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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Geschichte von unten

Auf dem »Bitterfelder Weg«: Begegnungen während zweier besonderer Vernissagen und die offene Frage des historischen Kulturpalastes
Von Gerd Schumann
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Bis zu 30.000 Menschen arbeiteten im VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld (Industrieanlage, 1990)

Es würde ein besonderer Sonntag werden für mich, dieser vorletzte im Juni. Das war vor allem Reinhard Waag zu verdanken, den ich angefragt hatte, ob wir uns anlässlich der Vernissage »Lore Dimter. Ein Leben für die Kunst« in Bitterfeld treffen könnten. Er sagte zu und wies, mehr am Rande, darauf hin, dass selben Tags eine weitere Kunstausstellung im benachbarten Wolfen anstand. Spannend, dachte ich – eine systemübergreifende Werkschau über 75 Jahre Malerei, hundert Werke oder mehr entstanden vor und nach 1990.

»Vom Zeichenzirkel der Filmfabrik zum Malverein ›Neue Schenke‹«, so der zunächst etwas trocken klingende Titel. Hinter dem verbarg sich dann bei genauerem, vorurteilsfreien Hinsehen eine einzigartige Mischung aus Tradition, Gegenwart und derzeit weiter völlig offenen Fragen nach der Zukunft. Wie bei der Lore Dimter Vernissage so etwas wie eine Zeitreise auf dem ursprünglichen Bitterfelder Weg, mit Nutzeffekt auch für das Danach sozusagen. Das klang alles verlockend, und ich entschloss mich kurzerhand, beide Ausstellungen zu besuchen – auch Waag würde ich dort in jedem Fall treffen.

Ich kenne Reinhard Waag, ehemals Leiter des legendären Kulturpalastes, in der Region schlicht »Kupa« genannt, seit fünf Jahren. Seinerzeit drohte dem leerstehenden, vor sich hinsterbenden »Kupa« das traurige Schicksal ähnlicher DDR-Kulturhäuser wie des Berliner »Palastes der Republik«, und Waag, Jahrgang 1950, gebürtig aus Apolda, ein freundlicher, immer überlegt und besonnen formulierender Mann, klärte mich vor Ort geduldig und sachkundig über Geschichte und den Stand der Dinge auf (siehe jW, 12.10.2019).

1959 hatte hier nach dem Motto des Schriftstellers Werner Bräunig die historische Konferenz »Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!« eine Art Kulturrevolution in der DDR eingeleitet werden sollen – ob diese Revolution nun verordnet von oben oder eher angeregt von unten war, darüber wird heute noch gestritten. Ansätze existierten jedenfalls bereits vor der Konferenz in vielen Fabriken, Mal- und Filmzirkel auch in Bitterfeld und Wolfen.

Nun berieten 700 Kulturschaffende, Funktionäre und Arbeiter im »Kupa«, wie es gelingen möge, die durch die Zeiten der Klassengesellschaften künstlich geschaffene und ständig reproduzierte breite wie tiefe Kluft zwischen Kunst und Arbeit, Intelligenz und Arbeiterklasse zu verringern. Künstler aller Gattungen gingen in die Betriebe, ein breites Zirkelwesen entstand. Die DDR begab sich auf den »Bitterfelder Weg«, der ab dann zudem einen »wichtigen historischen Bezug zur Region herstellte«, so Waag, und allen Abrissplänen von vor einigen Jahren zum Trotz steht der einstige »Kulturpalast Wilhelm Pieck« auch heute noch, imposant in seinen Ausmaßen, unübersehbar mit dem aufragenden grandiosen Mittelbau, der wie die Brücke eines Ozeandampfers in dem riesigen flachen Industriegelände thront.

