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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 1 / Titel
Altersarmut

Arm, alt, ostdeutsch

Mehr als eine Million haben in BRD nach 45 Beitragsjahren keine 1.200 Euro Rente, besonders viele im Osten
Von Alexander Reich
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»Auch wer den größten Teil seines Lebens jeden mies bezahlten Job annimmt …« (Symbolbild, Unterführung in Halle-Neustadt)

Mehr als eine Million Menschen haben in Deutschland mindestens 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt – und am »verdienten Lebensabend« keine 1.200 Euro im Monat raus. Wobei im Westen nicht mal jeder fünfte betroffen ist, aber im Osten jeder dritte. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Sahra Wagenknecht hervor, die am Montag über dpa bekanntgemacht wurde.

Mit 1.200 Euro über den Monat zu kommen, ist kaum möglich. Viele der 1,08 Millionen, die nicht einmal soviel Rente beziehen, müssen Grundsicherung beantragen. Auch wer den größten Teil seines Lebens jeden noch so mies bezahlten Drecksjob annimmt, um bloß nicht auf die Ämter angewiesen zu sein, kommt am Ende nicht um deren Willkürbescheide drumrum. Zu verdanken haben die Rentnerinnen und Rentner diese finale Demütigung nicht zuletzt der SPD, die mit ihrer »Agenda 2010« Niedriglöhne durchsetzte, um die Profite der Konzerne abzusichern.

Sicherlich, einige der 1,08 Millionen mit unter 1.200 Euro haben zusätzliche Einnahmen. Sie haben eine Privatversicherung abgeschlossen oder vermieten eine Wohnung. Beides für Westdeutsche sehr viel normaler, die Rücklagen der Ostdeutschen sind dürftig geblieben. Und die Altersarmut ist im Osten weiter verbreitet. 145.000 der 1,08 Millionen Rentner mit weniger als 1.200 Euro leben in Sachsen, geht aus der Regierungsantwort hervor. In dem Bundesland ist das ein Anteil von 39,95 Prozent an allen Rentnern. Knapp hinter dem Höchstwert folgt Thüringen mit 39,15 Prozent (74.000 Armutsrentner). Auch in Brandenburg liegt der Anteil mit 33,49 Prozent (71.000 Rentner) noch deutlich über dem Bundesdurchschnitt von einem Fünftel.

Die BSW-Chefin fragte auch die Durchschnittsrente nach 45 Versicherungsjahren ab. Bundesweit sind das 1.604 Euro. Im Westen, Stand Dezember 2023, 1.663 Euro, im Osten 1.471 Euro. Angeführt von Hamburg mit 1.721 und Nordrhein-Westfalen mit 1.709 Euro, liegen alle westdeutschen Länder sowie Berlin über 1.600 Euro. Darunter liegen Brandenburg (1.500 Euro), Sachsen (1.458 Euro), Mecklenburg-Vorpommern (1.455 Euro), Sachsen-Anhalt (1.452 Euro) und Schlusslicht Thüringen (1.437 Euro) – die ostdeutschen Flächenländer.

Solch mickrige Altersbezüge, die »auch noch hoch besteuert« würden, machten die kommende Bundestagswahl zur »Volksabstimmung über die gesetzliche Rente«, wurde Wagenknecht von dpa wiedergegeben. Vorher gibt es im Herbst drei Landtagswahlen im Osten. Die Chefin der Kaderpartei forderte in ihrer Antwort auf die Regierungsantwort eine »Rentensteuerbremse« und eine gesetzliche Kasse »nach dem Vorbild Österreichs«. Dort läge die Durchschnittsrente 800 Euro höher. Auch, weil Unternehmer mehr einzahlen als ihre Beschäftigten. In Deutschland ist es andersherum.

