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Aus: Ausgabe vom 29.07.2024, Seite 12 / Thema
Kriegsgegner

Die Abschaffung des Krieges

Von Kant bis Luxemburg: Literatur gegen das Töten
Von Ulrike Heider
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Antikriegsepos eines großen Pazifisten. Tolstois »Krieg und Frieden« (Szene aus der gleichnamigen Oper von Sergej Prokofjew am Bolschoi-Theater, 1959)

Wann, warum und wie genau die Menschen den Krieg erfunden haben, ist bis heute ungeklärt. Auch die Frage, ob der Urmensch, wie Hobbes glaubte, kriegerisch oder, wie Rousseau phantasierte, friedlich war, bleibt offen. Eins aber scheint sicher zu sein, nämlich dass es schon immer Menschen gab, die für den Krieg nichts übrig hatten. Zu den ersten schriftlichen Zeugnisse dafür gehört die bekannteste der Komödien des Aristophanes. »Lysistrata« aus dem Jahr 411 v. Chr. erzählt die schöne Geschichte der Athenerin, die einen Sexstreik der Frauen ihren Männern gegenüber anzettelt, um gegen den Krieg zwischen Sparta und Athen zu protestieren. Das Beispiel macht Schule, und die Frauen Spartas schließen sich an. Gemeinsam besetzen die Griechinnen die Akropolis, beschlagnahmen die Kasse, aus der der Krieg finanziert wird, und erzwingen so den Frieden.

Ein nicht minder eindrucksvolles Dokument menschlicher Friedensliebe schrieb Erasmus von Rotterdam, der berühmte Humanist der Renaissance, mit seiner »Klage des Friedens«. Das war ein Appell an alle Monarchen Europas, die zu einer für das Jahr 1517 geplanten Friedenskonferenz im nordfranzösischen Cambrai eingeladen waren. Die Konferenz fand nie statt, aber es blieb Erasmus’ fiktive Rede der Friedensgöttin Pax, die sich beschwert, dass sie nirgendwo mehr einen ruhigen Platz zur Entfaltung ihrer segensreichen Eigenschaften finden könne. Die Göttin beschwört die Unvereinbarkeit von Christentum und Krieg und verweist auf den im Vergleich zu vielen Tieren schwachen und nackten menschlichen Körper ohne Krallen, Reißzähne oder Hörner. Völlig ungeeignet für Kampf oder gar Krieg sei dieses zarte, von Natur aus sanfte Lebewesen namens Mensch, dem Pax eine Utopie des Friedens und der Harmonie verheißt.

Zum ewigen Frieden

So bahnbrechend Aristophanes’ und Erasmus’ Friedensschriften zu ihrer Zeit waren und so berührend sie auf den heutigen Leser noch immer wirken – beide verurteilten nur ganz bestimmte Kriege, im ersten Fall den zwischen Sparta und Athen, im zweiten die zwischen den europäischen Monarchen des 16. Jahrhunderts. Mehr als zwei weitere Jahrhunderte sollte es noch dauern, bis im Zuge der Französischen Revolution die Idee eines weltweiten und permanenten Friedens geboren wurde, die das traditionelle Recht auf Krieg in Frage stellt.

Davon beeinflusst, wagte Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, als erster, die Abschaffung des Krieges an sich zu fordern. Allerdings erst, nachdem er den größten Teil seines Lebens an den Krieg als etwas Notwendiges oder gar »Erhabenes« geglaubt hatte. In seinem Traktat »Zum ewigen Frieden« von 1796 dagegen erklärte der Verkünder des kategorischen Imperativs einen weltweiten Frieden zwischen den Völkern zum notwendigen Ziel der Menschheit. Als Alternative zu einer solchen Zukunft prophezeit er die durch Krieg verursachte Selbstzerstörung der ganzen Art. Eine weiterhin kriegerische Menschheit, so Kant, werde ihren »Ewigen Frieden« nur »auf einem großen Friedhof der Menschengattung« finden.