Erwähnt sei allerdings, auch um etwaigen Illusionen vorzubeugen, der anhaltende Schwebezustand des Projekts »Kupa«. Es bewegt sich wenig seit über zwei Jahren, seit dem tragischen Unfalltod des damals neuen Besitzers und Inspirators Matthias Goßler im Juni 2022. Der hatte mit seinem unternehmerisch angelegten Nutzungskonzept sogar die damalige, sich von dem Bauwerk beeindruckt zeigende Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) überzeugt. Bundesmittel zur Sanierung wurden zugesagt, doch die Planung geriet ins Stocken, Investoren wurden gesucht, dabei müssten die besagte Millionen Euro als Förderbeträge bis Ende 2025 abgerufen werden. Die Zeit ist knapp geworden.

Bitterfeld feiert in diesem Jahr ein Stadtjubiläum, unübersehbar bereits kurz nach Ankunft am Bahnhof bei Durchquerung des unwirtlichen, weiß gekachelten Tunnels von den Gleisen zur Stadt. »800 Jahre Bitterfeld« und »Seh’n wir uns nicht in dieser Welt / Dann seh’n wir uns in Bitterfeld«, steht da in Riesenlettern an der Wand. Bei der uralten Redewendung soll es sich laut einer Sage um den Ausspruch eines Zauberers oder Gauklers an einem Verkehrsknotenpunkt der Handelsstraße von Berlin Richtung Halle und Leipzig handeln.

Damals, in den eisenbahnlosen Zeiten der Pferdefuhrwerke, ahnte noch niemand, dass sich die ganze Region in ein riesiges Fabrikenzentrum verwandeln würde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Bitterfeld einer der großen europäischen Chemiestandorte, 1893 mit Gründung der Elektrochemischen Werke, 1909 um die Ecke in Wolfen mit der Filmfabrik Agfa. Die Begießmaschine, an der 1936 der erste Mehrschichtenfarbfilm überhaupt hergestellt wurde, lässt sich noch heute im Museum für Industrie- und Filmgeschichte bewundern. In der DDR wurden hier seit Mitte der 1960er Jahre die »Original Wolfen«-Filme (Orwo) hergestellt.

Die Chemieproduktion um die Ecke im nahen Bitterfeld hatte seit der Befreiung vom Faschismus unter sowjetischer Verwaltung gestanden, wurde 1952 dann zum VEB Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld (EKB) formiert, bis zu 30.000 Menschen arbeiteten dort. In die Anfangszeit fällt auch die Errichtung des »Kupa«. Etwa 5.000 Freiwillige erwirtschafteten in 310.000 Stunden ein Drittel der Gesamtkosten für den Palast, und schafften es, dass das Kulturhaus am 14. Oktober 1954 nach zweieinhalbjähriger Bauzeit eröffnet werden konnte – ein Ort, der angenommen wurde.

Im Westen Deutschlands, der damaligen BRD mit Bonn als Hauptstadt, wurde über derartige Einrichtungen, wenn überhaupt, abfällig und tendenziös berichtet. Der generell von Ignoranz und Ächtung, wie im Fall von Brecht und Eisler, geprägte Umgang mit DDR-Kultur hielt sich und erfuhr nach dem Anschluss des Landes an die Bundesrepublik noch einmal zusätzlich einen seltsamen, bis heute verstörend wirkenden Auftrieb. Unter dem auf »Unrechtsstaat« zugeschnittenen Muster wurde den »Ossis« eine angepasste Unmündigkeit unterstellt, Erhaltenswertes zerredet und beseitigt, die Lebensleistung von Abermillionen Menschen ignoriert, die ganze Palette herausragender sozialer Errungenschaften weggewischt.

Die Rigorosität reichte bis zur Vernichtung von Existenzen und eben auch: von Kunst. In Bitterfeld sei es zu einer Art »Bildersturm« gekommen, formuliert der mittlerweile über die Region hinaus bekannte, zum Bitterfelder Weg und zum Zirkelwesen forschende Historiker Marc Meißner in seinem vom Bernhard-­Franke-Förderverein herausgegebenen Buch über die Bitterfelder Künstler und Nationalpreisträger Franke (1922–2004) und Walter Dötsch (1909–1987). »Mit Pinsel und Farbe zwischen Kohle und Chemie« gilt schon jetzt als ein erstes Standardwerk über die beiden Maler auf dem »Bitterfelder Weg«.

