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Aus: Ausgabe vom 24.07.2024, Seite 12 / Thema
Sahel

Staat ohne Macht

In Niger kämpft das Militär um »die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität« gegen Islamisten und westliche Bevormundung in einem der ärmsten Länder der Welt (Teil 1)
Von Theo Wentzke
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In einem Land ohne Gewaltmonopol kommt das Volkseinkommen in erheblichem Maße informell zustande. Transport von Migranten von Niger nach Libyen

Vor ziemlich genau einem Jahr putscht sich in Niger das Militär an die Macht, setzt den gewählten Präsidenten ab und erläutert den Landsleuten und der interessierten Staatenwelt, warum: »Das Handeln des CNSP (Rat für die Rettung des Vaterlands) ist einzig und allein durch den Willen motiviert, unser geliebtes Vaterland zu bewahren angesichts einerseits der sich ständig verschlechternden Sicherheitslage in unserem Land (…) und andererseits der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Regierungsführung (…). Nein, die Ergebnisse entsprechen nicht den Erwartungen der Nigrer; nein, wir können nicht länger mit denselben bisher vorgeschlagenen Ansätzen fortfahren, da wir sonst Gefahr laufen, den allmählichen und unaufhaltsamen Untergang unseres Landes zu erleben. Deshalb haben wir beschlossen, einzugreifen und unsere Verantwortung zu übernehmen. Nicht ohne mehrfach versucht zu haben, in unserer Rolle als militärische Führer die Aufmerksamkeit der obersten gestürzten Behörden auf die Inkohärenz und Ineffizienz ihres politischen Umgangs mit den Sicherheitsfragen unseres Landes zu lenken« (General Abdourahamane Tchiani am 28.7.2023).

Der General ist gewiss überaus staatstragend, man nimmt ihn aber lieber nicht beim Wort: Das steht nämlich in einem ziemlichen Missverhältnis zur Sache, über die er spricht. Nicht deswegen, weil er die katastrophale Lage im Lande übertreiben würde – im Gegenteil: Mit »sich ständig verschlechternder Sicherheitslage« findet er einen eher zurückhaltenden Ausdruck für den Stand des gut zehnjährigen Krieges gegen grenzüberschreitende Dschihadisten, mit denen der nigrische Staat mit und trotz westlicher Unterstützung immer schlechter fertig wird. Aber wenn ihm beim Blick auf das landesweite Elend, das in die unterste UN-Statistikern bekannte Schublade gehört, die Phrase von »schlechter wirtschaftlicher und sozialer Regierungsführung« einfällt, dann fällt das zwar nicht aus dem Rahmen – diese Universalerklärung liegt ganz auf der Linie westlicher Entwicklungspolitiker, denen noch kein Fall von Armut in ihrer gesamten Weltordnung begegnet ist, den sie nicht auf die Versäumnisse lokaler Verantwortlicher zurückführen können, der also nicht durch deren Korrektur zu heilen sein müsste –, doch mit dem Grund des so überaus wenig staatsnützlichen Elends hat Tchianis Vorwurf an seinen Vorgänger nichts zu tun. Und erst recht schief ist seine eindringliche Beschwörung von »unserem Land« bzw. »geliebten Vaterland« und von den »Erwartungen der Nigrer« an ihre Regierenden; die suggeriert nämlich ein Verhältnis zwischen der nigrischen Staatsgewalt, ihrem Territorium und der dort hausenden Bevölkerung, das mit der Realität dieses Landes nichts zu tun hat.