Anders als Hobbes sieht Kant im Menschen und ebenso in der Natur nicht nur eine ursprüngliche Bösartigkeit, sondern auch eine Zweckmäßigkeit, die sich im Pragmatismus der Menschen niederschlägt und mit der Zeit deren Eintracht, »selbst wider ihren Willen«, herstellen wird. »Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt.« Am Ende wird sich sogar »ein Volk von Teufeln, wenn sie nur Verstand haben«, für verbindliche Gesetze zum Schutz vor einander und schließlich gegen den Krieg entscheiden. Der ewige Frieden, so der Schluss des Textes, sei keine »leere Idee«, sondern eine Aufgabe, »die ihrem Ziele (…) beständig näher kommt«.

Krieg und Frieden

73 Jahre nach Kants Traktat erschien »Krieg und Frieden«, das bis heute berühmteste Antikriegsbuch der Geschichte. Angesichts der »Vernichtungswut in den Kriegen« seiner Zeit warnte dessen Autor Lew Tolstoi ganz ähnlich wie Kant vor einem bitteren Ende der kriegführenden Menschheit ohne Sieger und Besiegte. Zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg prophezeite er »Ballons mit tödlichen Gasen« und »Bomben, mit denen die Menschen einander überschütten« werden. Mit Entsetzen sah er das Wettrüsten der Staaten und malte das Menetekel eines »unvermeidlichen Untergangs« an die Wand, »dem die ganze so genannte zivilisierte Menschheit entgegeneilt«.

Der große Pazifist war nicht immer ein Kriegsgegner gewesen. Als Spross einer Adelsfamilie mit einem Grafentitel und dem Erbe eines einträglichen Landguts begeisterte er sich als junger Mann für Vaterland und Krieg, diente in der russischen Armee und schrieb militaristisch geprägte Erzählungen. Erst nach zwei längeren Aufenthalten in Westeuropa, bei denen er den russischen Sozialisten Alexander Herzen und den französischen Anarchisten Pierre Proudhon getroffen hatte, entwickelte er den für ihn typischen religiös geprägten pazifistischen Anarchismus. Der Staat als Mittel, die künstlich in Nationen unterteilten Menschen im Namen des Patriotismus gegeneinander auszuspielen, erschien ihm seither als Wurzel von Militarismus und Krieg, die Regierung als eine »Bande von Räubern«. Als Alternative schwebte Tolstoi eine national übergreifende, friedliche Gesellschaft vor, in der wie in der russischen Dorfgemeinschaft das Land allen gemeinsam gehört.

»Krieg und Frieden« spielt im Russland zwischen den Jahren 1805 und 1812, schildert die damaligen Kämpfe zwischen der russischen und der französischen Armee und das davon geprägte Leben einiger Menschen der russischen Oberschicht. Da ist Pierre (Pjotr) Besuchow, Sohn eines steinreichen Grafen. Er ist die Inkarnation des unkriegerischen Mannes, begonnen mit seinem Äußeren. Pierre ist dicklich, bewegt sich unbeholfen und ist stark kurzsichtig. Als Natascha, die idealisierte weibliche Hauptfigur des Romans, in die Pierre verliebt ist, ihn fragt, warum er das Vaterland nicht verteidigen will, antwortet er: »Was bin ich schon für ein Krieger? Ich kann ja nicht mal aufs Pferd steigen, (…) militärische Neigungen liegen mir so fern. Und mir scheint, der Mensch, ein vernunftbegabtes Wesen, könnte so leicht ohne Krieg auskommen (…)«

Besuchow wächst in Paris auf. Er begeistert sich für die Französische Revolution, wird zum Anhänger Napoleons, schließt sich den Freimaurern an, entwickelt ein soziales Gewissen und will auf seinem Landgut die Bauern befreien. Nicht viel später aber entdeckt er den russischen Patriotismus, finanziert 1.000 freiwillige Soldaten für eine Landwehr zum Kampf gegen die Franzosen und will an der Schlacht bei Borodino teilnehmen. Nachdem er die blutige Wirklichkeit des Krieges als Zuschauer dieser Schlacht, in der 80.000 Menschen starben, gesehen hat, ist der Millionenerbe zutiefst erschüttert: Er sitzt »mit mahlenden Kiefern« auf der Achse eines Wagens, erkennt niemanden mehr und kann vor Tränen nicht sprechen.