Welche Rolle höhere Beitragssätze für »Arbeitgeber« im BSW-Wahlkampf spielen werden, bleibt abzuwarten. Und das, während die Ampelregierung das ganze Rentensystem sehenden Auges an die Wand zu fahren scheint. Für eine Anhebung um 4,57 Prozent hat es zuletzt noch gereicht, aber das war kein Inflationsausgleich, und neuerdings sollen nun die Zuschüsse des Bundes an die Rentenkasse drastisch gekürzt werden. Die Ampel will extra dafür ein »Haushaltsbegleitgesetz 2025« erlassen, die FDP bekanntlich am liebsten gleich die ganze Kasse an die Börse bringen. Rette sich, wer kann.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Hans-Joachim Börner aus Grünheide (26. Juli 2024 um 11:54 Uhr)
    Gut gemeint, ostdeutsche Altersarmut öffentlich zu machen, leider nimmt aber der Artikel von Alexander Reich und vermutlich auch die Anfrage Sahra Wagenknechts an die Bundesregierung statistische Eingrenzungen vor, die die wahre Brisanz der Altersarmut im Osten verschleiern. Wie selbstverständlich wird die Grenze der 45 Beitragsjahre in die Rentenversicherung gesetzt, aber dabei vergessen, das nach Abwicklung der DDR-Volkswirtschaft es für die dort mehr als acht Millionen Beschäftigten ein Glücksfall war, sich ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsrechtsverhältnis zu bewahren. Die gab es hauptsächlich nur im öffentlichen Dienst. Ganze Berufszweige starben aus, Industrien wurden verlagert oder abgewickelt, Beschäftigte vom Arbeitsmarkt verdrängt. Wenigstens zwanzig Jahre hielt diese Situation nach Untergang der DDR an. Prekäre Arbeitsverhältnisse als Scheinselbständige oder Handelsvertreter auf Honorarbasis wurden zur Regel. Dazu schwindelerregend steigende Haushaltskosten und Mieten, die den Wunsch nach freiwilliger Rentenversicherung für viele unmöglich machten. DDR-Arbeitsbiographien blieben bei neu geschaffenen Arbeitsplätzen zweite Wahl. Ein dramatischer Bevölkerungsaustausch vollzog sich. Durch die »Agenda 2010« wurde die Situation verschärft. Wer es geschafft hatte, sich bis dahin irgendwie in prekären Arbeitsverhältnissen durchzuschlagen, dann aber in angegriffener Gesundheit, oder aufgrund fehlenden Eigenkapitals aufgeben musste, dem blieb Hartz IV und der wurde bereits ab dem 56. Lebensjahr nicht mehr in reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse vermittelt. Selbst Minimalbeiträge zur Rentenversicherung wurden vom Gesetzgeber gestrichen. Rentenbeitragsjahre für über 56jährige in Hartz IV gab es somit nicht mehr. Die wurden dann vorfristig in Rente geschickt, natürlich mit weiteren Abschlägen ihres Rentenanspruchs. Da ist es soziales Unrecht, wenn die Anspruchsberechtigung von Rentnern an Bürgergeld zur Aufbesserung ihrer Minirente an 45 Beitragsjahren ausgemacht wird.

    Die zweite Verharmlosung ist die statistische Untergrenze von 1.200 Euro. Für diejenigen, denen es verwehrt blieb, 45 Jahre lang in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen im Osten zu leben, denen ist es auch fast unmöglich, eine Rente von mehr als 1.200 Euro zu erhalten. Aber das ist nur das anerkannte Existenzminimum! Wovon leben die, die noch weniger Rente beziehen, keine 900 Euro, 800 Euro oder noch weniger, wie die, die in Folge von Unfällen, Erkrankungen in Arbeitsunfähigkeit Rentenanträge stellen mussten? Wie viele sind davon strittig oder werden nicht anerkannt, weil Krankheiten nicht anerkannt oder nachgewiesen werden können?

    Und sind nicht gerade im Alter die Gesundheitskosten der explodierende Kostenanteil an den Lebenshaltungskosten? Es ist lebensfeindlicher Zynismus, wenn Statistiken in ihrer Tiefe und Gliederungen diese Widersprüche nicht aufzeigen und demzufolge von gutmeinenden Politikern nicht aufgegriffen werden. Soziale Ausgrenzung ist gestohlenes Menschenrecht!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. Juli 2024 um 00:02 Uhr)
    Unternehmer zahlen auch in Österreich nicht mehr ein als ihre Beschäftigten. Sie zahlen nur einen höheren Anteil vorenthaltenen Lohnes ein als die deutschen. Aber es wäre zuviel verlangt, Sozialpartnerschaft und Sozialklau zu thematisieren, auch von Frau Wagenknecht.
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (22. Juli 2024 um 22:44 Uhr)
    Einst sprachen die Herrschenden und ihre Helfer der einstigen BRD von den lieben Brüdern und Schwestern im Osten, denen unbedingt geholfen werden muss. Die Erfahrung lehrt indes, dass es mit der Geschwisterliebe oftmals nicht weit her ist. 1989 stampften viele einstige DDRler zornig mit den Füßen auf, skandierten heftig, dass sie das Volk seien, zerstörten mit ihre vorherige Geborgenheit und müssen nun verbittert erkennen, dass der sogenannte goldene Westen eher goldige Vorstellungen in den Köpfen vieler DDR-Bürger generierte.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (22. Juli 2024 um 20:36 Uhr)
    Das ewig gleiche Lamento, während die Polit-Verbrecher sich auf Kosten des arbeitenden Volkes fortwährend selbst mästen und überversorgen. Aber die konsumverblendeten Ossis wollten ja den Kapitalismus. Und sie haben ihn bekommen. Und uns haben sie devot die Löhne und Gehälter unterboten und so auch die späteren Renten der Westler mit in die Tiefe gezogen. - Das Resultat: Vereint in Armut beim Flaschensammeln, statt gemeinsam flanierend durch »blühende Landschaften«. Als ob irgendein Kapitalist jemals ein Weihnachtsmann gewesen wäre und auch nur das Geringste zu verschenken gehabt hätte!
    • Leserbrief von Matthias Oehme aus Berlin (23. Juli 2024 um 14:23 Uhr)
      Landschaften ohne Staffage. Die Wahlsieger über Helmut Kohl gefielen sich darin, den Exkanzler dafür, daß er den DDR-Bürgern »blühende Landschaften« versprochen hatte, als den größten Lügner hinzustellen. Hacks verteidigte Kohl gegen das Mobbing. Man kann nicht ehrlicher vorgehen als dieser Politiker, sagte er. Hat er mit irgend einem Wort etwas von »fröhlichen Menschen« angedeutet? (eine Hacks-Anekdote, mitgeteilt von Matthias Oehme)

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