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Aus: Ausgabe vom 29.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Im kalten Licht

RP Kahls eindrückliche Verfilmung des Peter-Weiss-Stücks »Die Ermittlung« über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse hat nur eine Schwäche
Von Kai Köhler
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Mit Blick auf die Gegenwart: Zeugenaussage in »Die Ermittlung«

Wenn in der frühen Bundesrepublik die Rede von »Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« war, waren zumeist diejenigen gemeint, die bei alliierten Bombenangriffen oder bei Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten ums Leben gekommen waren. Sobald die bundesrepublikanische Justiz Kontrolle über verurteilte Kriegsverbrecher bekam, betrieb sie deren Freilassung. Nazis aus der zweiten und dritten Reihe besetzten wieder Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft. Dass es hin und wieder mit Unterstützung der DDR gelang, einen von ihnen zu entlarven, stützte für viele noch den Antikommunismus, der Staatsideologie war. Immerhin aber sorgte es bei manchen für Unruhe.

Bereits in den letzten Adenauer-Jahren wurde das Bild der Vergangenheit brüchig. Dazu trug eine Reihe von Gerichtsverfahren bei, zu denen – neben der Verhandlung gegen Adolf Eichmann in Israel 1961 – die Frankfurter Auschwitz-Prozesse ab 1963 gehörten. Der Schriftsteller Peter Weiss war im Frühjahr 1964 für einige Tage Zuschauer der Gerichtsverhandlung. Man kann ahnen, wieviel Kraft ihn das kostete. Während des Faschismus war er wegen seiner jüdischen Herkunft nach Schweden geflohen. Bis zu seinem Tod wohnte er im Exilland; bei Besuchen in Westdeutschland verließ ihn kaum je eine mehr oder minder bestimmte Angst.

Bis ins Detail

Nach dem Studium weiterer Prozessakten schrieb Weiss das Stück »Die Ermittlung«. Nun zeigt dokumentarisches Theater, das damals in der BRD große Beachtung fand, niemals, wie es wirklich gewesen ist. Dokumente geben außersprachliche Realität nicht unmittelbar wieder, sondern sind als interessengeleitete Schilderungen häufig Versuche, in ein Geschehen einzugreifen. Weiss folgte denn auch nicht einfach dem Prozessgeschehen. Er verdichtete die Aussagen der Prozessbeteiligten und ordnete sie neu an. Der Bogen spannt sich vom »Gesang von der Rampe«, über die Einteilung in arbeitsfähige Häftlinge einerseits und zu ermordende andererseits bei der Ankunft im KZ, bis zum »Gesang von den Feueröfen«, zur Verbrennung der Leichen. Ziel ist es, den gesamten Mechanismus des Vernichtungslagers zu zeigen, aber auch bis ins sprachliche Detail die Haltung der Täter. Da ist noch vor Gericht von »150 bis 200 Stück« die Rede, wenn es um ermordete Juden geht, und ein Täter versichert: »Ich hatte mit diesen Transporten / nur Auftragsmäßiges zu tun«.

»Die Ermittlung« wurde am 19. Oktober 1965 uraufgeführt, wenige Wochen nach der Urteilsverkündung, und zwar an 15 Bühnen in beiden deutschen Staaten. Das vieldiskutierte Ereignis war ein Indiz dafür, dass die bundesrepublikanische Vergangenheitspolitik gescheitert war. Fast 60 Jahre später sind die Akteure des deutschen Faschismus fast alle tot, keiner von ihnen ist mehr in einer Machtposition. Das Wissen über die Schoah kann jedenfalls bei denen als Allgemeingut gelten, die überhaupt von einem solchen Theaterstück erreichbar sind. Wie geht man nun mit Stück und Thema um?

Der Regisseur RP Kahl wählt für seinen Film einen Ansatz, der sogar auf den gegenwärtigen Bühnen ungewöhnlich wäre. Er vertraut ganz auf den Text und fügt beinahe nichts hinzu, außer vor den einzelnen Gesängen Luftaufnahmen des Lagers, auf denen Gebäude markiert sind. Soweit erkennbar, streicht er aber auch nichts. Das Ergebnis ist eine Zumutung: 240 Minuten Wortwechsel (in einer gekürzten Fassung immer noch 186 Minuten), bei einem gleichbleibenden Setting. Auf der einen Seite leitet der Richter die Verhandlung, vor ihm eine Gruppe stummer Zuschauer, gegenüber rechts und links Ankläger und Verteidiger, hinter dem Verteidiger die Gruppe der Angeklagten, in der Mitte ein Podium für die Zeugen. Der Raum ähnelt eher einem Fernsehstudio als einem Gerichtssaal. Verschiedenfarbige Scheinwerfer, die Beleuchtung und Verdunkelung einzelner Bereiche sorgen für Abwechslung. Doch herrscht ein kaltes Licht vor, und dass nur einige Gestänge den Saal begrenzen und eigentliche Wände fehlen, verstärkt den Eindruck von Unwirtlichkeit. Dies ist der Rahmen für eine fast endlose Aneinanderreihung der Berichte von Morden und Folterungen, dazu Beschönigungen, vorgetragen zumeist in der kargen Sprache, auf die die Justiz angewiesen ist.