Kaputtes Gewaltmonopol

Der Krieg selbst ist davon ein erstes, vielsagendes Zeugnis. Er betrifft zwar nur vergleichsweise kleine Regionen der gewaltigen Landmasse, die dem nigrischen Staat völkerrechtlich gehört, konzentriert sich aber auf die bevölkerungsreichsten Gegenden im Südwesten des Landes in den Grenzregionen zu Mali und Burkina Faso – dort auch die Hauptstadt Niamey – und im Südosten in der Region um den Lake Tschad, grenzend an Nigeria und Tschad. Geführt wird er gegen Dschihadisten – vor allem zwei Ableger des IS im Südwesten und Osten des Landes (ehemals Boko Haram) sowie einen Al-Qaida-Ableger. Mittlerweile taucht die Sahelzone in der IS-Propaganda als eines der bedeutendsten Schlachtfelder im internationalen Dschihad auf, so dass nicht nur lokale Rekruten zum Einsatz kommen, sondern auch zahlreiche Kämpfer aus der ganzen Welt. Dass die Dschihadisten auch in dieser Region Terroristen heißen und damit auffallen, dass sie die Sahelzone zur Gegend mit der höchsten Terroranschlagsdichte der Welt gemacht haben, bedeutet aber nicht, dass es sich bei diesem Feind bloß um eine überdimensionierte Terrorzelle handeln würde: Die Kämpfer vertreiben die Staatsmacht aus zahlreichen Gegenden und eignen sich alle dort vorhandenen substantiellen Einkommensquellen an – am geldträchtigsten sind da alle Arten von Schmuggel, die einerseits schon immer zur ökonomischen Ausstattung Nigers gehört haben, andererseits gerade in dem Kriegszustand gedeihen, den die Dschihadisten herbeiführen. Sie erobern Dörfer und unterwerfen sich die dortige Bevölkerung, besorgen sich die Mittel für ihren heiligen Krieg durch regelmäßige Raubüberfälle, deklarieren die Beute dann als ordentlich abzuliefernden Beitrag zur Sache des Islam und setzen ihre Auslegung islamischer Sittlichkeit gewaltsam durch. Wo sie auf Widerstand treffen, greifen sie zu den passenden Mitteln, um die Loyalität der muslimischen Gemeinschaft gegenüber ihrer neuen gottesfürchtigen Herrschaft herzustellen, etwa wenn sie in Strafaktionen ganze Dörfer niederbrennen.

So bringen sich die Dschihadisten immer erfolgreicher in Stellung gegen »die ungläubigen Regimes« – im Plural deswegen, weil sie nicht nur dem nigrischen Staat die Hoheit über Teile seines Territoriums streitig machen, sondern auch den anderen Staatsgewalten in der Nachbarschaft. Sie führen damit vor, dass der nigrische Staat faktisch keine Hoheit über seine gewaltigen Grenzen hat; er ist unmittelbar von dem Staatszerfall betroffen, der in der Sahelzone seit über zehn Jahren immer mehr um sich greift.

Die absolute Unfähigkeit der nigrischen Staatsgewalt, diese Herausforderung ihres Gewaltmonopols zu bewältigen, wird abermals unterstrichen durch den Hilferuf, den seine mächtigen westlichen Partner erhören: Frankreich organisiert diverse westliche Kriegskoalitionen, während die USA eine eigene Drohnenbasis im Land errichten. Nach einem Jahrzehnt hat der Koalitionskrieg freilich vor allem ein Resultat: Die »staatsfernen Räume« werden immer größer, die Reichweite des Staates immer geringer. Mit den wachsenden Erfolgen des Feinds geht die fortschreitende Selbstbewaffnung der eigenen Bevölkerung in den Gegenden einher, aus denen der nigrische Staat sich hat zurückziehen müssen. Was freilich nicht bedeutet, dass die einschlägigen Milizen dann eben selbst den Kampf gegen die Dschihadisten übernehmen. Eher kämpft das eine Dorf gegen das andere, ob es nun unter der Kontrolle der Dschihadisten oder der Vertreter einer anderen Ethnie liegt, die als dschihadistenaffin ausgemacht wird, um mit ihr ältere Rechnungen zu begleichen.

So mündet der Krieg in ein allseitiges Gemetzel, das den nigrischen Staat immerzu vor die Frage stellt, wie er sich auf die diversen Milizen beziehen soll und ob er überhaupt dazu in der Lage ist, solche Eigenmächtigkeit zu funktionalisieren oder zu unterbinden. Ein problematischer Fall ist da etwa die Selbstverteidigungsmiliz der Tuareg namens »Garde nomade«, weil diese Volksgruppe in der Vergangenheit durch gewaltsame Opposition gegen den nigrischen Staat aufgefallen ist. Deshalb bemüht er sich einerseits darum, diese Miliz möglichst in die eigene Befehlshierarchie zu integrieren, andererseits gesteht er damit praktisch ein, dass dieser Krieg, auch da, wo er ihn selber führt, zu immer größeren Teilen nicht auf den Machtmitteln beruht, die er dank westlicher Unterstützung überhaupt mobilisieren kann.

