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Aus: Ausgabe vom 26.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Sozialkürzungen

Mit leerem Magen lernen

Berliner Landesregierung aus CDU und SPD will kostenlose Schulspeisung streichen. »Soziale Geschenke« sind für den Bürgermeister »keine Heiligtümer«
Von Gudrun Giese
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Kostet 4,20 Euro im deutschen Durchschnitt: Schulessen, hier in Duisburg

Hat Kai Wegner (CDU), der Regierende Bürgermeister von Berlin, die soziale Gerechtigkeit als Thema für sich entdeckt? Kurz hörte sich das so an, als er Mitte Juli im Podcast »Table.Briefings« die Frage aufwarf, ob es der richtige Weg sei, dass auch seine Kinder kostenloses Schulessen erhalten. Tatsächlich ging es in seinem Beitrag, den rbb24.de wiedergab, dann aber doch nur um weitere Einschnitte im Landeshaushalt.

»Es gibt ein paar soziale Geschenke auch im Bildungsbereich, über die wir reden müssen«, meinte Wegner. Angesichts der drei Milliarden Euro, um die der Etat schrumpfen werde, dürfe es »keine Heiligtümer geben«. Familien mit niedrigen Einkommen sollten gezielt unterstützt werden, um das Schulessen weiter finanzieren zu können. Doch wer besser verdiene, solle auch einen Obolus leisten. Ähnlich hatten bereits Tage zuvor die beiden Vorsitzenden der Berliner SPD, Nicola Böcker-Giannini und Martin Hikel, argumentiert. Anstatt ein kostenloses Schulmittagessen für alle anzubieten, solle die Kostenfreiheit an die Einkommenssituation der Familien gekoppelt werden, hieß es auf rbb24.de. Damit wandten sich die Sozialdemokraten ausdrücklich gegen die vor allem vom Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh seit Jahren verfolgte Idee, Bildung in Berlin für alle weitgehend kostenfrei zu gestalten.

Sollte das kostenlose Schulessen demnächst kassiert werden, hätte es nur eine kurze Lebensdauer gehabt. Eingeführt wurde es zum 1. August 2019 für alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen eins bis sechs. Am 4. April 2019 hatte das Abgeordnetenhaus das Schulgesetz um das »Gesetz zum Mittagessen an Schulen« erweitert. Kostenloses Schulessen für alle Erst- bis Sechstklässler hört sich ganz simpel an, aber in der Praxis müssen zum Beispiel nach wie vor individuelle Verträge zwischen den Eltern und den jeweiligen Caterern abgeschlossen werden.

Einen exakten Preis oder eine Obergrenze legte die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nicht fest, sondern empfahl lediglich einen »Mindestpreis von 3,50 Euro pro Tellergericht« (2019). Bei Ausschreibungen der Schulspeisung sollten die bezirklichen Schulämter die qualitativen Anforderungen und kalkulierten Essenspreise bei den Schulen abfragen. Inzwischen liegen die durchschnittlichen Kosten für ein Schulmittagessen nach Angaben des Verbandes deutscher Schul- und Kitacaterer bei 4,20 Euro. Das entspreche bei rund 190 jährlichen Schultagen Kosten von ungefähr 66 Euro pro Kind im Monat.

Sollte sich nun in der Berliner Regierungskoalition aus CDU und SPD die Idee durchsetzen, das kostenlose Schulessen zu streichen, könnten bald zwei Drittel der Familien von Grundschulkindern bis zu 100 Euro monatlich aus eigener Tasche für die Mittagsspeisung aufbringen müssen, hieß es Mitte Juli im ND. Das wäre der Fall, wenn Berlin das Hamburger Modell übernähme, wie der SPD-Vorsitzende und Neuköllner Bezirksbürgermeister Hikel vorgeschlagen hatte. In der Hansestadt erhalten nur Kinder von Bürgergeld- oder Wohngeldempfängern das Essen in der Schule gratis. Es sei schließlich ungerecht, wenn der Steuerzahler das Mittagessen von Kindern aus wohlhabenden Haushalten finanziere, meinte Hikel, überging dabei allerdings, dass es auch sehr viele Familien gibt, bei denen zwei Einkommen nur knapp zum Überleben reichen.