Meißner: »Ob in der Stadt oder im ehemaligen Betrieb wurden seine (Frankes) baugebundenen Kunstwerke abgetragen. Ebenso verschwanden seine Gemälde und Grafiken wie auch die von vielen anderen Künstlern, welche in Depots, auf Dachböden, in Müllcontainern oder Privatsammlungen landeten.« Diese Entwicklung, so Meißner weiter, »muss für Franke unerträglich gewesen sein«. Der Künstler verließ die Stadt und lebte mit seiner Frau in der Ortschaft Augustfehn im Nordwesten der BRD.

Als ebendort im vergangenen Jahr zu einer Ausstellung mit Frankes Werken eingeladen wurde, erzählt Reinhard Waag, sei die Verwunderung bis hin zum Bürgermeister groß gewesen, welche bekannte Persönlichkeit in dem Ort gelebt hatte – unerkannt und sein Leben nach der DDR »eher im Verborgenen«, wie es in einem Zeitungsbericht heißt.

In Bitterfeld selbst sorgte inzwischen eine Ausstellung zum Bitterfelder Weg mit dem Titel »Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. Bitterfelder Wege« (Finissage: 29.9.2024, Bitterfeld-Wolfen, Musik­galerie an der Goitzsche) für einige Auseinandersetzungen, als deren Kuratorin, die Kunsthistorikerin Katharina Lorenz, Bilder des Malers und Zirkelleiters in der Filmfabrik Wolfen Walter Dötsch historisch bewertete. So sei das Werk »Brigade Nicolai Mamai« unter »Sakralisierung der Arbeit in der offiziellen Kunst in der DDR« mit stark religiösen Zügen einzuordnen und die vorgebliche Gleichberechtigung der Frau Blendwerk: Anhand des Triptychons »Ein Tag aus dem Leben der Martha Gellert« interpretierte Lorenz, dass die Emanzipation der Frauen in der DDR lediglich aus ökonomischen Zwängen heraus vollzogen worden seien. »Keineswegs (war sie) das Ergebnis eines ehrlichen Interesses und gesteigerten Bewusstseins für die Gleichberechtigung der Geschlechter, wie es nach außen zelebriert wurde, sondern entsprangen der bloßen Notwendigkeit zur Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und Stabilität.«

Daraufhin schrieb der Bernhard-­Franke-Förderverein einen Leserbrief an die regionale Mitteldeutsche Zeitung. Die porträtierte Martha Gellert sei nicht etwa, wie von der Kuratorin vermutet, eine fiktive Person, sondern »eine Schichtmeisterin aus dem Chemiekombinat Bitterfeld«. Als solche diente sie – wie viele andere »Meister, Brigadiers und Arbeiter« – dem »Zirkel für bildnerisches Volksschaffen« als Modell. Die am Arbeitsplatz und im Alltag Porträtierten ihrerseits lernten »zum Teil erstmalig in ihrem Leben den Bereich der bildnerischen Kunst kennen«.

Das alles hätte die Kuratorin durchaus erfahren können. »Eine gründliche Literatur- und Quellenrecherche als auch Gespräche mit damaligen Protagonisten hätten vor den Fehlschlüssen und Missinterpretationen von Frau Lorenz bewahren können. Es ist schade, dass heutzutage vor allem im Bereich der Wissenschaft weder die Geschichte der DDR noch die damalige Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen differenziert betrachtet wird.«

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Blick in die Ausstellung »Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. – Bitterfelder Wege« in Bitterfeld-Wolfen

Der Leserbrief wurde nicht veröffentlicht – und manchmal scheint die besonders in den vergangenen Jahren, sicherlich auch als Gegengewicht und korrigierendes Pendant, im Umgang mit der DDR über »Oral History« aufgeblühte Feldforschung, in der Zeitzeugen selbst ihre »Geschichte von unten« erzählen, noch nicht angekommen zu sein und dass statt dessen weiterhin die alten Schwarzweißklischees bedient werden sollen.

