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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Die Fähigkeitslücke des Boris Pistorius

Von Arnold Schölzel
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In der westlichsten russischen Oblast Kaliningrad leben auf einer Fläche von 15.125 Quadratkilometern – etwas weniger als Schleswig-Holstein – rund 1,03 Millionen Einwohner (Schleswig-Holstein 2,9 Millionen). Das Gebiet hat Zugang zu den internationalen Gewässern der Ostsee und grenzt auf Land an die EU- und NATO-Staaten Polen und Litauen. Seit Jahren phantasiert die NATO über die sogenannte Suwalki-Lücke, die sich vom Dreiländereck Litauen–Polen–Russland (Oblast Kaliningrad) in der Nähe der polnischen Stadt Suwalki nach Südosten bis zum Dreiländereck Litauen–Polen–Belarus über etwa 65 Kilometer Luftlinie erstrecke: Hier könne Russland die drei baltischen Staaten vom übrigen NATO-Territorium im Handstreich trennen.

Auf ihrem Warschauer Gipfel beschloss die NATO im Juli 2016 zum einen die Rückkehr zur atomaren Erstschlagsdoktrin des Kalten Krieges, zum anderen, in Polen und den baltischen Staaten 4.000 Soldaten im Rotationsverfahren zu stationieren. So sollte die Suwalki-»Lücke« geschützt werden. Demnächst sollen nun allein in Litauen 4.000 deutsche Soldaten ständig stationiert werden. Die »Lücke« hat ausgedient.

Am Donnerstag dieser Woche erwähnte aber Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Zusammenhang mit der angekündigten Stationierung weitreichender US-Waffen in der Bundesrepublik in einem Interview mit der Rheinischen Post plötzlich wieder das Gebiet Kaliningrad: »Was die USA ab 2026 in Deutschland tun werden, ist nichts anderes, als der russischen Bedrohung durch die Stationierung der ›Iskander‹ in Kaliningrad etwas entgegenzusetzen.« Pistorius zuvor: »Ich möchte aber klarstellen: Es handelt sich um konventionelle Waffensysteme. Wir tun alles dafür, dass eben keine Eskalation eintritt.« Letzterem widersprach Pistorius gleich selbst: »Wir haben beim NATO-Gipfel in Washington mit Polen, Frankreich und Italien – andere Länder könnten noch dazu kommen – eine Absichtserklärung unterschrieben, in der wir verabreden, gemeinsam weitreichende Präzisionswaffen selbst zu entwickeln, zu produzieren und zu beschaffen. Die USA helfen uns mit der Stationierung ihrer Systeme, den Zeitraum zu überbrücken, bis wir solcher Waffensysteme selbst haben.« Soll wohl heißen: Unter deutscher Führung gebaute sogenannte Hochpräzisionsabstandswaffen, die auf Kaliningrad gerichtet werden, stellen keine Eskalation dar.

Noch am selben Tag hielt die russische Führung es für nötig, Pistorius zu antworten. In Moskau erklärte der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow vor Journalisten laut Interfax auf die Frage, ob Russland erwäge, im Gegenzug Atomraketen zu stationieren: »Ich schließe keine Varianten aus.« Rjabkow erläuterte, durch Schuld Deutschlands und vor allem der USA sei es »zu einer völligen Zerstörung des Vertragssystems auf diesem Gebiet« gekommen. Das sei die Situation, in der Russland »ohne irgendwelche internen Einschränkungen« reagieren müsse. Und was Kaliningrad angehe: Das Gebiet ziehe »seit langem die krankhafte Aufmerksamkeit unserer Gegner auf sich«. Seine Sicherheit werde aber so garantiert wie die jeder anderen Region der Russischen Föderation. Kaliningrad sei keine Ausnahme in Bezug auf »unsere absolute Entschlossenheit«, jene »zurückzudrängen, die möglicherweise aggressive Pläne hegen und versuchen, uns zu bestimmten Schritten zu provozieren«. Das seien offenbar auch Leute, »die in Berlin den Ton angeben«.

Der Schlagabtausch besagt: Pistorius bringt Kaliningrad als Ziel neuer Waffen ins Spiel. Moskau signalisiert: Achtung, das berührt existentielle Interessen.

Im Kopf des deutschen Ministers besteht eine Fähigkeitslücke, überhaupt zu begreifen, was er macht.

Pistorius bringt Kaliningrad als Ziel neuer Waffen ins Spiel. Moskau signalisiert: Achtung, das berührt existentielle Interessen. Im Kopf des deutschen Ministers besteht eine Fähigkeitslücke, überhaupt zu begreifen, was er macht.

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (22. Juli 2024 um 11:32 Uhr)
    Eine solche »Fähigkeitslücke« in bezug auf das, was er macht, besteht nicht nur im Kopf des fanatischen Bellizisten Pistorius. Solche Lücken bestehen massenweise leider ebenso in den Köpfen eines Volkes, das dergleichen mit sich machen lässt, statt all diese kriegsgeilen Psychopathen zum Teufel zu jagen.
  • Leserbrief von CMF aus Ehemalige Friedensstadt OS (20. Juli 2024 um 12:17 Uhr)
    Die Fulda-Bresche heißt heute Suwalki-Bresche – zumindest zu der Zeit, als der nächste Weltkrieg in Osthessen erwartet wurde, hatte Herr Pistorius gedient. Er ließ im November 2023 an seinem vormaligen Wirkort Osnabrück über seine Dienstzeit mithin eine (vorsichtig formuliert) sehr eigene Argumentation für den damaligen NATO-Doppelbeschluss zu Protokoll geben, die er zu der Zeit gehegt habe: So habe die »NATO als Verteidigungsbündnis« mit der Stationierung der Langstreckenraketen »einen Einmarsch der Sowjets ins von der Solidarność geprägte Warschau« verhindert – für Frieden und Freiheit und so. So zumindest die Zusammenfassung der lokalen NOZ zu diesem Auftritt. Will im Klartext heißen: Als junger Mann sah es Herr Pistorius als legitim an, dass westdeutscherseits gegenüber Polen eine militärische Drohkulisse aufgebaut wird, einen Krieg zu führen über innerdeutsche Grenzen hinweg. Angesichts der Äußerungen des Herrn Ex-OB in seinem neuen Amt scheint er sich seine jugendlichen Überzeugungen größtenteils bewahrt, gar logisch weiterentwickelt zu haben. Ich bin zynisch genug, es ihm zuzutrauen, mit dafür zu sorgen, dass der bei Fulda beschworene Weltenkriegsbrand im Baltikum eintritt. Anders als damals möglicherweise in Form einer »Begradigung« dieser Suwalki-Bresche, denn was läge näher als die nach dem makedonischen Feldherrn Alexander – »Iskander« – benannte Bedrohung aus Königsberg durch Einnahme des Gebiets zu beseitigen?

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