde als Werkzeug so umgebaut, dass Stauffenberg mit der ihm verbliebenen, verkrüppelten Hand die in einer hauchdünnen Kupferhülse steckende Säureampulle des Zündmechanismus zerdrücken konnte.

Ein Netz von Verbündeten war über die Jahre aufgebaut worden, Regierungserklärungen lagen bereit, die Ämter der Übergangsregierung waren verteilt, Hitlers Planung zur Bekämpfung innerer Unruhen, Unternehmen »Walküre«, war durch Olbricht und Stauffenberg erfolgreich »umgedreht« worden.

Die Nacht verbrachte Stauffenberg in Gesellschaft seines Bruders Berthold in der Berliner Tristanstraße. Die Versuche, per Telefon noch seine Frau Nina in Lautlingen zu erreichen, blieben erfolglos.

Als Stauffenberg in Begleitung seines Bruders, den Sprengstoff in der Aktentasche, gegen 7.30 Uhr den Flugplatz Rangsdorf erreichte, musste der Start zunächst verschoben werden. Wiesennebel bis hin zum Pramsdorfer Berg am Südende des Platzes. Start kurz nach acht Uhr. 10.15 Uhr Landung nahe der »Wolfsschanze«. Dann ging alles sehr schnell. Gegen 12.30 Uhr zerquetschte Stauffenberg die Säureampulle, drei Minuten später plazierte er die Bombe nahe Hitler am Fuße des Kartentisches in der »Lagebaracke«. 12.42 Uhr Detonation. Da waren Stauffenberg und Werner von Haeften schon auf der Flucht Richtung Flugplatz. Stauffenberg glaubte, Hitler sei tot.

In Berlin lief »Walküre« nur zögerlich an. Stauffenbergs Verbündete waren durch widersprüchliche Meldungen verunsichert. Im Laufe des Abends gewann die Gegenseite die Oberhand. Zum Tagesausgang erkannten die Männer um Stauffenberg endgültig, dass sie gescheitert waren.

Exekution der Verschwörer

Im Licht von Autoscheinwerfern begann zehn Minuten nach Mitternacht auf dem Hof des Bendlerblocks in Berlin die Exekution der Verschwörer. Zehn Unteroffiziere, unter dem Kommando eines Leutnants, erschossen Olbricht, Stauffenberg, Mertz von Quirnheim, Haeften. An der Ostfront nahm sich von Tresckow das Leben, ebenso Generalfeldmarschall von Kluge.

Spätestens seit Herbst 1938 waren die Alliierten vom Bemühen deutscher Militärs informiert, Hitler zu beseitigen. Umso überraschender die Reaktion. Der Sprecher des amerikanischen Präsidenten machte sich in seiner Erklärung zum Attentat die Lüge Hitlers von der »Clique ehrgeiziger, gewissenloser Offiziere« zu eigen. Die Herald Tribune schrieb am 9.August 1944 »Amerikaner werden im Allgemeinen nicht bedauern, dass die Bombe Hitler verschont hat, auf dass er selber nun seine Generale erledigen kann. Amerikaner haben nichts übrig für Aristokraten und schon gar nicht für diejenigen, die dem Stechschritt huldigen ...«

Ilja Ehrenburg schrieb in der Krasnaja Swesda, der sowjetischen Militärzeitung: »Unsere Armeen sind schneller als das Gewissen der Fritzen.«

Mit der Nacht zum 21. Juli wurden mehr als 5.000 Menschen von Gestapo und SD verhaftet. Der Volksgerichtshof sprach mehr als 2.000 Todesurteile aus, vollstreckt bis ins Frühjahr 1945 hinein, bis in die letzten Tage des Krieges.