Das ist also die »sich verschlechternde Lage«, in der die Putschisten das Land auf dem Weg in den Untergang sehen. Tatsächlich ist dort das erste und entscheidendste Element eines jeden Vaterlands kaputt: das staatliche Gewaltmonopol. Und es ist auch sehr auffällig, wie wenig es dafür gebraucht hat: Kaum wird die nigrische Hoheit angefochten, schon erweist sie sich als unfähig, sich zu behaupten. Der nigrische Staat wird sofort zu einer Kriegspartei im eigenen Land, und trotz französischer und US-amerikanischer Unterstützung bleibt er eine extrem schwache. Nicht sehr verwunderlich die Verwunderung westlicher Beobachter, die sich fragen, wie bloße »Männer auf Motorrädern« dem nigrischen Staat die Hoheit über sein Land so effektiv bestreiten können. Die gar nicht überraschende Antwort, dass das weniger an der Stärke der Gegner als an der Schwäche des nigrischen Staates liegt, ist zwar richtig, aber nicht vollständig.

Der Zustand des nigrischen Gewaltmonopols zeugt nämlich davon, dass diese Herrschaft noch nie dafür gebaut gewesen ist, ihr Territorium effektiv zu beherrschen und die Bevölkerung zu ihrer Machtbasis zu formen. Davon hat diese Herrschaft offenbar nie gelebt. Der nigrische Souverän, völkerrechtlich als solcher anerkannt, mit eigenem Sitz in der UNO, also mit der Kompetenz ausgestattet, in seinem Interesse frei für ihn nützliche Beziehungen mit der Staatenwelt einzugehen, hat in dem Territorium und den Bürgern, über die seine Souveränität höchst offiziell anerkannt ist, nicht seine Machtbasis. Dieser Widerspruch der nigrischen Souveränität zeigt sich auch beim Blick auf die Ökonomie des Landes – auf den nationalen Reichtum und die Art seiner Bewirtschaftung.

»Reichtümer« statt Nationalreichtum

Besagte Bewirtschaftung hat ihren Ausgangspunkt in einem Geld, das dem nigrischen Souverän von außen spendiert wird: dem CFA-Franc. Eine Stiftung, die die ehemalige Kolonialmacht Frankreich gleich mit einer festen Wechselkursbindung – ehemals an den französischen Franc, mittlerweile an den Euro – verknüpft. Damit wird dem nationalen Zahlungsmittel CFA a priori eine Eigenschaft bescheinigt, die für Entwicklungsländer wie Niger – eigentlich – der ideale Zielpunkt ihrer monetären Ambitionen ist: ein Geld, das auch international als Wertträger anerkannt und als Zugriffsmittel auf all die Dinge tauglich und verwendbar ist, die der nationale Hüter für die Bewirtschaftung seines Standorts für nötig befindet. Genützt hat dieser Umstand für Nigers ökonomische Entwicklung nichts – was sich unzweifelhaft an den amtlichen Statistiken ablesen lässt, in denen diesem Land seit einigen Jahrzehnten ein prominenter Platz als Heavily Indebted Poor Country (HIPC) attestiert wird. So ein Land ist schließlich darauf angewiesen, dass es auch reichlich von dem Geld verdient, in dem es seinen Reichtum misst. Als materielle Grundlage staatlicher Macht ist dessen Förderung und Wachstum ein Muss, folglich die Mobilisierung aller verfügbaren Quellen dafür vorrangiges Ziel der Regierung.

