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Aus: Ausgabe vom 25.07.2024, Seite 12 / Thema
Sahel

Problemfall der Weltherrschaft

In Niger kämpft das Militär um »die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität« gegen Islamisten und westliche Bevormundung in einem der ärmsten Länder der Welt (Teil 2 und Schluss)
Von Theo Wentzke
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Adieu pour toujours! Ein nigrischer Bürger feiert den Abzug französischer Truppen aus seinem Land (Dezember 2023)

Der nigrische Staat lebt – und zwar von Anfang an und umfassend – von Kredit. Das gilt schon für die Bewirtschaftung seiner hauptsächlichen Einkommensquelle, das Geschäft mit Rohstoffen. Kredit braucht die Regierung auch für die Finanzierung öffentlicher Ausgaben, die sie für ihren Machtapparat, dessen Personal und Aufgabenkatalog für nötig befindet – was auch den Schuldendienst einschließt, mit dem sie sich als solventer Kreditnehmer gegenüber ihren Gläubigern erweist. Berichte über diesbezügliche Nöte, mit denen die Putschisten nach ihrer Regierungsübernahme konfrontiert sind, geben beredt Auskunft über das Ausmaß des Kreditbedarfs und die Adressen der Gläubiger – wie letztlich auch darüber, worauf die Solvenz des nigrischen Staates beruht.

Politischer Kredit

Erstens beschafft sich Niger Kredit in seiner eigenen Währung auf dem Finanzmarkt durch die Emission von Staatsanleihen über die Westafrikanische Zentralbank der CFA-Länder (BCEAO). Diese autonome Verschuldung gründet letztlich auf der Kreditmacht Frankreichs, materialisiert in der Konvertibilitätsgarantie des CFA, geltend gemacht im institutionalisierten Kreditverhältnis zwischen der französischen und der westafrikanischen Zentralbank und dem darin eingeschlossenen Kontrollregime über den nigrischen Haushalt und eine an der »Wertstabilität« orientierte Geldpolitik, denn die dadurch hergestellte Geldqualität des CFA verleiht den nigrischen Staatsanleihen Kapitalqualität.

Zweitens beginnen auch erfolgreiche Versuche, staatliche Interessenten für die Förderung heimischer Rohstoffe zu gewinnen, mit fremdem Kredit – der, wie die Erfahrung zeigt, durch die staatliche Partizipation an den Erträgen, die fremde Nutzer dieser Quellen erwirtschaften, nicht gerechtfertigt wird. Wie auch? Der Kredit, der fließt, ist durch eine absolut untaugliche Einkommensquelle zu bedienen, die der Kredit zwar überhaupt erst möglich macht, an deren Untauglichkeit er selbst aber nichts ändert. Ökonomisch lohnend waren die stetig wachsenden Kredite an Niger in der Summe also nie, und geleistet haben sie am Ende nur eines: Sie haben zielsicher einen Staatsbankrott nach dem anderen vorbereitet.

Dass der Staatsbankrott letztlich nie zugelassen wurde, das heißt, dass das Land trotzdem weiterhin Kredit bekommt, also auch und gerade mit seinem jedes Jahr steigenden Gewalt-, also Finanzbedarf am Leben gehalten wurde, heißt drittens, dass es ein politisches Interesse an der Existenz dieses Staates seitens der imperialistischen Hauptmächte gab und gibt, das über den ökonomischen Nutzen hinausgeht, den Niger manchen ausländischen Geschäftsleuten und seinem wichtigsten Partner für dessen Energieversorgung gestiftet hat: Ihnen kam und kommt es auf den Erhalt eines Staates auf nigrischem Territorium an, der als souveräner Adressat für alle erdenklichen Aufgaben herhalten kann, die sie für ihn bereithalten könnten. Neben ihren Zuschüssen durch Entwicklungshilfe sorgen sie im Verbund mit IWF und Weltbank durch politischen Kredit in Form von Kreditstundungen, Umschuldungen und ganz viel konzessionärem Kredit dafür, dass Niger seinem Schuldendienst dauerhaft nachkommen kann. So bleibt der nigrische Staat verschuldungsfähig, auch wenn seine Ökonomie ihn gar nicht kreditwürdig macht.