Der Gegencharakter zu Besuchow ist Nicolai Rostow, ein glühender Militarist, der schon ganz jung in ein Husarenregiment eintritt und sich da sehr wohl fühlt. In einer Passage zu diesem keineswegs nur negativ beschriebenen Charakter findet Tolstoi die verächtlichsten Worte über das Militär im ganzen Buch. Vor dem Sündenfall, so der einstige Offizier Tolstoi, habe »das Fehlen von Arbeit« das Glück des Menschen ausgemacht. Seither aber fühle er sich schuldig, sobald er nicht arbeite. Könnte der Mensch, fragt er, Müßiggang und Pflichterfüllung miteinander verbinden, um ohne schlechtes Gewissen glücklich zu sein? Ja, lautet Tolstois Antwort, denn es gibt »einen Zustand vorgeschriebenen Müßiggangs«, und zwar beim Militär.

Eng mit seiner Liebe zum Militär verbunden ist Nikolai Rostows Liebe zum Zaren und damit zum »Ruhm der russischen Waffen«. Der Krieg selbst allerdings ist anders, als Rostow es sich vorgestellt hat. Nach der Schlacht bei Austerlitz sieht er das furchtbare Elend, das der Krieg verursacht hat: »Auf dem Feld lagen wie Getreidegarben auf einem fruchtbaren Acker etwa zehn bis fünfzehn Gefallene und Verwundete auf jeder Desjatine. Die Verwundeten waren zu zwei oder drei Mann zueinander gekrochen, und ihr grässliches Schreien und Stöhnen (…) verstärkte sich, wenn er in ihre Nähe kam.« Statt zu helfen oder Hilfe zu holen, bemüht sich Rostow, nicht hinzuschauen. Er fühlt keinerlei Mitleid, sondern straft die Verzweifelten mit »Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit«.

Wie fast alle der Tolstoischen Charaktere ist Nicolai Rostow ein gespaltener Mensch. Er, der Haudegen und Militarist, heiratet die tief religiöse Prinzessin Marja, die jeden Krieg bedingungslos ablehnt. Zum bevorstehenden Kampf gegen die Franzosen sagt sie lakonisch: »Da glaubt man, die Menschheit habe die Gesetze ihres göttlichen Heilands vergessen, der uns Liebe und Vergebung gelehrt hat, und ihre wichtigste Errungenschaft sei die Kunst, einander umzubringen.« Das ist die Position des späten, stark religiösen Tolstoi. Während die meisten Friedensaktivisten der Jahrhundertwende auf den Dialog der Parlamente, auf Schiedsgerichte, Abrüstung und internationale Rüstungskontrolle zählten, gab es für Tolstoi als Mittel zur Friedenssicherung einzig den individuellen Widerstand der Kriegsdienstverweigerung. Und sein Argument gegen den Krieg war und blieb allein das fünfte Gebot.

Die Waffen nieder

Anders als Tolstois Jahrhundertroman wird das zweite seinerzeit weltberühmte Buch gegen den Krieg, das 1889 erschien, heute kaum mehr gelesen. »Die Waffen nieder« von Bertha von Suttner ist so provokant, dass das Buch während des Ersten Weltkriegs in Deutschland verboten war. Die Schrift wurde in zwölf Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft und erschien auch in Russland und den USA. Wilhelm Liebknecht druckte es im sozialdemokratischen Parteiorgan Vorwärts in Fortsetzungen.

»Die Waffen nieder« ist weder besonders gut geschrieben noch besonders spannend. Auf den ersten Blick ein trivialer Frauenroman des 19. Jahrhunderts, lebt das Buch statt dessen von der bis in grauenhafteste Details beschriebenen Kriegswirklichkeit der damaligen Zeit, der beißenden Kritik am Militarismus und auch der Hoffnung auf eine menschliche Zukunft in Frieden.

