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Aus: Ausgabe vom 30.07.2024, Seite 12 / Thema
Vietnamkrieg

»Ohne Skrupel erschwindelt«

Die USA erfanden im August 1964 den »Zwischenfall im Golf von Tonkin« – und halten offiziell bis heute an ihrer Version der Ereignisse fest
Von Hellmut Kapfenberger
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Am 4. August 1964 meldete der Zerstörer »Maddox« im Golf von Tonkin »keine Vorkommnisse gesichtet«. Wenig später wurde daraus ein Angriff Nordvietnams konstruiert. US-Verteidigungsminister Robert McNamara am 5. August bei einer Pressekonferenz im Pentagon in Washington

Lügen als Vorwand für einen Krieg gehören in der internationalen Politik seit eh und je zum Geschäft. Sie wären eigentlich, müsste man meinen, aus völkerrechtlicher Sicht als Straftatbestand entsprechend zu ahnden. Daran aber fehlt es schon immer. Dagegen angehen zu wollen, wäre sicherlich ein nutzloses Unterfangen. Das ist auch der Grund dafür, dass niemand in Washington, kein Verantwortlicher im Weißen Haus, im State Department und im Pentagon für die an Dreistigkeit kaum zu überbietende Lüge, mit der die USA 1964 ihren Aggressionskrieg in Vietnam und speziell den Bombenkrieg gegen den Norden des Landes vorbereiteten, je zur Verantwortung gezogen worden ist. Damals ahnte noch niemand, dass Jahrzehnte später wieder eine Lüge Washingtons einem verbrecherischen Feldzug zu dienen haben würde, dem Krieg gegen Irak 2003.

Intensive Planung im Weißen Haus

Was Indochina ab 1964 durchleben musste, hatte eine jahrelange Vorgeschichte. Mitte 1964 waren alle Versuche der USA gescheitert, ohne eigenes direktes militärisches Eingreifen das unter Bruch des Völkerrechts abgespaltene Südvietnam als antikommunistisches Bollwerk in Indochina zu zementieren. Damals wirkten mehr als 20.000 US-Militärangehörige als »Berater« der hochgerüsteten Saigoner Armee in Südvietnam, und Washington hatte bereits mehr als 1,2 Milliarden US-Dollar als direkte Finanzhilfe für ihr 1955 installiertes Satellitenregime aufgewendet. Die von der Nationalen Befreiungsfront (FNL) Südvietnams mit aktiver Unterstützung aus dem Norden freigekämpften Gebiete umfassten schon fast vier Fünftel des südvietnamesischen Territoriums. Den Ausweg aus dieser Situation sahen Militärstrategen und Politiker der USA nur mehr in der 1965 eingeleiteten direkten militärischen Intervention, die bis dahin aus triftigen innen- und außenpolitischen Gründen unterlassen worden war. Im Klartext bedeutete das den Einsatz eigener Kampftruppen im Süden und einen großangelegten Bombenkrieg gegen den Norden.

Der Entschluss dazu fußte auf teils schon Jahre vorher abgehaltenen Strategieberatungen und Planspielen. Aufschluss darüber gaben 1971 publik gewordene geheime Dokumente, die sogenannten Pentagon Papers: United States-Viet­nam Relations, 1945–1967: A Study Prepared by the Department of Defense. Detailliert Aufschluss liefert auch der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara in seinen Memoiren. Den mit dem Namen Daniel Ellsberg verknüpften Pentagon Papers war zu entnehmen, dass im November 1961 in Washington die Entsendung von Kampftruppen nach dem Süden und Angriffe auf den Norden Vietnams erörtert worden waren. Entsprechende Forderungen hatten schon im Mai jenes Jahres die Vereinigten Stabschefs, die Chefs aller Teilstreitkräfte der USA, gegenüber McNamara erhoben, der daraufhin mit Außenminister Dean Rusk in einem Memorandum an Präsident John F. Kennedy für entsprechende Vorbereitungen plädierte.

Intensive Bemühungen schon lange vor 1964, mit verdeckten Operationen Nordvietnam zu destabilisieren, bezeugt McNamara. In einem im Mai 1961 im Auftrag Kennedys formulierten »Aktionsprogramm für Südvietnam« verlangte eine interministerielle Arbeitsgruppe, man müsse »auf der Grundlage durch Aufklärungsoperationen gewonnener Daten in Nordvietnam Widerstandsnetze und geheime Ausrüstungsbasen für Sabotage und Störaktionen installieren«. In der Saigoner Armee solle, so die Vertreter von Pentagon, State Department, CIA, USIA (United States Information Agency) und Präsidentenbüro, zunächst »eine geeignete Kapazität« geschaffen werden »für Ranger-Überfälle und ähnliche militärische Aktionen in Nordvietnam, die sich als notwendig oder angemessen erweisen«.