Dieses Kreditverhältnis begründet zugleich den Rechtsanspruch gegenüber Niger, dass es gefälligst ein »verlässlicher Partner« des Westens zu sein hat. Und wie es beim Sich-Verlassen so ist in der Welt des Imperialismus – Vertrauen ist gut, Kontrolle aber bekanntlich besser –, wird die Geltung dieses Anspruchs nicht dem Zufall überlassen. Das Mittel, um das unbedingte Loyalitätsverhältnis herzustellen, welches die Phrase vom »verlässlichen Partner« bei solchen Ländern bezeichnet, ist der Kredit selbst: Der wird nämlich nur gegen weitreichende Einflussrechte auf die staatliche Haushaltsführung und Organisation der staatlichen Gewalt gewährt. Erstens wird dem Staat ein institutionalisiertes Austeritätsregime auferlegt, damit er mit seinem gesponserten Geld wirklich nur die Funktionen finanziert, für die seine Kreditgeber ihn erhalten. Zweitens wird auf »Good governance« und Demokratie bestanden, was beide Seiten als den Auftrag verstehen, für »Stabilität« zu sorgen, also Eigenmächtigkeiten zu unterlassen.

»Stabilitätsanker in der Region«

Dieser Staat und der Wille einer nationalen Elite zu seiner Durchsetzung sind also das Produkt und der Auftrag imperialistischer Interessen an ihm. Mit allerlei Militär- und Finanzhilfen sorgt der Westen dafür, dass es Niger gibt, damit es für ihn nützliche Dienste leistet. Diese beschränken sich im wesentlichen darauf, dass die Lage und der Zustand dieses Landes für den Westen kein Ordnungsproblem darstellen sollen.

Der nigrische Staat soll sich mit dem Lohn einer ordentlichen Aufbesserung der Staatsfinanzen als erweiterte Außengrenze der EU im Norden des Landes herrichten, um in seiner Eigenschaft als wichtigstes Transitland für westafrikanische Flüchtlinge als effizientes Bollwerk gegen sie zu fungieren. Er soll auch die Terroristen bekämpfen, damit sie »uns« nicht zum Problem werden: Schlimm genug, dass dieser Feind in Niger und bei seinen Nachbarn ganze Länder durcheinanderbringt und die politischen Herrschaften zu zerstören droht, die sich der Westen für nützliche Dienste gesichert hat. Der Krieg der Dschihadisten zielt aber schon im Ausgangspunkt über die Sahelzone hinaus; deren Staatsführer sind in der kriegerisch praktizierten Weltsicht dieser Gotteskrieger eher Handlanger des ultimativen Feindes des Islam: der mächtigen westlichen Nationen mit ihren Kriegen, mit denen sie sich als Kreuzfahrer gegen den Islam selbst entlarven. Der westliche Auftrag besteht entsprechend darin, den Terroristen keinen sicheren Hafen zu bieten, von dem aus sie für das westliche Homeland gefährlich werden könnten. Für den Zynismus dieses Blicks auf Niger hat sich der deutsche Verteidigungsminister noch drei Monate vor dem Putsch in Niamey beklatschen lassen und ihn auf den Punkt gebracht: »Gerade verglichen mit den Nachbarstaaten Burkina Faso und Mali sei ›Niger ein Stabilitätsanker, der aber nicht unkaputtbar (!) ist‹. Und der deshalb gestärkt werden müsse« (tagesschau.de, 28.4.2023).