Kaum je hatte bis dahin ein Autor gewagt, die verwüsteten Felder, die rauchenden Trümmer, die Pferdeleichen, die Blutlachen, die verstümmelten Menschen und das Röcheln der tödlich Verwundeten so schonungslos zu beschreiben wie Bertha von Suttner. Die Autorin hatte Interviews mit Überlebenden aus verschiedenen Kriegen ihrer Zeit geführt, die Aussagen der Befragten fast wörtlich übernommen, auf verschiedene Charaktere verteilt, mit historischen Dokumenten wie den Kriegserklärungen der einander feindlichen Regierungen kombiniert und so dem Leser erbarmungslos ins Gesicht geschleudert. Mit am schockierendsten ist der Bericht eines Militärarztes vom »Erscheinen des niederträchtigsten Abschaums der kriegsführenden Menschheit – der Schlachtfeld-Hyäne«. Gemeint sind Menschen, die nach dem Ende der Kämpfe den Toten die Kleider und Stiefel ausziehen, ihnen Ringe von den Händen ziehen oder gar die Finger abschneiden, um das Gold leichter zu bekommen. Wenn sich ein noch lebendes Opfer wehren will, sticht ihm die Hyäne die Augen aus oder ermordet es, um später nicht erkannt zu werden.

1843 als Gräfin Kinski geboren, war Bertha von Suttner die Tochter eines hohen österreichischen Militärs, der vor ihrer Geburt starb. Mutter und Tochter führten ein aufwendiges Leben, solange, bis das geerbte Geld aufgebraucht war. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen der sehr attraktiven jungen Frau, sich standesgemäß zu verheiraten, arbeitete sie als Gouvernante in einer wohlhabenden Wiener Familie, deren jüngster Sohn sich in sie verliebte und, als er sie heiratete, enterbt wurde. Die beiden verdienten ihren Lebensunterhalt nun mit dem Schreiben von Trivialromanen. In ihrer freien Zeit lasen sie zusammen Autoren wie Charles Darwin und entwickelten religions- und gesellschaftskritisches Bewusstsein.

Die Evolutionslehre, so Suttners Überzeugung seither, war es, aus der heraus eine neue »Humanitätsreligion« entstehen konnte. Sie habe bewiesen, dass die herrschenden religiösen Dogmen von Paradies, Sündenfall, Himmel und Hölle falsch seien und dass die Menschheit sich zum Guten weiterentwickelt, um »ihr Erdheim immer schöner und glückbringender zu gestalten«. Die Menschen einer solch idealen Zukunft, die den Krieg als Relikt des Mittelalters erkannt haben, nannte sie »Edelmenschen«.

Als Vorläufer der »Edelmenschen« erscheinen in »Die Waffen nieder« die Protagonisten Komtess Martha Althaus und Baron von Tilling. Martha ist in jungen Jahren eine begeisterte Militaristin und heiratet einen Grafen, der in der österreichischen Armee dient. Aus dem Krieg zwischen Österreich und Sardinien von 1859, den er als »frisch und fröhlich« phantasiert hatte, kommt er nicht zurück. Sein Tod und die Lektüre philosophischer und historischer Bücher machen aus Martha eine Kriegsgegnerin. Auch Oberstleutnant Baron Tilling, Marthas große Liebe und zweiter Ehemann, zweifelt mehr und mehr am Sinn seines eigenen Berufs.

Tilling wird für den Deutsch-Dänischen Krieg eingezogen. In seinen Briefen aus der Kampfzone berichtet er nicht nur von den Schrecken des täglichen Gemetzels, sondern auch von der »Todesfreudigkeit«, dem »Kriegstaumel« und dem »Kriegsgeschrei« vieler Mitsoldaten. So auch Marthas Vetter Gottfried. Mit Begeisterung, so berichtet Friedrich, schwadroniert dieser junge Mann von der Todesnähe, die ihn in eine »erhabene, epische Stimmung« versetzt, durchglüht von »edlem Zorn«: »Und es ist mir ein Hochgefühl, diesen Hass befriedigen zu dürfen (…), das ist ein eigen, geheimnisvolles Ding, dieses Umbringendürfen – nein Umbringenmüssen – ohne ein Mörder zu sein und mit unerschrockener Preisgebung des eigenen Lebens.«

Friedrich überlebt den Krieg. Er und Martha denken weiter über Krieg und Frieden und die moralische Evolution des Menschen nach und entdecken die Ideen von Staatenbund und Schiedsgerichten als Mittel der Völkerverständigung, die an Stelle von Kriegen treten soll. Dem urzeitlichen Faustrecht zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte, so Martha, ist eine Verständigung der einzelnen Menschen miteinander ohne Gewalt gewichen. Warum, fragt sie in Anlehnung an Kants Überlegungen, soll dies nicht auch im Umgang von Staaten mit anderen Staaten möglich sein?