Diesbezüglich setzt Niger vor allem auf seine »natürlichen Reichtümer« – hauptsächlich Uran, Gold und seit neuestem Öl. Wie in vielen »Rohstoffländern« ist auch in Niger deren Förderung nicht der erste Bestandteil einer nationalen kapitalistischen Produktionskette, in der mittels Ausbeutung von Arbeit und Anwendung von Kapital ein Gewinn erwirtschaftet wird, an dessen ökonomischem Resultat der Staat sich per Steuer bedient. Zu einer solchen landesweiten produktiven Kombination aus Kapitalreichtum und dafür nützlicher Armut hat es das Land nie gebracht; es verfügt zwar über Armut im Überfluss, aber das Kapital, das nötig wäre, um aus den armen Massen eine ordentliche Kapitalakkumulation herauszuwirtschaften, hat über sie längst das Urteil gefällt: nicht brauchbar.

Für den nigrischen Staat heißt das erst einmal, dass auch seine »natürlichen Reichtümer« schlicht und einfach kein Reichtum im marktwirtschaftlich einzig relevanten Sinne sind. Zu einem solchen werden sie nur, wenn sie in einen kapitalistischen Akkumulationsprozess eingehen, der im Ausland abläuft; nur dadurch werden sie für den nigrischen Haushalt nützlich. Dessen wichtigste autonome Quelle hängt also vollständig von den Bewegungen des Weltmarktpreises dieser Rohstoffe ab. Erschwerend kommt hinzu, dass es in seinem Land kein Kapital von der nötigen Größe gibt, das Rohstoffgeschäft national zu betreiben; Schürfrechte vergibt der nigrische Staat statt dessen an ausländische Konzerne, an deren Erträgen er sich beteiligt. Dass er zu diesen Operationen außer seine Hoheit über das Territorium nichts beisteuert, auf die Vergabe von Schürfrechten zugleich nicht verzichten kann, wird von den auswärtigen Käufern marktwirtschaftskonform ausgenutzt. So kommt in den nigrischen Kassen nur ein Bruchteil der Weltmarkterlöse an; von dem muss der nigrische Staat leben, er konnte das aber noch nie. Weder für die Aufrechterhaltung von Bürokratie und Militär noch für die Erhaltung und weitere Erschließung dieses Geschäfts haben die Einnahmen je gereicht.

Von seinem Volk lebt der Staat erst recht nicht. Dessen Überlebensbemühungen orientieren sich zwar auch alle am Erwerb seines nationalen Geldes, aber dieser Erwerb findet getrennt von den wichtigsten Geldquellen des Landes statt. Die ökonomische Aktivität des Volkes konzentriert sich auf den fruchtbareren Süden des Landes und besteht im wesentlichen in Landwirtschaft, in der mehr als 80 Prozent der 27 Millionen starken Bevölkerung arbeiten. Statistiker betrachten diese Landwirtschaft zwar in aller beruflichen Borniertheit als »Sektor«, dem sie als solchem einen Anteil am BIP in Höhe von rund 41 Prozent zurechnen – der Uranexport beträgt hingegen nur fünf Prozent –, darüber freuen kann sich der Staat freilich nicht, denn dieser »Sektor« ist kein Beitrag zu einem Nationalreichtum, von dem der Staat per Steuer leben könnte. Es wird zuallererst und zumeist für die Subsistenz der Bauern selbst produziert. Die untersten Schichten bringen es oft genug nicht einmal dazu, während im Normalfall neben der Subsistenz, soweit es geht, Viehzucht und/oder der Anbau von Cash Crops, also Markt- und Exportfrüchte, betrieben werden. Einen Markt gibt es also nur für etwaige Überschüsse über die Produktion für das eigene Überleben. Die fallen notwendigerweise wenig üppig aus, weil das Produktivitätsniveau der Landwirtschaft ganz von den »traditionellen Anbaumethoden«, d. h. fast ausschließlich durch die natürlichen Eigenschaften des Bodens und das Wetter bestimmt wird.