Das Kompliment »Stabilitätsanker« hat sich Niger dadurch verdient, dass es sich, im Unterschied zu den anderen ehemaligen Partnern des Westens in der Sahelzone, als williger staatlicher Verschleißartikel für das Sicherheitsproblem hergibt, das der Westen mit ihm hat. Und weil die westlichen Staaten von vornherein wissen, dass diese halbe Staatsruine »nicht unkaputtbar« ist, sie Niger also keine Sekunde lang zutrauen, sich alleine im Dauerkrieg gegen die Dschihadisten zu behaupten, wollen sie sich nicht auf diesen Staat verlassen. Deshalb haben sie – federführend Frankreich und die USA – dafür gesorgt, dass sie die Lage unter Kontrolle halten, indem sie sich mit ihrer Militärpräsenz vor Ort selbst zum Herrn der Lage machen. Sie lassen sich von dem in Bedrängnis geratenen Staat einladen und errichten Militärstützpunkte, von denen aus sie die Gotteskrieger mittels Luftaufklärung, Drohnenkrieg und begrenzten Militäroperationen dauerhaft in Schach halten können. Dies findet nicht nur in Niger statt, sondern im Rahmen der Missionen im ganzen Sahel, ausgehend von Mali.

Dazu hat vor allem Frankreich seine Militärpräsenz um den Aufbau einer militärischen Koordination aller Staaten der Sahelzone ergänzt: ursprünglich im Rahmen der Mission »Barkhane«, dann in Gestalt einer internationalen Eingreiftruppe der G5-Sahel-Länder, von EU-Missionen etc. Frankreich hat damit ein sicherheitspolitisches Regime errichtet, das die Ambitionen der Sahelstaaten an den Kriegszwecken ihres Sponsors ausrichten sollte. Die mögen sich von seiner Unterstützung die erfolgreiche kriegerische Bewältigung ihrer Feinde versprochen haben, aber Frankreich definiert gemäß seinen Kriterien einer stabilen Sahelzone, wer überhaupt als Feind zu bekämpfen ist, mit welchen der unzähligen bewaffneten Gruppen und sogar mit welchen Staaten man gemeinsam Krieg gegen den Terror führt. Seine taktischen Unterscheidungen zwischen Staatsfeinden und zu funktionalisierenden Milizen fallen mit jenen der Staaten vor Ort überhaupt nicht notwendig zusammen: Frankreich hat zum Beispiel Mali nach der erfolgreichen französischen Militärintervention 2013 ein Friedensabkommen mit eben jenen Rebellen aufgenötigt, die das Land zwei Jahre zuvor fast überrannt hatten. Und wenn Frankreich mit Sahelstaaten wie Mali und Burkina Faso, in denen geputscht wurde, die Zusammenarbeit in seinen Antiterrorkoalitionen gekündigt und sie mit Sanktionen belegt hat, dann hat es alleine dadurch für Niger die Vorgabe gemacht, dass eine effektive Zusammenarbeit mit diesen illegitimen Regierungen nicht mehr möglich ist.

Für eine Ausrottung des Dschihadismus sorgt diese vom Westen angeführte Terrorbekämpfung und -eindämmung nicht – wie auch, wenn der Krieg selbst das beste Anschauungsmaterial für die Agitation liefert, Krieg und Elend verdankten sich einer Verschwörung der Kreuzfahrer und ihrer lokalen Statthalter gegen das fromme Gottesvolk. Den diversen dschihadistischen Gruppen gehen die Rekruten jedenfalls ebensowenig aus wie die Finanzquellen, die in den immer größer werdenden staatsfreien Räumen sprudeln. Im Gegensatz zu den Staaten vor Ort konnten Frankreich und die USA offenkundig damit leben, solange es keinen sicheren Hafen für die Islamisten gab, in dem sie zur Gefahr auch für den Westen werden können, solange sie also nur den Staaten vor Ort ein Dauerproblem bescheren. Solange die Sahelstaaten ihre Rolle im Antiterrorkampf aushalten, erfüllt der Krieg gegen den Terror den Zweck, den die westlichen Sponsoren praktisch verfolgen. Dafür wurden Niger und Co. ausgestattet und in einem nicht endenden und nicht zu gewinnenden Antiterrorkrieg unterstützt, der in seinem Verlauf alles, worum es dem Gesponserten geht, immer fraglicher macht: Das Land wird progressiv zerstört und die Gewalt des Staates aufgerieben.