Dem ins Gesicht schlägt der Rüstungswettlauf zwischen Österreich und Preußen, der dem Krieg von 1866 vorausgeht und den Martha und Friedrich mit Schrecken beobachten, bis Friedrich nach Böhmen beordert wird. Martha hört lange nichts von ihm und reist ins Kriegsgebiet, um ihn zu suchen. Auf der Fahrt trifft sie eine Krankenschwester, der der Ruf einer Florence Nightingale vorausgeht. Die Schwester erzählt von einem Ort, an dem nach der Schlacht über 700 Verwundete lagen, etwa 60 davon in einer Scheune »aufgeschichtet«, hungernd und mit unversorgten Wunden. Ihre zerschossenen Glieder waren nur noch »faulende Fleischstücke«, die Gesichter nur noch »eine mit Schmutz bedeckte, zerronnene Blutmasse« und der Mund nur noch eine »unförmliche schwarze Öffnung«. In der Kampfzone angekommen, meldet sich Martha als Krankenschwester, wird aber selber krank und muss nach Hause gebracht werden. Dort findet sie Friedrich, dem auch diesmal der Tod auf dem Schlachtfeld erspart blieb. Er beschließt, den Dienst zu quittieren, und beide wollen ihr künftiges Leben der Arbeit für den Frieden widmen. Sie lassen sich in Paris nieder, wo Friedrich für das Jahr der Weltausstellung von 1867 einen »Kongress der Friedensfreunde« plant.

Der Kongress bleibt Friedrichs Phantasie, und er und Martha erleben statt dessen, wie der Hass zwischen Franzosen und Deutschen unaufhaltsam wächst: »Die Feindschaft ward zu einer Institution erhoben, (…) die als Erbfeindschaft ihren Bestand unter kommenden Geschlechtern sichert.« 1871 kommt es zum Krieg. Als Bertha von Suttners Alter ego weist Martha nicht den damals Herrschenden die Schuld am gegenseitigen Morden zu, sondern einer »dritten Macht«, der »des überkommenen alten Kriegsgeistes«. Dass eine Erklärung dafür fehlt, gehört zusammen mit dem unerschütterlichen Glauben der Autorin an Vernunft und Güte der meisten der Monarchen ihrer Zeit zu den Schwächen des Buches. Zurück zur Handlung: Martha und Friedrich überleben die Belagerung und Beschießung von Paris und meinen, einem ruhigen Lebensabend entgegenzusehen. Dann aber wird Friedrich verdächtigt, ein preußischer Spion zu sein. Er wird zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen.

Dem traurigen Schluss des Romans folgt ein Epilog, in dem Martha die Diskussionen zum Thema Krieg und Frieden bei der Taufe ihres Enkels im Jahr 1889 wiedergibt. Der Sohn teilt ihre Antikriegshaltung, aber sie fürchtet, dass er, wenn »der über unseren Häuptern schwebende Riesenkrieg« ausbricht, mitmarschieren muss. Ein solcher kommender Krieg, so Martha, wird »nicht Gewinn für die einen und Verlust für die anderen, sondern Untergang für alle« bedeuten. Den apokalyptischen Visionen und Warnungen vor einem Weltkrieg stellt Martha die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft entgegen. Vielleicht, so Martha, sei die Menschheit trotz ihrer gefährlichen Nähe zur »Barbarei« auch ihrer »Veredelung« näher, als viele glaubten. Martha verweist auf die Vertreter der damaligen Friedensbewegung, zu denen Parlamentarier, Bischöfe, Gelehrte und Politiker gehörten, und nicht zuletzt die »millionenstarke Partei der Arbeiter«, zu deren wichtigsten Forderungen der Völkerfrieden gehört. All die, so die Pazifistin, haben es sich zur Aufgabe gemacht, »die weiße Fahne aufzupflanzen. (…) Ihr Schlachtruf ist ›Krieg dem Kriege‹, ihr Losungswort – das einzige Wort, welches noch imstande wäre, das dem Ruin entgegenrüstende Europa zu erlösen – heißt: ›Die Waffen nieder!‹«

