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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Evolutionstheorie

Natur ohne Zwecke

Die unzulässige Übertragung der Evolution auf gesellschaftliche Verhältnisse. Eine Ergänzung zu Daniel H. Rapoports Beitrag
Von Robert Giegerich
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In etwa so muss sich Herbert Spencer »Survival of the Fittest« vorgestellt haben. Hirschkäfermännchen beharken sich

In seinem Beitrag vom 9. Juli 2024 auf dieser Seite weist Daniel H. Rapoport darauf hin, dass die gängige Vorstellung von der Evolution der Lebewesen (vorgestellt als »Survival of the Fittest«) als ein Prozess des immanenten Fortschritts, hin zu einem »Besseren« oder »Höheren«, fragwürdig ist. Der Stammbaum des Lebens ist unendlich verzweigt. Verschiedene Zweige der Evolution stehen in keinem Verhältnis von höher und tiefer. Der Wolf konkurriert nicht mit der Schafgarbe, schreibt Rapoport. Wenn man Darwins Begriff der natürlichen Auslese unbedingt ein weiteres Prinzip hinzufügen wolle, wäre der »Erfolg« einer Gattung vielleicht in ihrem Alter zu sehen. Und da wäre Hormiphora californensis, eine Rippenqualle, der jungen Gattung Mensch etwa 700 Millionen Jahre voraus. Vom Last Universal Common Ancestor (LUCA), von der ursprünglichen Stammform allen zellulären Lebens, stammt alles ab, was heute lebt. 3,5 Milliarden Jahre oder mehr, das ist lange her, zeichnet aber niemanden besonders aus. Die Vorstellung vom »Höheren« führt Rapoport auf diese Weise treffend ad absurdum – aber warum ist sie dann so beliebt?

Die Evolutionstheorie löst das Rätsel, wie die zweckmäßige Ausstattung der Lebensformen, die für Überleben und Vermehrung erfordert ist, natürlich zustande kommt – nämlich in einem haarsträubend ineffektiven und verschwenderischen Zusammenwirken von Variation und Selektion, dem weder Sinn noch Zweck innewohnt. Dass die überwiegende Anzahl der Arten von Lebewesen, die die Evolution hervorgebracht hat, längst ausgestorben sind, ist kein Widerspruch zu ihrem Zweck – sie hat ja keinen.

Die Formel »Survival of the Fittest« geht nicht auf Darwin selbst zurück. Sie ist nicht die Essenz der Evolutionstheorie, sondern ihre erste Entstellung. Darwin hat sie in der fünften Auflage seines Standardwerkes als Zugeständnis an den damaligen Zeitgeist übernommen – vielleicht sein größter Fehler. Sie stammt von seinem Zeitgenossen, dem Soziologen Herbert Spencer, dessen Lebenswerk darin bestand, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit »auf die Gesellschaft anzuwenden«. Das riecht von vornherein nach Missbrauch. Denn in der Gesellschaft herrschen offensichtlich, was es in der Evolution nicht gibt: Zwecke. Die Gesetze der Ökonomie wandeln sich mit der Produktionsweise (ganz im Unterschied zu Naturgesetzen). Und immer sind Individuen und ihre Organisationen mit ihren Mitteln und Interessen unterwegs. Zu Spencers Zeit waren das die ersten Kapitalisten mit ihrem Kapitalvorschuss und Lohnarbeiter mit nichts als dem Besitz ihrer Arbeitskraft. Etwa zeitgleich mit Darwins Werk hat der Ökonom Karl Marx nachgewiesen, dass die Konkurrenz der Kapitalisten den Gang der Wirtschaft bestimmt, und dass die daraus resultierende Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander sie dazu verurteilt, in diesem krisenhaften Geschäft das Verschleißmaterial zu sein. Mit dem praktischen Urteil, dass ihr Versuch, in diesem Verhältnis ein Auskommen zu suchen, ein Fehler ist und das Gegenteil von Anpassung geboten ist.

Was ist mit einer »Anwendung der Evolutionstheorie« auf die Erklärung der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zu gewinnen? Sicher keine Erkenntnis, wohl aber die schöne Mär, dass die neue Klassengesellschaft einem in der Natur segensreich verankerten Prinzip gehorcht. Und das geht so: Das von Darwin entdeckte Prinzip der »natürlichen Zuchtwahl« wird im Ausdruck »Survival of the Fittest« aufgespalten in zwei Seiten – ein Ergebnis (das Überleben und die Vermehrung der Art) und einen Grund dafür (höhere Fitness). Fragt man sich, wodurch die höhere Fitness bestimmt ist, so findet man gar nichts anderes, Eigenständiges – es bleibt nur die Tatsache des Überlebens als Maßstab der »Fitness«. Diese Tautologie, die Aufspaltung des Begriffes in zwei gleichbedeutende Pole, dessen zweiter nun als Grund des ersten daherkommt, ist logisch unsinnig, aber fruchtbar im Falschen: Schon kann man sich die Anpassung als eine Leistung der Arten vorstellen, und das Überleben als ihren Erfolg, als Lohn dieser Leistung.