Der Aufstand der Putschisten

Auf diese Lage ihres aparten Staatswesens beziehen sich die Putschisten also mit ihrer eingangs zitierten Bilanz (siehe Teil 1). Dabei übersetzen sie die Hoffnungslosigkeit seiner Kriegsbemühungen in einen Mangel an Professionalität und Führungsstärke des bisherigen Präsidenten – als ob so ein Krieg nichts als eine Frage des Willens zum Sieg wäre. Sie erklären das systematische Nebeneinander von absolutem Elend und staatlicher Gewalt zu einer falschen Sozial- und Wirtschaftspolitik – als ob dieser Staat von der Pflege seines Volkes und dessen Wirtschaften überhaupt leben würde. In den zuverlässig kläglichen, weil den Gesetzen des Weltmarkts folgenden Einnahmen aus seinem Exportgeschäft sehen sie eine ungerechte Ausbeutung durch ihre ehemalige Kolonialmacht – als würde ein staatsnützliches Sprudeln dieser Quellen nur dadurch verhindert, dass man sie an den Falschen verkauft. Die Stiftung seines Geldes durch Frankreich und die damit einhergehende Kontrolle der Devisen und der Haushaltspolitik deuten sie – wie alle antikolonialen Gegner westlicher Politik im Sahel – um in den Grund für die mangelnde Entwicklung ihres Landes, als gäbe es getrennt von dieser Garantie etwas, was eine souverän herausgegebene nigrische Währung in Wert setzen würde, und eine ökonomische Grundlage, die eine solche Freiheit für eine nationale Entwicklung nützlich machen würde. Das durchgesetzte Interesse des Imperialismus an einer sich behauptenden nigrischen Gewalt, damit deren Land nicht störend auffällt, wird in eine französische Verschwörung übersetzt, Niger als Kolonie zu halten, ja die Dschihadisten sogar extra gewähren zu lassen.

Was in alledem zum Ausdruck kommt, sind nicht einfach idealistisch verfremdete Vorstellungen über die Gründe für den Zustand ihres Landes, sondern ein bemerkenswertes Kampfprogramm, das jede Not dieses Staates auf den einen Nenner bringt: Niger fehlt es an Souveränität, weswegen es eine Führung braucht, die sich gegen alle Widerstände um deren »Wiederherstellung« verdient macht. Die Notwendigkeit dieses Programms beweist ihnen – wenn denn ein Beweis nötig war – die Antwort ihrer ehemaligen Partner auf ihre Bemühung, ihr geliebtes Vaterland zu retten. Die behandeln Niger nach dem Putsch als das, was es ist: nämlich überhaupt nicht als Kolonie, sondern als ein Exemplar eines mit ihrer imperialistischen Portokasse gekauften und am Überleben gehaltenen Souveräns von ihren Gnaden.

Das tun die entscheidenden imperialistischen Subjekte – in diesem Fall vor allem Frankreich und die USA – aus je eigenen Interessen, deshalb in unterschiedlicher Intensität und miteinander konkurrierenden und sich ausschließenden Lösungswegen für die Unbotmäßigkeit ihrer Kreatur. Der Verlauf ihrer Konkurrenz um die Bewältigung des Putsches ergibt sich aus der jeweiligen imperialistischen Bedeutung, die das Land für sie hat, also aus den unterschiedlichen Arten und Weisen, in denen sie sich in Niger und der Sahelzone eingemischt hatten. Nach den vorangegangenen militärischen Machtwechseln in Mali und Burkina Faso bewertet Frankreich den Putsch in Niger als einen entscheidenden Angriff auf seine jahrzehntelang praktizierte Zuständigkeit für dem Westen genehme Herrschaften in Westafrika, die heute vor allem darin besteht, sich als westlicher Vorkämpfer gegen den Dschihadismus in der Region zu bewähren. Es sieht seinen Status als Ordnungsmacht in der Sahelzone auf dem Spiel stehen und definiert den Putsch als Angriff auf die westliche Weltordnung, also als Verpflichtung der europäischen und US-amerikanischen Partner zum militärischen Handeln gegen die Usurpatoren. Das vereiteln die USA; sie bewerten einen zwischenstaatlichen Krieg in der Region als eine viel größere Bedrohung für ihren Antiterrorkampf als irgendeinen Putschgeneral und teilen – ganz die Weltmacht Nummer eins – der ECOWAS mit, wie deren Kriegsdrohung recht eigentlich zu verstehen ist: »Mir ist kein Ersuchen um militärische Unterstützung durch die USA bekannt, aber die Länder, die der ECOWAS angehören, haben alle erklärt, dass eine militärische Intervention das letzte Mittel ist und sie dies nicht wollen. Wir unterstützen also diese Haltung. Wir wollen auch nicht, dass es zu einer militärischen Intervention kommt. Wir wollen eine friedliche Lösung, und wir haben uns der Diplomatie auf keinen Fall verschlossen« (Sabrina Singh, stellvertretende Pentagon-Pressesprecherin, 15.8.2023).