Die Junius-Broschüre

Die Waffen wurden nicht niedergelegt, der Militarismus trieb neue Blüten, der Rüstungswettlauf beschleunigte sich, Kriegsgegner wurden verteufelt, vor allem in Deutschland. Trotzdem gab es Widerstand, mit antimilitaristischen Stimmen bis ins bürgerliche Lager hinein, mit Arbeiterdemonstrationen mit bis zu 200.000 Teilnehmern und großen Kundgebungen. So veranstaltete die SPD am 26. September 1913 im Stadtteil Bockenheim in Frankfurt am Main eine, wie es in der Parteipresse hieß, »überaus machtvolle und prächtige Kundgebung mit der Genossin Dr. Rosa Luxemburg als Referentin«. Die Rednerin sprach zwei Stunden über den Kapitalismus und seine Auswüchse, über Kriegshetze, Soldatenmisshandlungen und über den Massenstreik als Gegenmittel. Schließlich fragte sie ihr Publikum, »ob wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen würden«. »Niemals«, rief ein Zuhörer, und Luxemburg darauf: »Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht!« Wegen dieser Worte wurde sie wegen »Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und zu strafbaren Handlungen« angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Rosa Luxemburg wurde 1871 in Polen geboren. Ihre jüdische Familie ermöglichte ihr eine für Mädchen damals ungewöhnlich gute Bildung. Seit 1886 engagierte sie sich politisch in einer im Untergrund arbeitenden linken Gruppe, floh 1888 von Warschau nach Zürich, wo sie Völkerrecht, Staatsrecht, Philosophie und Botanik studierte und mit Auszeichnung promovierte. Sie engagierte sich zunächst in der polnischen Arbeiterbewegung und vertrat schon damals einen gegen jeden Nationalismus gerichteten radikalen Kurs. 1898 zog Luxemburg nach Berlin und wurde Mitglied der SPD. Auf deren linkem Flügel bezog sie Stellung gegen den antirevolutionären Revisionismus von Eduard Bernstein.

Der Prozess anlässlich des antimilitaristischen Statements der Rosa Luxemburg fand am 20. Februar 1914 in Frankfurt am Main statt. Die Angeklagte nutzte ihre Verteidigungsrede zu einem längeren politischen Statement. Sie sprach von der »ehernen Notwendigkeit«, mit der auf einer bestimmten Stufe der Menschheitsentwicklung »die höhere sozialistische Gesellschaftsordnung« an Stelle der gegebenen treten würde. Die Mehrheit des Volkes werde dann davon überzeugt sein, dass »Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung« seien. Das Kriegführen würde damit unmöglich. Die Menschen zu einem entsprechenden Bewusstsein zu führen sei Aufgabe und Ziel der Sozialdemokratie, fuhr sie fort und zitierte zum Beweis die Resolutionen verschiedener Kongresse der Internationale wie die des Züricher Kongresses von 1893, in der es heißt: »Mit der Aufhebung der Klassenherrschaft verschwindet auch der Krieg. Der Sturz des Kapitalismus ist der Weltfriede.«

Als am 4. August 1914 die Reichstagsfraktion der Sozialdemokratie für die Bewilligung der Kriegskredite stimmte, begann Rosa Luxemburg in einem Berliner Gefängnis in ohnmächtiger Wut auf den Sündenfall ihrer Partei einen ebenso polemischen wie analytischen Text zum Titel »Die Krise der Sozialdemokratie« zu schreiben. Das Pamphlet wurde 1916 unter dem Pseudonym »Junius« veröffentlicht und ging als »Junius-Broschüre« in die Geschichte ein.