Dass Eltern ihre Kinder vom Schulessen abmelden werden, sobald sie es bezahlen sollen, ist keine Spekulation, sondern entspricht den Erfahrungen der Zeit vor 2019 in Berlin und auch denen in anderen Bundesländern. Obendrein wird die Bürokratie wuchern, wenn nun wieder jeder einzelne die Berechtigung für die kostenfreie Schulspeisung erbringen muss. Dass soziale Ungerechtigkeit besser über die Besteuerung etwa von sehr hohen Einkünften, Vermögen und Erbschaften ausgeglichen werden sollte als ausgerechnet über die Bezahlung des Schulessens, scheint dem SPD-Mann Hikel offenbar nicht plausibel.

Anspruch auf eine warme Mahlzeit

Bereits 2022 startete das »Deutsche Netzwerk Schulverpflegung« (DNSV) eine Petition für kostenloses Schulessen, die an Bundesfamilienministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) gerichtet war. Mehr als 24.000 Menschen unterschrieben das Papier. Darin geht es darum, für alle Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik eine kostenfreie warme Mittagsmahlzeit pro Tag zu ermöglichen. »Das Schulessen muss als Kindergrundrecht in einem Bundesgesetz festgeschrieben werden«, heißt es, denn jedes Kind müsse die gleichen Chancen auf eine gesunde Entwicklung und Bildung erhalten. Dazu gehöre, dass niemand mit leerem Magen lernen solle.

Schulessen sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Bestandteil kommunaler oder landesweiter Ernährungsstrategien. Die Mittagsverpflegung in Kitas und Schulen werde immer teurer, zugleich fehle es an genügend regionalen und Bioprodukten. Die Caterer würden die steigenden Kosten weitergeben, so dass schlimmstenfalls bis zu zehn Euro pro Mahlzeit fällig werden könnten. Das sei für viele Familien nicht tragbar, weshalb es zu sozialen Verwerfungen komme. In anderen europäischen Ländern funktioniere die Bereitstellung kostenloser Schulmahlzeiten. So würden Estland, Finnland, Norwegen und Schweden an den staatlichen Schulen allen Mädchen und Jungen den freien Zugang zu einer warmen Mahlzeit ermöglichen. Damit würden auch soziale Unterschiede ausgeglichen. Die Bundesregierung sollte das kostenlose Schulessen als Kindergrundrecht beschließen und damit ein deutliches Signal für mehr Kindergerechtigkeit setzen.

Das Papier erreichte zwar im August 2022 als Onlinepetition auch den Deutschen Bundestag, wurde dort aber wegen Nichterreichens des Quorums – es gab lediglich 2.420 Mitzeichnende bis zum Herbst – nicht weiterverfolgt. Die Diskussion dürfte weitergehen. (gg)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Roland W. aus 08289 Aue (26. Juli 2024 um 13:54 Uhr)
    Wohin wir auch hören und sehen, wer und was verhindert ein kostenloses Mittagessen für Kinder, wer fordert warum und in wessen Interesse längere Arbeitszeiten ein, spätere Eintritt in das Rentenalter u. v. m.? Die Antwort heißt Kapitalismus. Eine kapitalistische Gesellschaft, eine Gesellschaft bestimmt von privaten Kapitalinteressen, ein Staat, der den Interessen des Kapitals verpflichtet ist, dort sind soziale Leistungen, Soziales für die mehrwertschaffenden Menschen nur Kosten, Kapitalkosten, die profitsteigernd zu minimieren sind. Solange eine Politik, Parteien, individuellen Interessen weniger zu dienen haben und nicht wahrer Demokratie der Mehrheit, der Gesellschaft dienen, solange wird sich an den unsozialen Erscheinungen nichts ändern, an den Bestrebungen sozialen Abbaus nichts ändern. Solange die Menschen in Mehrheit ihre Demokratie nicht selbst in die Hände nehmen, nicht nur glauben, die Kreuzchen am Wahltag könnten ihren demokratischen Willen manifestieren und verwirklichen, solange wird der soziale Widerspruch antagonistischen Charakter besitzen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (25. Juli 2024 um 20:17 Uhr)
    Es ist schon abstrus, dass Siemens-Azubis weniger für ihr Mittagessen zahlen als Berliner Grundschüler.

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