Ein neuer Faschismus

Die Zumutung freilich ist wohlbegründet. Der Film, so treu er dem Theatertext ist, wird doch seinem Medium gerecht. Die Kamera ist beweglich. So kann sie den immer noch bedrohlichen Haufen der Angeklagten als Ganzen in den Blick nehmen, aber auch auf den Gesichtern der Zeugen kleinste Regungen zeigen, die schon von der siebten Reihe im Theater nur ungefähr zu erkennen sind. Vor allem lässt der Film keine Erholung zu. Die Theaterpause fällt weg, im Dunkel des Kinosaals ist kein abgelenkter Blick möglich.

Das hat eine spezifische Wirkung. Es verstärkt die künstlerische Verdichtung, auf die Weiss zielte, wenn er nicht nur von »Gesängen« sprach, sondern auch das Werk als »Oratorium« bezeichnete. Er notierte seinen Text in Versen, doch handelt es sich tatsächlich um Prosa. Was man beim Lesen sieht, kann man unmöglich hören. Das ist im Film natürlich nicht anders. Allerdings verschärft er das Spannungsverhältnis zwischen der Fülle an sachlichen Informationen und der Überwältigung durch die Monstrosität, das durch die Form, wenn nicht bewältigt, so doch erfasst werden soll.

Erstaunlich ist, wie vieles Weiss 1965 bereits wusste und hervorhob. Bei ihm kommen auch sowjetische Kriegsgefangene als Opfer vor, und er benannte die deutschen Firmen, die von Massenmord und Zwangsarbeit profitierten. Auschwitz ist Folge des Kapitalismus. Auch sind die beiden folgenden Stücke, in denen Weiss Kolonialismus und Vietnamkrieg thematisierte, schon dadurch als Fortsetzung der »Ermittlung« markiert, dass auch sie auf der Elfzahl der Gesänge als Formidee beruhen. Das hatte zum Vorwurf geführt, Weiss wolle von der Einzigartigkeit des Holocaust und der deutschen Verbrechen nichts wissen. Daran ist richtig, dass Weiss die »Ermittlung« mit Blick auf die Gegenwart schrieb. In ihr sah er die Gefahr eines neuen Faschismus. Das Schlusswort hat folgerichtig Robert Mulka, der ehemalige Adjutant des Lagerkommandanten: »Heute / da unsere Nation sich wieder / zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / als mit Vorwürfen / die längst als verjährt / angesehen werden müssten«.

Das nun ist ein Problem. Heute müsste Mulka AfD wählen. Die geschicktere Strategie dagegen ist: Immer mal wieder die eigene Schuld zu beteuern und die vorgebliche Läuterung als Begründung dafür einzusetzen, wieder kräftig dreinschlagen zu dürfen. Spätestens seit Joseph Fischers Infamie von 1999, mittels der Bombardierung von Jugoslawien müsse man ein neues Auschwitz verhindern, herrscht diese Variante vor. Kahls Film – und dies ist seine einzige Schwäche – weicht diesem Problem aus. Nach dem Schlusswort sieht man Aufnahmen des heutigen, wieder ergrünten Lagergeländes. Dies wäre ein tröstlicher Abschluss, wären sie nicht hart sekundenweise von einer schwarzen Leinwand unterbrochen. Versöhnung also gibt es nicht. Aber auch keine Antwort, wie man angesichts einer neuen politischen Lage mit dem Stück umgeht.

»Die Ermittlung«, Regie: RP Kahl, BRD 2023, 240 Min., bereits ­angelaufen

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph D. aus Gotha (29. Juli 2024 um 18:24 Uhr)
    Der Film zu dem Theaterstück über den Auschwitz-Prozess ist mehr als 60 Jahre nach Prozessbeginn wichtig, um sowohl die Erinnerung an diesen juristischen Meilenstein als auch an das unendliche Leid der Opfer des Holocaust wachzuhalten. Die damit verbundene Mahnung »Nie wieder!« kann nicht oft genug wiederholt werden, auch um den drohenden aktuellen Gefahren einer rechten Entwicklung in Europa und einer Gefährdung der Demokratie zu begegnen.

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