Am Anfang heißt es zur Situation im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs: »Vorbei ist der Rausch. Vorbei der patriotische Lärm in den Straßen (…), das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen; ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel verwandelt, bereit zu denunzieren, Frauen zu misshandeln, hurra zu schreien (…). Die Regie ist aus. (…) Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen.«

Bürgerliche Politiker und sogar einige Militärs, so Luxemburg am Ende der Abrechnung mit der SPD, hätten den »Krieg mit den modernen Massenheeren für ein gewagtes Spiel« gehalten. Die Sozialdemokratie dagegen habe diese Besorgnis zerstreut und propagiere seit Kriegsbeginn das »Durchhalten«. Parallelen zu unserer Zeit drängen sich auf, sobald man die Sozialdemokratie durch die Grünen ersetzt, die sich tatsächlich in wesentlich kürzerer Zeit als die SPD von einer Antikriegspartei zu deren Gegenteil gemausert haben. Zurück zu Luxemburg. Erschreckend visionär war ihre düstere Vorahnung: »Ein Sieg Deutschlands wäre (…) nur ein Vorspiel zum alsbaldigen zweiten Weltkrieg und dadurch nur ein Signal zu neuen fieberhaften militärischen Rüstungen sowie zur Entfesselung der schwärzesten Reaktion (…) in allen Ländern, aber in erster Linie in Deutschland selbst.« Der deutsche Sieg blieb aus, nicht aber die schwärzeste Reaktion in Deutschland – verkörpert in den Nazis.

Die Kassandra des Holocaust wurde von präfaschistischen Militärs ermordet. Was von ihr bleibt, ist ihr radikaler Antimilitarismus als Teil ihrer radikalen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft. Rosa Luxemburg war keine Pazifistin im Sinne der Ablehnung jeglicher Gewalt. Sie sah den Ursprung der Kriege in der Klassengesellschaft. Und sie glaubte, dass diese Gesellschaft nur in einer sozialen Revolution überwunden werden kann, die auf Gewalt nicht grundsätzlich verzichten darf. Anders als Lenin und die Bolschewiki aber sah sie den von Deutschland provozierten Ersten Weltkrieg nicht als Geburtshelfer der Revolution, sondern als den Vorboten der Barbarei. Sie prophezeite den »Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom« und, in Anlehnung an Kant, einen »großen Friedhof«.

Der Zweite Weltkrieg und die Barbarei des Holocaust hinterließen einen Friedhof für über 70 Millionen Menschen, ein Blutbad so schrecklich, dass die Kantsche Idee von der endgültigen Überwindung des Krieges sogar in die Köpfe zum Teil konservativer Politiker Einzug hielt. Der »ewige Frieden« blieb indes weiter eine Utopie. Wie eh und je wurden grausame Kriege vorbereitet und geführt. Mehr noch als in der Vergangenheit allerdings regten sich Kritik und Widerstand von unten: von den Protesten gegen die deutsche Wiederbewaffnung, den Ostermärschen und den weltweiten Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, den millionenstarken Friedensmärschen gegen die Stationierung der »Pershing«-Raketen über die Proteste gegen den von der UNO nicht autorisierten NATO-Einsatz in Jugoslawien mit deutscher Beteiligung bis hin zu denen gegen die Besetzung des Irak durch die USA und Großbritannien mit deutscher Duldung. Die Frage, warum es heute trotz der bedrohlich näher rückenden Gefahr eines dritten Weltkriegs dergleichen kaum gibt, konnte meine Recherche bisher nicht beantworten.

Ulrike Heider ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Band »Die grausame Lust. Sadomasochismus als Ideologie«, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2023