Trotz dieser Konkurrenz versprechen alle – Frankreich, die EU und die USA im Verbund mit IWF und Weltbank – den neuen Machthabern, dafür zu sorgen, dass sich ihr Aufstand definitiv nicht lohnen wird, verhängen gemeinsam ein umfassendes Sanktionsregime, das alle Existenznöte dieses Staates potenzieren und ihn endgültig an den Rand des Untergangs drängen soll. Die Budgethilfen für den nigrischen Staat werden zusammengestrichen; mit ein paar Unterschriften wird er an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht. Direkt nach dem Putsch wird die militärische Zusammenarbeit gekündigt, so dass die Sicherheitslage im Land sich schlagartig verschlechtert. Dafür stellen sie sich auch hinter die für den Überlebenskampf der nigrischen Bevölkerung zerstörerischen Sanktionen der ECOWAS: Das Regionalbündnis, in dem Niger bisher Mitglied war, untersagt den grenzüberschreitenden Handel – wichtig vor allem für Essens- und Medizinimporte – für mehrere Monate; Nigeria stellt die Stromexporte ins Land ab, die 70 Prozent des nationalen Verbrauchs deckten. Außerdem leistet das Bündnis seinen Beitrag zur finanziellen Strangulierung Nigers, indem es das Land aus dem regionalen Finanzmarkt ausschließt, woraufhin die BCEAO die Emission von Staatsanleihen durch Niger unterbindet. Schließlich sorgen Frankreich und die ECOWAS mit ihrer gemeinsamen Kriegsdrohung dafür, dass Niger sein Heer neben seinem Krieg gegen den Terrorismus auf einen ganzen Regionalkrieg einstellen muss.

Das ist der Angriff auf die Souveränität, die bzw. deren Erlangung die Putschisten in Form ihrer Militärgewalt mit neuer, echt nationaler Zielsetzung zu repräsentieren beanspruchen. Den Kampf für eine souveräne Staatsgewalt im Inneren buchstabieren die Militärs Schritt für Schritt und konsequent als eine Befreiung von der schädlichen »Einflussnahme und Bevormundung« der westlichen Staaten aus. Sie verbitten sich die »kolonialistische Einmischung in ihre inneren Verhältnisse« und sortieren unter diesem radikalen Gesichtspunkt ihre bisherigen Beziehungen zu ihren westlichen Sponsoren wie zu ihren Nachbarn neu. Sie demonstrieren der Staatenwelt ihre neu erlangte Souveränität, indem sie alle Beziehungen kappen, die die bisherige Grundlage des nigrischen Staates und speziell seines Antiterrorkampfes ausgemacht haben. Sie schmeißen die französische und US-amerikanische Militärpräsenz aus dem Land und beenden das Flüchtlingsabkommen und die Polizei- und Ausbildungsmission mit der EU; sie treten im Verbund mit Mali und Burkina Faso aus der ECOWAS aus, in der sie nichts als ein Instrument der kolonialen Unterdrückung entdecken können. Zum Schluss kündigen sie die Rückeroberung ihrer Souveränität über das eigene nationale Geld an – worin die dann eigentlich materiell bestehen soll, ist da nachrangig, denn die Hauptsache ist: »Die Währung ist ein Symbol der Souveränität, und wir befinden uns in einem Prozess der Wiedererlangung unserer vollständigen Souveränität« (General Tchiani am 12.2.2024).