Lassen wir den prominentesten Zeitzeugen, den 2009 verstorbenen McNamara, das Geschehen im Detail aus seiner Sicht schildern. Er war unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson von 1961 bis 1968 Verteidigungsminister und wird als einer der »Architekten des Vietnamkrieges« tituliert. In seinen 1995 in New York veröffentlichten Memoiren »In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam« (Deutsch: Vietnam – das Trauma einer Weltmacht, 1996) wird deutlich, dass schließlich mit direkten Provokationen der CIA und des US-amerikanischen Militärs gezielt auf einen Luftkrieg gegen Nordvietnam hingearbeitet wurde. Der Nationale Sicherheitsrat habe »im Januar 1964 die Unterstützung geheimer Aktionen Südvietnams gegen Nordvietnam durch die CIA unter dem Decknamen ›Plan 34A‹ gebilligt«. Mitte Mai nannte die CIA in einem »Sonderbericht über Vietnam« die Lage im Süden »sehr prekär«, verbunden mit der Warnung: »Wenn bis Ende dieses Jahres die Welle der Verschlechterung nicht zum Stillstand gebracht ist, ist die antikommunistische Position in Südvietnam wahrscheinlich nicht mehr länger zu halten.« Die CIA-Prognose veranlasste Johnson, der als Vizepräsident 1963 nach der Ermordung Kennedys das Präsidentenamt übernommen hatte, State Department und Pentagon den dringenden Auftrag zu erteilen, »einen integrierten politisch-militärischen Plan für abgestufte Aktionen gegen Nordvietnam auszuarbeiten«. Verbunden damit legte das State Department den Entwurf einer Resolution vor, »mit dem der Kongress um Zustimmung ersucht wurde, die Militäraktionen in Indochina auszuweiten«. Dies war, so der damalige Verteidigungsminister, »der Ursprung der späteren Tonking-Resolution«.

Im Golf von Tonkin liefen »zwei Operationen der Vereinigten Staaten« an, neben dem Plan 34A auch die sogenannten Desoto-Patrouillen. »Plan 34A umfasste zwei Operationen: Zum einen wurden mit Funkgeräten ausgerüstete südvietnamesische Agenten per Boot oder Flugzeug in Nordvietnam abgesetzt, um Sabotage zu betreiben und Informationen zu sammeln; zum anderen führten Patrouillenschnellboote mit südvietnamesischer Besatzung oder ausländischen Söldnermannschaften sogenannte Hit-and-run-Angriffe auf Anlagen an der nordvietnamesischen Küste und auf ihr vorgelagerten Inseln durch«, schildert McNamara. »Die CIA unterstützte die 34A-Operationen, während das MACV (Military Assistance Command Vietnam/Militärisches Unterstützungskommando Vietnam; jW) sowie General Victor H. Krulak, Vertreter der Vereinigten Stabschefs in Washington, engen Kontakt zu ihnen hielten.«

Die Patrouillen »waren Bestandteil eines weltweiten elektronischen Aufklärungssystems und wurden von speziell dafür ausgerüsteten amerikanischen Marinekriegsschiffen ausgeführt. Von internationalen Gewässern aus fingen sie Radio- und Radarsignale von Küstenstationen auf, die sich an der Peripherie kommunistischer Länder wie der Sowjetunion, China, Nordkorea und, was hier von größerer Bedeutung ist, Nordvietnam befanden.« Der Befehlshaber der Pazifikflotte der USA, Admiral Moorer, habe »die Anzahl der Einsätze sowie den Kurs der Desoto-Fahrten« bestimmt.

Die Ereignisse vom 4. August

Es kam zu dem, was in der Welt, im Westen naturgemäß mit gewohnt falscher Wertung, als »Zwischenfall im Golf von Tonkin« registriert ist. Was war vor der Küste Nordvietnams, also der Demokratischen Republik Vietnam (DRV), im Golf von Bac Bo, so der vietnamesische Name des Golfes, wirklich geschehen? Es genügt, den sachkundigen Memoirenautor weiter zu Wort kommen zu lassen. In der Nacht zum 30. Juli griffen in einem 34A-Einsatz zwei südvietnamesische Patrouillenboote zwei Inseln Nordvietnams an, weil man den »Verdacht« hegte, von dort seien »Infiltrationsaktionen gegen den Süden unterstützt« worden. Am folgenden Tag lief der US-Zerstörer »Maddox«, der auf Desoto-Patrouille war, in den Golf ein. Am Nachmittag des 2. August meldete der Zerstörer, in internationalen Gewässern von zwei nordvietnamesischen Schnellbooten mit Torpedos und Bordwaffen angegriffen zu werden. Allerdings: »Es gab weder Verletzte noch Beschädigungen am Schiff«, schreibt McNamara. Offenbar haben die beiden Boote der DRV-Volksmarine nur ein paar Warnschüsse abgegeben. Von vietnamesischer Seite wird dieser Vorfall nicht bestritten. Johnson beorderte denn auch lediglich zur »Fortsetzung der Patrouille« einen zweiten Zerstörer, die »Turner Joy«, in den Golf und ließ eine »Protestnote« nach Hanoi schicken. Andere Reaktionen vermerkt McNamara nicht.