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  • Leserbrief von Georg F. aus Heidelberg (30. Juli 2024 um 08:26 Uhr)
    Ein wunderbarer Artikel, der dazu noch viele bespricht, die seit gar nicht wenigen Jahren und Jahrzehnten als »uncool« abgelehnt werden. Wie oft ich an der Uni »Kant ist ein Rassist und dazu monokausal, ich bin so für Verflüssigung mit Deleuze und Derrida, ne« hörte, man kann es nicht zählen. Rosa Luxemburg wird, aber immer nur leise und raunend, als »Altlinke« für »Altlinke« gesehen. Was immer das sein soll. Selbst wenn heute Wissenschaftler mal gegen die »gerechten« Kriege à la der Grünen seit 1995 oder Hillary Clintons und so vieler ähnlicher Missionarsgedanken sind, müssen sie, cool-cool, unbedingt erst mal Kant wegschieben. Von Rosa Luxemburg oder Tolstoi wird in den letzten 30, 35 Jahren, wenn »gerechte« Kriege mal nicht einfach hingenommen werden, erst gar nicht geredet. Eine selten gute Zusammenfassung von Ideen zur Abschaffung der Kriege. Ich glaube, so könnte man zumindest einzelne Menschen wieder dazu bringen, die zu lesen, die allzu lange mit allerlei Posen, leider auch in den Kulturwissenschaften und der »hohen« Literatur, ohne weiteres weggedrängt wurden. Ernst Bloch schätzte sowohl Luxemburg als auch Kant. »Kampf, nicht Krieg« heißen seine politischen Schriften 1917–1919.
  • Leserbrief von Barbara Hug aus Schweiz (29. Juli 2024 um 11:20 Uhr)
    Man kann einen Krieg nicht »abschaffen«, ohne auf die ihn ermöglichenden Bedingungen einzugehen. Was hingegen immer möglich ist, ist der sofortige Waffenstillstand. Was weiter möglich ist, sind kluge Verhandlungen, die stets im Auge haben müssen, dass die Kriegsparteien ihr Gesicht wahren können. Bezüglich Russland-Ukraine-Krieg sprechen die Verantwortlichen noch immer von Sieg oder Niederlage. Dieses Denken führt nicht weiter. Ein Krieg ist immer eine Niederlage der Menschheit.

    Ohne die Anwendung moderner tiefenpsychologischer Kenntnisse wird sich auch die Frage nicht klären lassen, warum junge Menschen überhaupt in den Krieg ziehen. Alfred Adler aus der Wiener Schule war einer der Protagonisten, die sich dieser Frage annahmen. Die Fachwelt wandte sich mehrheitlich leider Freud zu, doch dieser war für den Krieg. Das passte den Herrschenden. Mit der Schrift von Pierre Ramus »Die Friedenskrieger des Hinterlandes« gelang ein anarchistisch inspiriertes Werk. Es zeigt die tiefen Zusammenhänge in der Psyche des einzelnen, in der psychischen Verfassung der damaligen Gesellschaft und dem Staat. Pierre Ramus gehört in die Aufzählung der Antikriegsliteratur unbedingt hinein.
    • Leserbrief von Georg F. aus Heidelberg (2. August 2024 um 10:14 Uhr)
      Ich glaube, das ist eine gute Ergänzung, Barbara Hug. Krieg hat sowohl mit Politik als auch mit Sozialpsychologie zu tun. Wenn z. B. Erich Fromm und Hilde Weiss 1929 als marxistische Sozialpsychologinnen eine Studie machten, um herauszufinden, welche Einstellungen Arbeiter und Arbeiterinnen hätten. Ob es eine Chance gäbe, mit ihnen politisch den Aufstieg der Nazis (und deren Krieg, den man 1929 nur befürchten konnte) zu verhindern. Man verwendete ausführliche Fragebögen, damals völlig neu. Das Werk erschien vollständig erst 1980 unter dem Titel »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des dritten Reichs«. Es gab Mutmaßungen, Horkheimer wäre die Fromm-Weiss-Studie »zu marxistisch« gewesen. Adorno hatte dann auch bald Fromm, den Leiter der Abteilung Sozialpsychologie der Frankfurter Schule, rausgemobbt (Adorno konnte recht eifersüchtig sein). Jedenfalls wurde die Studie damals nicht veröffentlicht (es gab nur einen ersten kleinen Bericht in der Institutszeitung.) Insofern widersprechen Sie sich beide gar nicht, Barbara Hug und Joachim S. Aber das ist ein altes Thema, und vielleicht war es immer schon ein Fehler, dass Linksradikale oft Sozialpsychologie und Soziologie ausklammern wollten. Vielleicht ja, weil auf beiden Gebieten Linke nie die Mehrheit hatten, und es morastiger werden kann. Oder weil weit linke Sozialpsychologinnen seit Jahrzehnten nicht da sind oder nicht beachtet werden. Von Pierre Ramus hatte ich noch nie gehört – dankeschön!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. Juli 2024 um 19:54 Uhr)
      Hat Krieg nicht eher was mit Politik zu tun als mit Psyche? »Wer da aber suchet am falschen Ort, der wird das Heil nicht finden.«

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