Imperialistische Konkurrenz

Dass Nigers Militärführer sich diese Befreiungsaktion zutrauen, ist aber nicht nur ihrer eigenen Entschlossenheit geschuldet. Sie haben nämlich tatsächlich Alternativen: Erstend die gleich gestrickten nationalen Emanzipationsprogramme ihrer Nachbarn Mali und Burkina Faso, die sich als natürliche Partner im nigrischen Selbstbehauptungskampf anbieten, weil sie im Inneren und nach außen mit demselben Problem befasst sind wie Niger. Niger schließt sich mit ihnen zu einem defensiven Kriegsbündnis gegen die Dschihadisten in ihren Ländern und gegen die Kriegsdrohungen ihrer Nachbarn und Frankreichs zusammen.

Zweitens den weltpolitischen Antiamerikanismus Russlands, das sich antiamerikanischer und antiwestlicher Bestrebungen als freundliche Schutzmacht annimmt, mit der Nigers Nachbarn bisher die gute Erfahrung gemacht haben, dass sie sich auf die Lieferung von Waffen, Militärberatern und Söldnern beschränkt und sich ansonsten nicht in »die inneren Angelegenheiten« ihrer neuen Partner einmischt. Deshalb schließt auch Niger Abkommen mit Russland über militärische Zusammenarbeit, die Lieferung von Waffen – unter anderem kürzlich ein Luftabwehrsystem – und Unterstützung mit Militärberatern sowie über eine Zusammenarbeit mit dem russischen »Afrikakorps«, das von Burkina Faso aus agiert. Zusammen mit seinen neuen Verbündeten und der Unterstützung durch Russland rechnet sich die Militärregierung Nigers eine Stärkung ihrer Kriegskapazitäten gegen die Dschihadisten und damit eine Konsolidierung ihrer bisher vom Westen abhängigen Machtbasis aus.

Und zuletzt die ökonomische Erschließung des afrikanischen Kontinents durch China, in der Niger eine wichtige Rolle spielt: Ein chinesischer Staatskonzern betreibt das Ölfeld in Agadem und die nun fertiggestellte Ölpipeline durch Benin an den Atlantik, von der die Partner sich ab diesem Jahr eine Lieferung von 100.000 Barrel Öl pro Tag versprechen. Dass China die dafür freigegebenen Kreditlinien ausschließlich an ihre Verwendung für profitable Projekte in diesem Feld knüpft, macht diese im Vergleich zu denen des Westens zu einer willkommenen Alternative, weil das heißt, dass sich der Schacher auf die Geschäftskonditionen beschränkt – einstweilen jedenfalls. Denn seitdem der Putsch erfolgreich über die Bühne gegangen ist, macht sich in den Beziehungen Chinas zu Niger ein Übergang bemerkbar, der es in sich hat: nämlich von der Kreditierung des Staates für die Erschließung lohnender Geschäfte hin zur Sicherstellung des Staates durch Kredit für die Fortführung dieser Geschäfte. Aufgrund des drohenden Staatsbankrotts des nigrischen Staates, der seit dem Putsch 457 Milliarden CFA an uneingelösten Verbindlichkeiten angehäuft hat, sieht sich China gezwungen, sich für die Fortführung des von ihm finanzierten Ölgeschäfts an die Rettung der nigrischen Staatsfinanzen zu machen, indem es eine 400-Millionen-US-Dollar-Vorauszahlung leistet – und die löst das Problem natürlich überhaupt nicht, sondern verschiebt bloß die Frage, wie mit der mangelnden Solvenz des Geschäftspartners zu verfahren ist. Denn das einzige, was den Staatsbankrott eines »Heavily Indebted Poor Country« abwendet, ist die Vorbereitung des nächsten – und das eröffnet Kontrollfragen ganz anderer Art als jene, die China schon bisher durch die Verpflichtung seines Geschäftspartners auf den sachgerechten Umgang mit seinen Geldern vermittels entsprechender Vertragskonditionen beantwortet hat.