Auch dafür muss man die Evolutionstheorie übers Knie brechen. Sie hat aufgeräumt mit aller Teleologie in der Natur. Sie widerlegt auch die Vorstellung, dass Lebewesen sich aktiv an wechselnde Lebensbedingungen anpassen. Das Ergebnis der Selektion ist Angepasstheit, der Prozess der Variation ist jedoch keine Reaktion auf etwas oder Anpassung an etwas. Die Variation der Gene geschieht langsam, aber unaufhaltsam, sie geschieht zufällig und ziellos. Ändern sich die Lebensbedingungen, haben jene bereits entstandenen Varianten Glück, die dazu besser passen. Drückt man das so aus, dass die Arten überleben, weil sie am besten angepasst sind, hat man die gleiche Verdopplung wie bei der »Fitness«: Die bessere Angepasstheit erkennt man nur am Überleben. Schon steht der Gedanke vor der schiefen Bahn: Nimmt man Anpassung als Leistung der Arten und ihr Überleben als den Lohn dafür, nimmt man noch die gnadenlose Abstraktion hinzu, dass ja in der Gesellschaft wie in der Natur irgendwie »Konkurrenz« herrscht, ist man auch schon am Ziel: Man hat die Doktrin von der Leistungsgesellschaft als Prinzip in der Natur entdeckt. Wer Erfolg hat, hat ihn auch verdient, das ist im Leben auch nicht anders als in der Natur.

Wonach fragt also einer, der Phänomene der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft in eine Analogie mit der natürlichen Zuchtwahl zwängt? Er sucht einen natürlichen Schein, nach dem das moderne Ausbeutungsverhältnis zwar nicht mehr gottgegeben, aber doch durch die Natur bedingt ist. Insofern man also der Natur nicht widersprechen kann, erscheint es grundsätzlich vernünftig. Selbst die kriegerischen Händel imperialistischer Staaten bekommen so, begriffslos als »survival of the fittest« betrachtet, eine höhere Weihe. Was soll bei einer »Anwendung der Biologie auf die Gesellschaft« schon anderes herauskommen als eine Beweihräucherung des bürgerlichen Liberalismus, als dessen Apologet Spencer sich selbst auch verstand?

Als Faustregel: Wenn heute im gesellschaftlichen Diskurs – außerhalb der wissenschaftlichen Biologie – mit den Kategorien der Evolution argumentiert wird, ist immer Rechtfertigung, Schönfärberei, Ideologie unterwegs. Denn überall, wo Pläne, Zwecke, Interessen am Werke sind, hat die Evolutionstheorie nichts beizutragen.

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  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (24. Juli 2024 um 10:53 Uhr)
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  • Leserbrief von Bernd Jacoby aus Wiesbaden (23. Juli 2024 um 12:20 Uhr)
    Nicht auch »Gesellschaft ohne Zwecke«? Die vorgeschlagene »Faustregel« ist recht kühn, denn von einer wissenschaftstheoretischen Auslegung her kann die biologische Evolutionstheorie allerhand auch zur marxistisch fundierten Theorie der gesellschaftlichen Evolution beitragen, wenn man es denn nutzen will und Scheuklappen ablegt, die hier Faustregeln genannt werden. Beide Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Gegenstand sich auch vor ihrer jeweiligen Theoriebildung »entwickelte« und das auch weiter abseits der Theorie tun wird. Beide Theorien haben auch eine »technische« Anwendung erfahren, möglicherweise in beiden Strängen in vorschneller zweckhafter Anwendung der Theorie. Viel Stoff jedenfalls, produktiv nachzudenken. Man sollte es tun.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (22. Juli 2024 um 22:44 Uhr)
    Das schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht! Die vielen Materieansammlungen, die meinen, sie seien die Krone der Schöpfung, hätten weder Zweck noch Plan? Immerhin: Das, was sie »Regierungen« nennen, ist haarsträubend ineffektiv und verschwenderisch, also biologisch konsistent.

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