Und in dieser Hinsicht hat die nigrische Bevölkerung, die sich davon ernähren muss, das größtmögliche Pech. Denn fast die gesamte Bewässerung der nigrischen Landwirtschaft hängt am Niederschlagsniveau, weil kaum Bewässerungsinfrastruktur vorhanden ist, und selbst in den Regionen, in denen durchschnittlich genügend Jahresniederschlag für den Ackerbau vorhanden ist – und die werden wegen der Versteppung durch den Klimawandel immer kleiner –, schwankt die Niederschlagsmenge so stark, dass die Bevölkerung periodisch von Hungerkatastrophen heimgesucht wird. Diese totale Abhängigkeit von einer sehr schlechten Naturbedingung sorgt dafür, dass sich die Überschüsse weder als sichere Basis für die Ernährung der Bevölkerung in den Städten noch als insgesamt lohnendes Exportgeschäft bewähren. Denn zum Ausgleich für das schlechte Produktivitätsniveau der Landwirtschaft ist ein jährlich steigendes Importvolumen an Nahrungsmitteln notwendig, damit der Teil der Bevölkerung, der seine Nahrungsmittel einzukaufen in der Lage ist, das überhaupt kann – und um die Hungerleider auf dem Land kümmert sich weniger der Staat, sondern, wenn überhaupt, westliche Entwicklungsorganisationen und die UNO.

Die absolute Armut seiner Landbevölkerung ist zugleich ein Beitrag zu Nigers Sicherheitsproblem. Sie ist nämlich selbst eines: Gerade wegen der Untauglichkeit dieser Subsistenzökonomie kommt es auf jeden Quadratmeter Land an, sind also dessen Besitz und Nutzung selbst Gegenstand gewaltsamer Konflikte zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern entlang von ethnischen Linien.

Das ist die »Lebensperspektive«, die 80 Prozent der nigrischen Bevölkerung geboten ist, mit über 40 Prozent, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben. Ein paar wenige alternative Einkommensquellen gibt es freilich auch noch, zum Beispiel im »informellen Sektor«, der hauptsächlich in den Städten beheimatet ist und in dem ein Gutteil der dortigen Bevölkerung aktiv ist – mit dem Verkauf von Lebensmitteln, der Erbringung von allerlei Dienstleistungen und im Kleingewerbe. Dieser »Sektor« hat zwar eine ebenso beachtliche »Wachstumsrate« wie die Landwirtschaft, aber was da wächst, ist genauso wie in der Landwirtschaft nichts Kapitalistisches, sondern mit dem Wachstum der Bevölkerung bloß die Multiplikation von »self-employed service providers« (etwa: selbständige Dienstleister), die mit ihrem Geschick darum konkurrieren, die nächste Woche zu überleben. Dass der größte Teil der nigrischen Ökonomie informell stattfindet, ist also auch einfach zu erklären: Formalität kostet Steuern.

Dem Staat fehlt seinerseits der Apparat, diese Steuern zuverlässig einzutreiben – und so etwas wie eine zentrale Zusammenfassung des gesellschaftlichen Zahlungsverkehrs, wo der Staat nachschauen könnte, gibt es auch nicht; nur neun Prozent der Nigrer haben überhaupt ein Bankkonto. Sieben Prozent haben das »Glück«, in einem formellen Lohnverhältnis in kleinsten Betrieben – 0,5 Prozent haben mehr als fünf Beschäftigte – und unter Bedingungen, die von Lohnsklaverei oft genug nicht zu unterscheiden sind, oder beim Staat beschäftigt zu werden. Wer im Staatsdienst landet, kann sein Gehalt durch »Korruption« aufbessern, also die eigenmächtige Erhebung von kleinsten Summen und Verwicklungen in Geschäfte der nicht nur informellen, sondern illegalen Art: Es gibt zum Beispiel – ganz prominent – den Transport von Migranten im Norden, also Gelegenheiten fürs Verdienen an allem, was dazugehört: Wasserverkauf, Unterbringung etc. Die Stadt Agadez mit 118.000 Einwohnern im Norden Nigers und ein paar Dörfer an den wesentlichen Transportrouten des Landes leben davon. Dieses Geschäft hat mit dem Staat höchstens in der Form zu tun, dass die Transportkonvois sich an den Personalaustauschrhythmus der Armee halten, um als Schutz vor Überfällen in deren Gefolge zu fahren. Und die anderen wichtigen, illegalen Unterkategorien der Transportbranche leben überhaupt davon, mit dem Staat möglichst nichts zu tun zu haben: Niger ist ein wichtiges Durchzugsland für Drogen- und Waffenschmuggel, der sich die Schwäche des Staates im Verhältnis zur enormen Größe seines Territoriums zunutze macht. Auch daran ist der nigrische Staat dann aber doch beteiligt, wie es sich für ein Transitland gehört – so, dass Staatsbedienstete ihren Lohn aufbessern können. Ansonsten besteht der Bezug des Staates auf diese Überlebensbemühungen seiner Bevölkerung, die auch in Niger auf dem Papier ins Illegale reichen, hauptsächlich darin, dass er sie duldet und so zumindest praktisch als legitime Beiträge zum Überleben seines Volks anerkennt. Wenn er sie wirklich als illegal behandelt und gegen sie vorgeht, dann nur deshalb, weil er von außen für ordentliche Summen Weltgeld den Auftrag bekommt, sie zu bekämpfen.