Am Morgen des 4. August (Ortszeit) »erfolgte ein weiterer 34A-Überfall auf die Küste Nordvietnams«. Am Abend (Ortszeit) meldete die »Maddox«, »es scheine ein Angriff durch nicht identifizierte Schiffe unmittelbar bevorzustehen«. Diese Vermutung basierte auf »geheimen Mitteilungen der National Security Agency, des Nationalen Sicherheitsdienstes des Pentagons«, der »nordvietnamesische Befehle abgefangen« haben wollte. »Eine Stunde später meldete die ›Maddox‹, sie habe Radarkontakt mit drei nicht identifizierten Schiffen.« Von dem nahen Flugzeugträger »Ticonderoga« stiegen Kampfflugzeuge auf. Alles weitere, von McNamara geschildert, spricht Bände.

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»In dieser mondlosen Nacht sorgten tiefhängende Wolken und Gewitter für extrem schwierige Sichtbedingungen. Im Golf aber herrschte während der folgenden Stunden Konfusion. Die beiden Zerstörer berichteten über mehr als 20 Torpedoangriffe, durch Torpedoabschüsse hervorgerufene Turbulenzen im Wasser, feindliche Cockpitlichter, Suchscheinwerfer, Maschinengewehrfeuer und Radar- und Echolotkontakte.« Da eine »Antwort unumgänglich« gewesen sei, »entwickelten wir umgehend einen Plan: Vier Stützpunkte der nordvietnamesischen Patrouillenboote und zwei Öldepots zur Versorgung dieser Schiffe sollten von einem Flugzeugträger aus bombardiert werden.« Da aber die »Berichte über einen zweiten Angriff hauptsächlich auf Echolotsignalen – die häufig nicht zuverlässig sind – beruhten, herrschte auch weiterhin Unsicherheit darüber, ob es sich tatsächlich um einen Angriff gehandelt hatte«.

Am frühen Nachmittag des 4. August Washingtoner Zeit (nach Mitternacht Golfortszeit) ließ Captain John J. Herrick, der Kommandeur der Desoto-Patrouille an Bord der »Maddox«, eine Blitzmeldung nach Honolulu und Washington funken: »Überprüfung des Vorfalls lässt viele der gemeldeten Feindberührungen und Torpedoangriffe zweifelhaft erscheinen. Die meisten der Meldungen beruhen vermutlich auf wetterbedingt verzerrten Radarbeobachtungen und Übereifer bei der Echolotauswertung. Von der ›Maddox‹ sind keine Vorkommnisse gesichtet worden. Schlage gründliche Auswertung vor, bevor weitere Aktionen erfolgen.« 41 Minuten später meldete der Chef des Pazifikkommandos (Pacom) der US-Streitkräfte, Admiral Grant Sharp, gegenüber dem Direktor des Vereinigten Stabes, USAF-Generalleutnant David Burchinal, Zweifel an Herricks Meldung an. 81 Minuten nach seiner ersten Meldung korrigierte sich Herrick. »Bin sicher, dass Angriff aus dem Hinterhalt beabsichtigt war«, ließ er funken. Offensichtlich passte die erste Meldung nicht in das schon fertige Angriffskonzept. Eine in die Feder diktierte angenommene Absicht also bestimmte das weitere Geschehen.

Am Abend Washingtoner Zeit trat dort der Nationale Sicherheitsrat zusammen, dann gab es eine Spitzenrunde im Oval Office des Weißen Hauses. Es folgte der Befehl des Präsidenten an die Flugzeugträger »Ticonderoga« und »Constellation« zur Bombardierung nach genanntem Plan. Ab 23.43 Uhr Washingtoner Zeit (5. August 10.43 Uhr Hanoier Zeit) flogen Trägermaschinen »64 Einsätze«. Am 7. August beschlossen Senat und Repräsentantenhaus des US-Kongresses bei nur zwei Gegenstimmen im Senat, darunter der profilierte Senator Wayne Morse, die schon Monate bereitliegende »Tonking-Resolution«, die Nordvietnam einer »gezielten und systematisch betriebenen Aggression« beschuldigte und dem Präsidenten grünes Licht »für alle notwendigen Maßnahmen« gab. Soweit McNamara.