Dabei wäre es auch angesichts der davonlaufenden Zeit so dringlich. Noch gibt es die ehemaligen Zirkelmitglieder, Frauen wie Eva Elster, geboren 1937, Lehre als Feinmechanikerin und Elektrikerin; Angelika Tübke 1935 in Dessau als Angelika Hennig geboren, die als junges Mädchen im Zeichenzirkel Dötsch mitmachen kann, weil: »In der Schule war nicht viel«, so die später Studierende und freiberufliche Malerin; auch Männer wie der Brigadier Lutz Czaja, Jahrgang 1944, der »im Ferienlager der Filmfabrik ›Max Reimann‹ in Breege an der Ostsee« ein Angebot »für interessierte Kinder« annahm und wenig später im Jugendzirkel des Betriebs landete. Bis heute begleiten ihn die von Dötsch vermittelten Grundlagen der Malerei, sagt er ebenso wie viele andere. Der Ingenieur Dieter Beck beispielsweise, Jahrgang 1951, erlebte, wie ihm Dötsch »beim Malen stumm über die Schulter« schaute, ganz spontan »Mach mal Platz« sagte und kleine Korrekturen vornahm.

Oder Gisela Gramsch, die 1980 nach dem Studium in Karl-Marx-Stadt in der VEB Filmfabrik Wolfen anfing, in der Konstruktionsabteilung. Zwar sei die Erinnerung daran, wie sie dann zum Malzirkel kam, »verblasst«, doch fand sie sich auf Fotos von 1984. Später wechselte sie den Arbeitsplatz – aus dem Zirkel hatte sich nach der DDR seit 1992 der »Malverein Neue Schenke« entwickelt, und sie stieg wieder ein – »nun unter der künstlerischen Leitung von Klaus-Dieter Ullrich«.

Was die häufig zitierten ideologischen Ziele des Zirkelwesens in der DDR betreffe, habe sie persönlich nichts davon gespürt, berichtet Gisela Gramsch. Wenn man sich allerdings anschaue, dass »Ausstellungen zum Beispiel zu einem Republikjubiläum aufgebaut wurden«, könne man wohl von politischen Hintergründen ausgehen. »Betrachtet man aber die Motive in diesen Ausstellungen, bilden sie das Leben ab, und in den 80er Jahren wehen keine Fahnen auf den Bildern.«

Das Kunstkollektiv in Wolfen, so Marc Meißner über den Malverein »Neue Schenke«, habe »zu den ersten Vereinigungen des bildnerischen Volksschaffens in der DDR 1949« gehört, und vor 75 Jahren sei auch »die erste eigene Ausstellung in der Filmfabrik« gelaufen. »Unter den Laienkünstlern fanden sich vornehmlich noch Männer, vom Chemiewerker über Gärtner bis hin zum Architekten.« Mit der Stenotypistin Eva Salzer sei lediglich »eine mutige Frau« dabeigewesen, doch schon zwei Jahre später habe sich dies »schlagartig « geändert und durchgängig gehalten.

Mit Unterstützung durch Betrieb und Gewerkschaft sei der Gruppe Walter Dötsch an die Seite gestellt worden, der »besonderen Wert auf ein kunsthandwerkliches Grundlagenstudium und Theorievermittlung von Anatomie über Perspektive bis hin zum Bildaufbau legte«. Und auch Lore Dimter, der die zweite Ausstellung dieses Tages gewidmet ist, sagt, von dem, was Dötsch sie »von der Pike auf« gelehrt habe, zehre sie noch heute.

Dimter, geboren als Lore Hertel 1939 in Wolfen, einst technische Zeichnerin im EKB und Mitglied im Malzirkel des Kulturpalastes seit 1956, sollte weit über das Chemiekombinat und die Stadt hinaus zu einer bekannten Künstlerin werden, eng dem »Bitterfelder Weg« verbunden und insofern Teil eines der großen Projekte der noch jungen DDR von 1959. Ein spannendes, weil heutzutage stiefmütterlich behandeltes Thema.

