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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Jazz

Mr. Stańko, wie haben Sie das gemacht?

Zweifacher Nachhall eines großen Trompeters
Von Andreas Schäfler
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Die Visitenkarte macht knack: Tomasz Stańko

Tomasz Stańkos Tod mit 75, gerade mal sechs Jahre her, war ein großer Verlust und ist es noch immer. Aber was hat der polnische Trompeter nicht alles hinterlassen: an die 40 Platten, die vom steten Wachstum seines emanzipierten Jazzverständnisses künden, zahllose unauslöschliche Konzerteindrücke weltweit und – fast am wichtigsten – eine ganze Reihe brillanter junger Musiker, die er als Mentor quasi großzog, in seinen Bands ertüchtigte und schließlich in die Umlaufbahn entließ.

Jetzt hat das ECM-Lable Stańkos Münchner Konzert von 2004 veröffentlicht, das sämtliche Kriterien einer musikalischen Sternstunde erfüllt. Im bestens eingespielten Quartett schöpft man aus einem breiten Repertoire, das zuvor auf ausgedehnten Tourneen hatte reifen können. Stańko, im Zenit seines Schaffens und ein Charismatiker an seinem Instrument, ist in bestechender Form. Hellwach agieren auch seine versierten Begleiter Marcin Wasilewski (Klavier), Sławomir Kurkiewicz (Bass) und Michał Miśkiewicz (Schlagzeug). Der Konzertsound ist transparent, raumgreifend und vorzüglich abgemischt.

Klappt bis heute

Und was wurde gespielt in besagter »September Night«? Jazz vielleicht? Wenn, dann ist er aller Stereotypen entkleidet. Stańko war da längst in musikalische Gefilde vorgedrungen, die sich stilistisch kaum mehr kartographieren lassen. Slawische Liedfetzen, klassisch-romantische Motive, Lautmalereien von grell bis gedeckt, Blue Notes eher vereinzelt – was hier um sich greift, ist frei fließende, immer eloquente Kommunikation. Dem Jazz verpflichtet ist vor allem die Haltung, alles aufs Spiel zu setzen, ob tiefes Empfinden oder ungehemmten Überschwang. Und nebenbei bestätigt sich einmal mehr die Gültigkeit des Mottos, mit dem ECM einst antrat: Musik einem Publikum zu erschließen, das es auf Jazz gar nicht explizit abgesehen hat. Klappt bis heute einwandfrei.

Man kann aber durchaus noch mal zurückblenden: Free Jazz sei eine »der freiesten Vorwegnahmen einer jeden zukünftigen demokratischen Kultur«, konstatierte 1979 der streitbare Kritiker Wilhelm E. Liefland. Auf Werk und Wirkung von Tomasz Stańko angewandt, trifft diese Diagnose voll und ganz. Als junges Talent in Kraków hatte er unter anderem mit Polanskis Leib- und Magenkomponisten Krzysztof Komeda die polnische Szene aufgemischt, war mit seinem leicht angerauhten Ton schon früh auch im Westen aufgefallen und zählte bald zu den Pionieren, die dem europäischen Jazz das Sperrige austrieben.

Zum Beispiel mit jenem legendären Quintett, dem unter anderem auch der Geiger Zbigniew Seifert angehörte und das in Deutschland vom Jazzpapst J.-E. Berendt bis runter zum festivalerprobten Fußvolk eine Zeitlang fast kultisch verehrt wurde. Aus dieser Ära stammt »Wooden Music«, 1972 live in Bremen aufgenommen und kürzlich von der Stańko-Stiftung herausgebracht. Im Unterholz raschelt das Schlagzeug, darüber röhrt ein Saxophon, Geige und Kontrabass türmen klafterweise Akkorde auf, in die Stańkos metallischer Trompetenstrahl hineinfräst: eine Free-Jazz-Variante, die mit der Schubkraft von Rockmusik über die Rampe kam. Das klang wild und gefährlich, auch sehr entschieden links, ja kommunistisch, und die Musiker sahen nicht nur aus wie Freaks, sondern pflegten auf Tour auch gern in den nächstgelegenen Landkommunen unterzuschlüpfen. Dies und mehr ist in der üppig bebilderten Begleitbroschüre »The Story Behind Wooden Music« dokumentiert. Auch, dass die Musiker damals hübsche Visitenkarten aus Holz verteilten, die vernehmlich »knack« machten, wenn man sie faltete.

In Vollendung

Als Dokumente von Livekonzerten strahlen beide Platten manchmal etwas ungewollt Gediegenes aus, denn Publikumsreaktionen sind komplett ausgeblendet. Kein Hüsteln nirgends, geschweige denn Applaus. Doch sobald bei der »September Night« eine wohnzimmerhafte Ergriffenheit aufkommen will, wird man von einem verrückten Klavierschlenker gefoppt oder mit einer überraschenden Bass/Schlagzeug-Attacke konfrontiert. Und bei der »Wooden Music«, die als sechsteilige Suite ohne Punkt und Komma durchrauscht, ist man sowieso ganzkörperbeteiligt und am Schluss etwas außer Puste.

Denn auch der Free-Jazz-Stańko war bereits ein As auf seinem Instrument und konnte es als Solist selbst mit dem Geigenderwisch »Zbiggi« Seifert aufnehmen. Das gleichberechtigte Improvisieren aber, das er zuletzt mit Marcin Wasilewski in Vollendung betrieb, ist schlicht einzigartig. Dem Trio dieses Pianisten weiter auf den Fersen zu bleiben lohnt sich indessen auch. Etliche eigene Veröffentlichungen bestätigen Tomasz Stańkos damalige Prophezeiung: »Ich bin jeden Tag von diesen Musikern überrascht. Und sie werden immer besser und besser.«

Tomasz Stańko: »September Night« (ECM)

Tomasz Stańko: »Wooden Music 1« (Astigmatic Records)

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