»McNamaras Krieg«

Die von ihm geschilderten Abläufe bestätigen, was das Außenministerium in Hanoi in einem Memorandum zur »Wahrheit über den von den USA als Vorwand für die Luftangriffe auf die Demokratische Republik Vietnam inszenierten ›zweiten Zwischenfall im Golf von Tonking‹« erklärte: »Die Wahrheit unterscheidet sich völlig von dem, was der Präsident und der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten feierlich gegenüber dem amerikanischen Volk und der Weltöffentlichkeit erklärt haben.« Bei ihrer Darstellung handle es sich »um eine schamlos zynische Erfindung, denn am Tag und in der Nacht des 4. August 1964 befand sich kein Kriegsschiff der Demokratischen Republik Vietnam in der Zone, wo – nach der amerikanischen Version – die amerikanischen Zerstörer ›zum zweiten Mal von nordvietnamesischen Torpedoschnellbooten angegriffen‹ worden seien«.

So ließ denn auch der später über dem Norden abgeschossene James Stockdale, einer der Piloten, die von der »Ticonderoga« mehrmals mit Kurs auf die angeblich bedrohten Zerstörer aufgestiegen waren, in seinen von McNamara zitierten Erinnerungen wissen, »dass er, als er am 4. August die beiden Zerstörer überflog, keine nordvietnamesischen Schiffe gesichtet und von einem Angriff nichts bemerkt habe«. Der damalige stellvertretende US-Außenminister George Ball gestand 1977 in einem Rundfunkinterview der BBC: »Viele von denen, die mit dem Krieg befasst waren, (…) haben nach einem Vorwand für die Bombardierungen gesucht. (…) Die Desoto-Patrouillen dienten in erster Linie der Provokation. (…) Es machte sich die Ansicht breit, dass es genau der von uns gewünschten Provokation entspräche, wenn der Zerstörer in Schwierigkeiten geriete.« Die ohne Skrupel erschwindelte, langfristig vorbereitete Kongressresolution kam, wie es der Exverteidigungsminister nennt, »einer Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an Vietnam gleich«. Auf sie habe sich die Johnson-Administration berufen, »um ihre militärischen Operationen in Vietnam von 1965 an als verfassungsmäßig zu rechtfertigen«.

Natürlich war McNamara als Verteidigungsminister seinerzeit maßgeblich in diese Art der Vorbereitung der Aggression gegen Nordvietnam einbezogen, die er schließlich dann auch bis zu seinem Rücktritt mitzuverantworten hatte. Als Wayne Morse 1964 Vietnam »McNamaras Krieg« nannte, hatte der geantwortet: »Es freut mich, mit diesem Krieg identifiziert zu werden und alles zu tun, was ich kann, um ihn zu gewinnen.« In seinen Memoiren räumte er dann ein, dass dieser Krieg und seine eigene Rolle darin »falsch, schrecklich falsch« waren. Noch nicht derart ausgereifte Einsicht, aber auch nicht grundsätzliche Ablehnung dieses in Vietnam »Zerstörungskrieg« genannten Feldzugs waren Gründe für seinen Rücktritt 1968 auf dem Höhepunkt der erfolglosen US-Militärpräsenz in Viet­nam und der Antikriegsproteste in den USA. Man geht sicherlich in der Annahme nicht fehl, dass dieser Mann, als er sich daran machte, mit Koautorenhilfe seine Memoiren zu schreiben, sehr wohl noch wusste, was und worüber er schreibt und worauf er sich damit einlässt. Sie brachten ihm als »Nestbeschmutzer« heftige Anfeindungen aus den eigenen Reihen ein.

Selbstwahrnehmung der USA

Ein Wort zur Gegenwart. Von Expräsident Barack Obama initiiert, wird seit 2015 in den USA landesweit mit großem Pomp ein zehn Jahre, also bis 2025, währendes Vietnam War Commemoration (Vietnamkriegsgedenken) zelebriert. Als Anlass gilt der nicht exakt benannte »50th anniversary of the Vietnam War« im Jahr 1965. Auf einer vom Pentagon dafür eingerichteten Website (www.vietnamwar50th.com) erging man sich zunächst mit zahlreichen Dokumentationen in Glorifizierung des Feldzugs im Süden und des Bombenkrieges gegen den Norden Vietnams, Heroisierung der eingesetzten eigenen Truppen, Verharmlosung ihrer ruchbar gewordenen Verbrechen und Verfälschung des Kampfes der vietnamesischen Befreiungskräfte. Man scheut auch vor Räubergeschichten nicht zurück.