Um so wichtiger wäre es, so mein Eindruck, mehr über den »Bitterfelder Weg« im Rahmen des Gesellschaftsprojekts Sozialismus in der DDR zu forschen, zu archivieren, zu debattieren, Authentizität zusammenzutragen, und nicht ewig das bekannte Muster zu reproduzieren, wonach die Partei beschließt, immer recht hat, und die Untertanen tun wie ihnen geheißen. Dass diese jedoch nicht auf den Kopf gefallen sind, passt nicht so recht in eine derartige Geschichtsdeutung und erst recht nicht zu einer Voraussetzung von Kunst, dem eigenen Vermögen und dem eigenen Denken und Meinen.

Zudem ließe sich über den »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« (Friedrich Engels) insbesondere unter sozialistischen Bedingungen gerade auch deswegen blendend diskutieren, weil die Ökonomie nicht von Profitprinzipien gelenkt wird, was sich an mehr festmachen lässt, als der von allen Aktiven immer wieder erwähnten Selbstverständlichkeit, dass fast alles nahezu »kostenfrei« gewesen sei, von den Materialien über die Ateliers bis hin zu 14-Tages-Lehrgängen in »einem der vielen Ferienheime der Filmfabrik« (Dieter Beck), und aus betrieblichen Fonds finanziert wurde – auch die Lehrtätigkeit von beispielsweise Dötsch und Franke.

Dementsprechend verstand ich auch die Ausstellung von 85 Werken aus dem beeindruckenden Schaffen Lore Dimters als Fortsetzung des »Bitterfelder Weges« unter kapitalistischen Rahmenbedingungen. Die früheren Werke wie das ausgestellte »Kollegin Hoffmann« zeichneten vor allem die realistische Exaktheit in Grafiken und Porträts aus, danach bestechen farbintensive Landschaften, zarte Aquarelle und selbst Abstraktes, so Marc Meißner in seiner Laudatio. Dimter habe es geschafft, »sich stilistisch von ihren Lehrern zu lösen und ein eigenes Werk in einer bemerkenswerten technischen Breite« zu kreieren, »außergewöhnliche Stimmungen zu erkennen und einzufangen«.

Sicher, die riesigen Produktionsstätten in Bitterfeld-Wolfen sind verschwunden – am Rande bemerkt: mit ihnen auch die schweren Umweltbelastungen –, im Chemiepark produzieren inzwischen mehr als 80 chemische Betriebe meist unter dem Dach westdeutscher Konzernzentralen, Zulieferer nicht mitgezählt. Die 2008 aus Bitterfeld und Wolfen fusionierte Stadt von einst 79.000 Einwohnern ist auf weniger als die Hälfte geschrumpft, die Rechtspopulisten sind auch hier im Aufwind, der Oberbürgermeister seit 2017, Armin Schenk (CDU), ein geborener Wolfener, konnte sich 2023 erst in der Stichwahl gegen den AfD-Kandidaten mit 53 Prozent der Stimmen durchsetzen.

Als Schirmherr spricht er auch auf der Dimter-Ausstellung. Das Kellergewölbe des Alten Rathauses ist frisch renoviert, und erstmals seit zwanzig Jahren wird wieder ausgestellt. Reinhard Waag habe ihm erzählt, so Schenk zu Beginn seiner Rede, dass die letzte Veranstaltung 2004 aus Anlass des 50. Jubiläums des Kulturpalastes gelaufen sei. Jetzt steht der 70. Jahrestag bevor, zum aktuellen Status des Hauses und zu dessen Zukunft äußert er sich nicht.

Trotzdem überwiegt bei denjenigen, die ich treffe, Hoffnung auch bezüglich des »Kupa« und eines zukünftigen Konzepts, in dem dann auch Raum für den historisch ambitionierten »Bitterfelder Weg« eingeräumt werden sollte. Von dem hatte der Schriftsteller Kurt Barthel (»KuBa«) 1959 prophezeit, er würde »ein bitterer Feldweg werden«. Dass er aber Jahrzehnte nach der DDR, nicht nur in Werken der bildenden Kunst und Literatur, in Filmen und Musiken, sondern auch in vielen Menschen, die ihn einst betreten hatten, weiterlebt, lässt sich nicht leugnen. Ob allerdings der bisherige, überwiegend ideologisch ausgerichtete Umgang mit ihm einem differenzierten, historisch angemessenen weichen könnte …? Für zukünftige Versuche, Arbeit und Kunst einander näherzubringen, wäre das auf alle Fälle nützlich.

