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Aus: Ausgabe vom 25.07.2024, Seite 4 / Inland
Geflüchtete aus Syrien

Steilvorlage für Abschiebepolitiker

Union sieht nach Urteil aus Münster »neue Dynamik« in der Migrationsdebatte
Von Kristian Stemmler
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Geflüchtete bei der Ankunft in Gießen (11.10.2023)

Ein aktuelles Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) in Münster führt zu einer neuen Debatte über syrische Geflüchtete. Pro Asyl kritisiert das Urteil als realitätsfern, die Union nutzt es, um die Bundesregierung zu attackieren. Das OVG hatte laut Mitteilung vom Montag die Klage eines Syrers abgewiesen, der einen Schutzstatus angestrebt hatte. In dem Urteil vom 16. Juli stellte das Gericht fest, für Zivilpersonen bestehe in Syrien »keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit« infolge des Bürgerkriegs mehr.

Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, jubelte am Mittwoch, das Gericht habe »ein wegweisendes Urteil gefällt, das eine neue Dynamik in die Migrationsdebatte bringen könnte«. Zugleich sei der Spruch aus Münster eine »schallende Ohrfeige für Außenministerin Baerbock, die vor der tatsächlichen Sicherheitssituation in Syrien die Augen verschließt«. Dass die Ampelkoalition zur Getriebenen der Justiz werde, zeige, »auf welchem migrationspolitischen Holzweg sie unterwegs ist«.

Mit Blick auf das Urteil forderte der CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Throm das Auswärtige Amt auf, die Sicherheitsbeurteilung für Syrien zu überprüfen. Gegenüber dem MDR erklärte Throm, innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, er halte es für zutreffend, dass es nicht mehr in allen Regionen Syriens eine allgemeine, willkürliche Gefahr für alle Zivilpersonen gebe. Die Lage heute sei nicht mehr dieselbe wie beim Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Für die Union sei daher klar, dass es wieder Abschiebungen nach Syrien und auch nach Afghanistan geben müsse.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte sich am Dienstag zurückhaltender geäußert. Man müsse sich immer genau anschauen, wer in welchen Teil Syriens abgeschoben werden könne. Man könne »eben nicht mehr pauschal sagen, dass die Sicherheitslage im gesamten Land überall gleich ist, sondern es muss genau hingeschaut werden«, so der Minister. Die Entscheidung des Gerichts sei nachvollziehbar, »wenn man davon ausgeht, dass es mittlerweile auch in diesem Land Regionen gibt, die sehr gefährlich sind, aber auch andere Regionen gibt, wo nicht zwingend Gefahr für Leib und Leben besteht«.

Deutliche Kritik am Urteil äußerte Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl. Das OVG entscheide »an der Realität in Syrien vorbei«, erklärte sie am Mittwoch gegenüber jW. Quellen wie der Lagebericht des Auswärtigen Amts zeigten, dass es weiterhin »eine beachtliche Konfliktlage« in dem Land gebe. Syrien sei »kein sicheres Land«. Abschiebungen dorthin seien völkerrechtswidrig. Das ändere auch eine Einzelfallentscheidung nicht, die den subsidiären Schutz für einen Syrer verneint hat. Dass nun aus der CDU Rufe nach Abschiebungen kommen, sei »wenig überraschend«. Die CDU ignoriere damit aber »sowohl die tatsächliche Situation in Syrien als auch die rechtliche Realität«.

Im vorliegenden Fall hatte ein Mann aus der Provinz Hasaka im Nordosten Syriens, der 2014 in die BRD eingereist war, geklagt, um als Geflüchteter anerkannt zu werden. Das OVG erklärte jetzt, ihm drohe in Syrien keine Verfolgung, auch seien sein Leben und seine Gesundheit dort nicht bedroht. Zwar fänden etwa in der Provinz Hasaka noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und verbündeten Milizen einerseits und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) andererseits statt. Die Auseinandersetzungen und Anschläge erreichten jedoch »kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet oder verletzt zu werden«. Zudem sei der Kläger wegen von ihm begangener Straftaten – er beteiligte sich am Einschleusen von Geflüchteten aus der Türkei nach Europa – ohnehin von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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