Der klassische Vorwurf, die chinesischen und russischen Rivalen seien indolent in der Menschenrechtsfrage und ließen den regierenden Potentaten vor Ort immer alle Freiheiten beim autoritären Herrschen, während »wir« als werteberufene Aufpasser den Machthabern Afrikas menschenrechtlich auf die Finger schauen, darf auch in diesem Fall nicht fehlen. Die imperialistische Sache, für die solche Wertehuberei steht, gilt schließlich auch in der Sahelzone: die eigene Zuständigkeit für gutes Regieren, also der eigene Kontrollanspruch über die dortigen Regierungen. Auffällig ist aber die imperialistische Selbstkritik, um die das Selbstlob der eigenen Wertetreue zunehmend ergänzt wird: Demütig gestehen die Staatenlenker aus dem globalen Norden ein, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer Vormundschaft in Sachen Regierungsführung, also bei der Indienstnahme der ihnen verpflichteten Staaten eine bisweilen arrogante Haltung an den Tag gelegt hätten. Problematisch daran ist der Umstand, dass man dabei vor allem sich im Wege steht: Die Hauptsache, nämlich der eigene, wertemäßig verhimmelte Zugriff auf diese Länder, geht ja zunehmend verloren. Den gilt es wiederherzustellen – zwar mit Berufung auf die Werte der Demokratie, aber nicht mit einem zweckwidrigen Bestehen auf ihnen.

Bei allem Zynismus dieser Kombination aus Selbstlob und -tadel ist am Vergleich imperialistischer Benutzungsansätze – die anderen sind skrupellos und effektiv, wir sind wertegebunden und kommen leider nicht immer zum Zuge – zumindest soviel dran: China und Russland verfahren mit diesen Ländern tatsächlich anders; und das ist für diese Staaten, gerade in ihrem Krieg um ihre souveräne Selbstbehauptung, offenbar tatsächlich attraktiver als der Umgang des Westens mit ihnen. Während der Westen Niger in seinem bisherigen praktischen Bezug in einer Weise behandelt, wie es einem souveränen Staat wirklich nicht gut zu Gesicht steht, behandeln China und Russland dieses Land nicht nur wie, sondern als einen souveränen Staat und ernstzunehmenden Geschäftspartner, der seinen Platz in der Welt hat und sich selbständig und sein Volk auf der Weltbühne vertretend um die Geltendmachung nationaler Interessen bemüht. Dieser Respekt vor der Souveränität des nigrischen Staates gibt dem Heimatstandpunkt, mit dem diese und andere Putschisten ihren Putsch unterlegen, recht und imperialistisch überhaupt seine Substanz. Denn so hat mehr als 30 Jahre nach der Abdankung der Sowjet­union als Weltfriedensmacht, weltpolitische Alternative für afrikanische Länder und Schutzmacht nationaler Befreiungsbewegungen der Standpunkt nationaler Souveränität und antiimperialistischer Heimatliebe in den ›Failing‹ und ›Failed states‹ Afrikas wieder eine weltpolitische Grundlage: die imperialistische Konkurrenz kapitalistischer Super- und strategischer Weltmächte um Nutzen, Gestaltung und Vorherrschaft in der Weltordnung. Dabei hat der Westen nun einen neuen Problemfall für seine Weltherrschaft: den »Putschgürtel« in Subsaharaafrika.

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Teil 1 Staat ohne Macht: In Niger kämpft das Militär um »die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität« gegen Islamisten und westliche Bevormundung in einem der ärmsten Länder der Welt

Teil 1 erschien in der Ausgabe von Mittwoch.

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