Reinhard Waag stellt mir nun Patrick Stansch vor, geboren 1998, Industriekaufmann, Freizeit-DJ, Kulturaktivist und auch Mitglied im Bernhard-Franke-Förderverein. Er war einige Tage vorher in einer Radiosendung interviewt worden (DLF Kultur, 18.6.2024), in der er die Vergangenheit mit der Gegenwart verglichen hatte. »In der DDR gab es die Doktrin, dass man Werktätige an Kunst und Kultur heranführen wollte.« Es habe vielfältige Kurse und Zirkel gegeben, und das Kombinat habe dafür gesorgt, »dass das möglich gemacht ­wurde«.

Heute müsse man sich selbst kümmern. »Wenn wir das nicht machen, dann verschwindet diese vor allem auch kunstgeschichtlich sehr wertvolle Kunst, verschwindet in Archiven und wird dann nie wieder gesehen.« Das sei eine »ganz schlimme Sache«, und man müsse einfach »dagegen wirken«. Das geschieht, und auch der Malverein »Neue Schenke«, so dessen Vorsitzende Martina Schmidt, habe unbedingt eine Zukunft. »Es wird ihn weiter geben.«

»Lore Dimter. Ein Leben für die Kunst«, Jubiläumsausstellung im Kellergewölbe im Historischen Rathaus, Bitterfeld, bis 31. August 2024

»Vom Malzirkel der Filmfabrik zum Malverein Neue Schenke«, Ausstellung im Industrie- und Filmmuseum Wolfen, Bitterfeld-Wolfen, bis 31. Juli 2024

Marc Meißner: Mit Pinsel und Farbe zwischen Kohle und Chemie. Hrsg. vom Bernhard-Franke-Förderverein e. V. Theuerdank-Verlag, Königsbrunn 2023, 185 Seiten, 15 Euro

Eckhart J. Gillen/Katharina Lorenz (u. a.): Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. Bildende Kunst, Literatur und Musik auf dem »Bitterfelder Weg«. Hrsg. vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 160 Seiten, 16 Euro

*

Gerd Schumann lebt und arbeitet als Autor in Berlin und Mecklenburg. Jüngste Publikationen: »Patrice Lumumba«, Köln 2024; »Basiswissen Kolonialismus« (2. Aufl.), Köln 2024; »Kaiserstraße. Der deutsche Kolonialismus und seine Geschichte«, Köln 2021. An dieser Stelle schrieb er zuletzt (1./2. Juni 2024) über Alex Weddings Jugendroman »Ede und Unku«, von den Nazis verbrannt, in der DDR Schullektüre

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (20. Juli 2024 um 14:36 Uhr)
    Dem Kulturpalast in Bitterfeld ist noch ein langes und kreatives Leben zu wünschen. Und zu wünschen ist auch, dass nicht Leute wie Frau Katharina Lorenz die Interpretationshoheit über das Leben der Frauen in der DDR behalten. Nur wir wissen, wie wir gelebt und gearbeitet haben. Viele Frauen hatten Familien, haben Kinder großgezogen und sich trotzdem über die Arbeit definiert. Der Großteil der Menschen in der DDR hatte Kultur verinnerlicht. Das war nichts Außergewöhnliches; Kultur war in der DDR subventioniert, und so konnte jeder die Art Kultur genießen, die ihn interessierte und für ihn wichtig war. Aha, die »vorgebliche Gleichberechtigung« der Frau war also Blendwerk! Nun, Ahnungslosigkeit in beträchtlichem Maße, Missverstehenwollen und Ignoranz trüben hier den Blick. Leider sieht es mit der heutigen »Gleichstellung« der Frau um einiges übler aus!

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