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Aus: Ausgabe vom 25.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Serie

Klassenkampf und Kitsch

Die spanische Serie »Velvet« beweist: Selbst in Seifenopern steckt revolutionäres Potential
Von Frank Jöricke
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Keine Illusionen: In »Velvet« sind oben und unten noch klar verteilt

Man will sich auch mal unter seinem Niveau unterhalten. Kunst braucht nicht immer eine Metaebene. Musik funktioniert auch ohne »clevere« Arrangements. Und Filme benötigen keine »komplexen« Handlungsstränge, um Zuschauer bei der Stange zu halten – manchmal reichen ein paar gute Gags und ein wenig Geballer.

Solche Selbstverständlichkeiten gelten im Zeitalter der Serien leider nicht mehr. Zwanghaft müssen Macher und Kritiker betonen, wie »intelligent« eine Produktion sei – als wäre eine »dumme« Serie ein Fall fürs Strafgesetzbuch.

Daher zunächst eine Warnung: »­Velvet« ist eine Seifenoper. Im Mittelpunkt der spanischen Serie, die es in vier Staffeln auf 91 Folgen à 45 Minuten bringt, steht eine Dreiecksbeziehung. Der Besitzer eines Haute-Couture-Modehauses liebt eine Schneiderin, die er nicht heiraten darf, denn er soll eine Unternehmertochter heiraten, die er nicht liebt. Klingt nach Aschenputtel.

Und wie es sich für Märchen gehört, wird das Zeitgeschehen ausgeblendet. Das gezeigte Madrid der späten 1950er wirkt nicht nur wegen der computeranimierten Panoramen und Straßenzüge komplett künstlich. Mit keiner Silbe werden die politischen Verhältnisse in Spanien zwischen 1939 und 1975 erwähnt. Damals regierte ein gewisser Franco, dessen Herrschaft eine unheilvolle Melange aus Faschismus und Katholizismus war – Führerkult trifft Bigotterie. Doch davon erfährt der Zuschauer nichts. In der gezeigten Modehauswelt ist kein Platz für kritische Verweise auf die damalige Diktatur.

Dafür überrascht »Velvet« in anderer Hinsicht positiv. Von deutschen Soaps (und leider auch von anspruchsvolleren Serien und Filmen) ist man es gewohnt, dass die soziale Herkunft keine Rolle spielt. Die Art und Weise, wie jemand Geld verdient und vor allem wieviel, wird selten thematisiert. Gefühlt gehört jeder zur Mittelschicht. Die Klassenfrage scheint gelöst.

Solchen Illusionen gibt sich »Velvet« nicht hin. Hier wird noch klar zwischen Unter- und Oberschicht unterschieden, zwischen Schneiderinnen und reichen Unternehmertöchtern. Die einen leben in einer Butze (im Schlaftrakt des Kaufhauses), die anderen in einer Villa.

Aber es sind nicht nur die Vermögensunterschiede, die plastisch dargestellt werden. Da ist jene junge Schneiderin, deren Mann schwer erkrankt ist, sich die notwendige Operation jedoch nicht leisten kann. Der vermeintliche Gönner – ein Kunde, der das Tor zur besten Klinik der Stadt öffnet – entpuppt sich als Erpresser: Die OP gibt’s nur gegen Sex. So wird die Schneiderin wider Willen zur Prostituierten, und die Binsenweisheit, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt, bewahrheitet sich einmal mehr.

Es gibt in »Velvet« viele solcher Szenen und Handlungsstränge, die dem deutschen Reihenhaus-Mittelschichtsbürger eine gern verdrängte Wahrheit vor Augen führen: Geld bedeutet nicht nur Luxus – die Möglichkeit, mal eben nach Paris zu fliegen und sich in Fünfsternehotels und Nobelrestaurants zu verlustieren –, sondern auch Macht.

Das beginnt im Kleinen. Die Leiterin der Schneiderei möchte man nicht als Chefin haben. »Flache Hierarchien« und »Teambuilding« – beliebte Lügen unserer modernen Wirtschaftswelt – sind von ihr garantiert nicht zu erwarten. Hier wird noch unmissverständlich zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger unterschieden. Doch auch sie ist als Teil des mittleren Managements am Ende nur Erfüllungsgehilfin. Transmissionsriemen für ihre Vorgesetzten. Oder marxistisch ausgedrückt: für die Eigentümer der Produktionsmittel.

Darin nämlich liegt die große Leistung dieser Serie: Sie veranschaulicht, worüber der olle Karl dicke Bücher schrieb. In »Velvet« aber sprechen die Bilder. Indem die Serienmacher immer wieder die unterschiedlichen Lebenswelten gegenüberstellen, begreift man auch ohne Soziologiestudium, wohin der Mehrwert, den die Lohnarbeiterinnen erwirtschaften, wandert. So einfach ist das mit dem Marxismus.

Schlüsselfigur ist dabei jene Schneiderin, die sich in beiden Welten bewegt. Von Berufs wegen weiß sie, wie es unten aussieht, doch als Geliebte des Modehausbesitzers lernt sie das Oben kennen. Dass dessen Verwandte kein Interesse daran haben, sie in den Kreis der Durchlauchten aufzunehmen, überrascht kaum. Die Oberschicht hat soziale Emporkömmlinge noch nie gemocht. Geheiratet wird standesgemäß. Das Fußvolk soll gefälligst unter sich bleiben.

Aus dieser Konstellation und dem Umstand, dass das Modehaus eigentlich bankrott ist (und dessen Besitzer daher ebenfalls erpressbar), ergeben sich reizvolle Konflikte. Vielleicht sollte man sich öfter unter seinem Niveau unterhalten.

»Velvet«, Spanien 2014–2016, Serie (91 Folgen, insgesamt 68 Std.), bei Netflix

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