Für diejenigen, die für die Ernährung von sich und ihrer Familie nichts oder nichts Ausreichendes finden, gibt es schließlich die Möglichkeit des irregulären Grenzübertritts: am seltensten in die Zentren des Imperialismus, dafür sind die meisten Nigrer schlicht zu arm, sondern in die Nachbarstaaten, vornehmlich Algerien. In der Regel bestehen die Beschäftigungsmöglichkeiten dort in informeller Tagelöhnerei, von der etwas für die Familie daheim abfällt, oft verbunden mit der Hoffnung, mit den Ersparnissen später in Niger als Teil des glorreichen informellen Sektors ein Geschäft zu eröffnen. Dabei handelt es sich um eine ziemlich unsichere Angelegenheit: Algerien veranstaltet immer wieder Razzien und Abschiebungen gegenüber Nigrern auf seinem Gebiet, weil es diese Migration im Verhältnis zu seinem eigenen Überfluss an kapitalistisch unbrauchbarer Bevölkerung als bloße Last definiert. Anders verhält es sich mit der Migration in die benachbarten ECOWAS-Staaten, weil die Staaten dieses Bündnisses sich in einem entsprechenden Freizügigkeitsabkommen wechselseitig anerkannt haben, so dass die zeitweise und dauerhafte Migration ihrer Bevölkerungen ein legitimer Bestandteil von deren Überlebensbemühungen ist.

Für den nigrischen Staat ist also der allergrößte Teil seines Volkes bloße Bevölkerung: Die Nigrer wohnen zwar auf nigrischem Territorium, sind aber in ihrer großen Mehrheit weder ökonomisch noch politisch seine Machtbasis – also auch nicht das Objekt seiner Bewirtschaftung und Pflege. Versuche, das nigrische Volk in Gänze, also vor allem die Landbevölkerung, zu einer sicheren Basis zu machen, gibt es in der nigrischen Geschichte zwar schon – meistens auf dem bescheidenen Niveau der Entwicklung einer Transportinfrastruktur auf dem Land, der Schaffung eines einheitlichen Agrarmarkts, der durch Kredite für die Entwicklung von Agrarkooperativen beförderten Zusammenlegung kleiner Parzellen, der Herstellung einer Bewässerungsinfrastruktur etc., damit die Nation »food self sufficient« (Nahrungsmittelselbstversorger) wird. Doch dieses Ideal hat sich nie damit vertragen, dass die chronisch überstrapazierten Staatsfinanzen – die letzten zehn Jahre nun auch noch durch einen eskalierenden Krieg – zuallererst die Erhaltung des Staates sowie die Erhaltung und weitere Erschließung seiner Rohstoffquellen gegen jede Idee einer nationalen Entwicklung geboten haben. So kommt es verlässlich zur beständigen Reproduktion dieses Nebeneinanders von absolutem Elend und den Selbstbehauptungsbemühungen des Staates – und dazu, dass das »geliebte Vaterland« in nichts weiterem besteht als in dem Standpunkt und Willen einer nationalistisch aufgeweckten Elite, Niger als solches haben zu wollen. Davon kann kein Staat leben.

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. Juni über die politische und ökonomische Lage in Peru.

Mehr zum Thema Niger in Heft 2/24 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. de.gegenstandpunkt.com/

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