Der Schriftsteller Jürgen Leskien ist gelernter Maschinenschlosser und war Kommandeur an der Fliegerschule der Luftstreitkräfte der DDR. Nach einem Studium an der Theaterhochschule in Leipzig arbeitete er als Dramaturg beim DDR-Fernsehen, in den 1980er Jahren schließlich als Entwicklungshelfer in Afrika. Sein jüngstes Theaterstück »ORLOG* – Spätes Spiel um Gerechtigkeit« handelt von Schuld und Versöhnung vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia.

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  • Leserbrief von Gerd-Rolf Rosenberger aus Bremen (22. Juli 2024 um 14:24 Uhr)
    Cato Bontjes von Beek – diesen Namen tragen heute Straßen und Schulen. In Fischerhude besonders, wo die 1920 geborene Cato ihre Kinder- und Jugendjahre verbrachte. Im Herbst 1941 kam sie über Libertas Schulze-Boysen zur Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«, mit der sie gemeinsam Flugblätter verfasste, die zum Widerstand gegen die faschistische Diktatur aufriefen. Das geschah zu einer Zeit, als diejenigen, die heute als die wahren Helden des Widerstandes gefeiert werden, die sogenannten Verschwörer des 20. Juli 1944 um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, noch eng mit Hitler verbunden und mit dessen Vernichtungspolitik einverstanden waren. Cato Bontjes von Beek wurde am 18. Januar 1943 vom Reichskriegsgericht mit seinem Chefankläger Manfred Roeder, der später auch der Ankläger Dietrich Bonhoeffers war, zum Tode durch das Fallbeil verurteilt, einen Monat vor der Festnahme der Geschwister Scholl und Christoph Probst in München. Die junge Cato wurde am 5. August 1943 in Plötzensee ermordet, ihr Chefankläger Roeder machte in der freiheitlichen BRD eine glänzende Karriere als CDU-Funktionär.

    Das heutige Gedenken an das Attentat am 20. Juli 1944, so am vergangenen Wochenende mit Kanzler Scholz und »Wir müssen kriegstüchtig werden«-Minister Pistorius, ist das Paradestück der bundeswehreigenen Traditionspflege und wird mit einem pompösen Aufmarsch und feierlichen Gelöbnis im Berliner Bendlerblock zelebriert. Die staatsoffizielle Würdigung des 20. Juli 1944 wurde in den fünfziger Jahren zur entscheidenden Legitimationsgrundlage der Bundeswehr. Die Militärs in der »neuen Wehrmacht«/Bundeswehr hingegen – allen voran die Wehrmachtsgenerale wie »Legion Condor«-Flieger Heinz Trettner, später Generalinspekteur – wollten von den Eidbrechern gar nichts wissen. Keinen »Verräter« wollte man in der Bundeswehr dulden; massiven Widerstand gab es vom mächtigen Staatssekretär und Adenauer-Intimus Hans-Maria Globke, der einen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen 1935 schrieb. In der verabschiedeten Himmeroder Denkschrift von 1950 sucht man einen Hinweis auf den militärischen Widerstand gegen Hitler und die Widerständler des 20. Juli 1944 vergeblich. Statt dessen wird ultimativ von den faschistischen Wehrmachtsgeneralen in Himmerod von Bundesregierung und Bundestag, von den westlichen Besatzungsmächten eine Ehrenerklärung für die Angehörigen der faschistischen Wehrmacht und der Waffen-SS eingefordert. Konrad Adenauer gibt sie am 3. Dezember 1952 in einer Sitzung des Bundestages.

    Hannah Arendt zog das rigorose Fazit, man könne sich angesichts der Dokumente der Widerständler des 20. Juli 1944 schwer des Eindrucks erwehren, dass das, was man gemeinhin unter Gewissen versteht, in Nazideutschland längst verlorengegangen war.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (19. Juli 2024 um 23:55 Uhr)
    Ich habe aus dem Artikel allerhand für mich Neues erfahren. »Regierungserklärungen lagen bereit«: Da wäre ein weiterer Artikel zu deren Inhalt interessant.

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