Voluminöser Bestandteil der Website ist eine interaktive, »timeline« genannte, Zeittafel für die Dekaden von 1945 bis 1975. Zwei Einträge gelten dem »Gulf of Tonkin incident«, mit Angaben zum 2., 4., 5. und 7. August 1964. Offenbar hielt man es 2015 nicht für opportun, die Mär von einem möglichen Angriff vietnamesischer Torpedoschnellboote am 4. August aufzuwärmen. So vermerkt man unter diesem Datum, dass die beiden Zerstörer »nicht angegriffen« worden waren. Dafür muss der 2. August mit angeblich dramatischem Geschehen herhalten, um den Kriegsbeginn rechtfertigen zu können. So liest man dort: »Am 2. August 1964 ist der Zerstörer ›USS Maddox‹ zur Unterstützung südvietnamesischer Spionageoperationen vor der Küste Nordvietnams im Golf von Tonkin stationiert. Drei kleine nordvietnamesische Schiffe greifen die ›Maddox‹ durch den Abschuss von Torpedos an, die alle ihr Ziel verfehlen. Eine Salve ihrer Geschütze an Deck trifft die Aufbauten der ›Maddox‹. Granatfeuer der ›Maddox‹ trifft die Angreifer, vom Flugzeugträger ›USS Ticonderoga‹ aufgestiegene F-8 Crusader Jets bombardieren die drei feindlichen Boote, wovon eines manövrierunfähig wird und in Brand gerät.« In das Reich der Märchen gehört auch, dass der Kommandant des Flugzeugträgers offenbar sofort, also auf eigene Verantwortung und ohne Befehl von »oben«, die vietnamesischen Boote hätte bombardieren lassen können. Immerhin wird aus der »Mission« der »Maddox« kein Hehl gemacht. Unter dem Datum 5. August wird dann kundgetan, dass Johnson »als Antwort auf den nordvietnamesischen Angriff am 2. August und den unterstellten Angriff am 4. August« der Navy befohlen habe, mit Trägermaschinen die ersten Angriffe auf nordvietnamesisches Gebiet zu fliegen.

Heute ist dort eine wenig abgeschwächte Version zu lesen, womöglich um die Beziehungen zu Vietnam nicht zu belasten: »Als die ›Maddox‹ nordöstlich von Hon Me (…) kreuzt, fangen Kommunikationsoffiziere einen nordvietnamesischen Angriffsbefehl von drei Torpedobooten gegen einen Feind ab, den sie (die Offiziere) für die ›Maddox‹ halten. Der Befehl, der möglicherweise ohne Genehmigung aus Hanoi erteilt wurde, wurde später zurückgenommen, allerdings zu spät, um den Angriff noch zu verhindern. Die drei ­sowjetischen Torpedoboote, die von zwei ›Swatow‹-Patrouillenbooten begleitet werden, nähern sich dem Schiff von Hon Me aus mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Knoten. Der Kommandant der ›Maddox‹, Captain John J. Herrick, ordnet mehrere Warnschüsse an, als sie in einen Umkreis von 10.000 Metern eindringen. Als sich die feindlichen Schiffe unbeirrt weiter nähern, eröffnet die ›Maddox‹ das Feuer mit ihren Fünf-Zoll-Geschützen und feuert insgesamt 283 Granaten ab. Die Intensität des Feuers des amerikanischen Zerstörers zwingt die Boote dazu, ihre Torpedos wahllos und aus extremer Entfernung abzufeuern, so dass sie leicht vermieden werden können. (…) Präsident Johnson, Verteidigungsminister McNamara, der nationale Sicherheitsberater Bundy und andere in der Verwaltung fühlen sich unter politischem Druck, auf den Zwischenfall im Golf von Tonkin zu reagieren. Johnson ordnet trotz der widersprüchlichen Berichte sofortige Vergeltungsmaßnahmen an, ohne einen vollständigen Bericht oder (»Maddox«-Kommandeur, jW) Herricks Erklärung abzuwarten, in der er eine detaillierte Überprüfung des Vorfalls vom 4. August vorschlägt. Die Vergeltungsoperation trägt den Codenamen ›Pierce Arrow‹ und ist der erste direkte Angriff der amerikanischen Streitkräfte auf Nordvietnam. US-Flugzeuge von den Flugzeugträgern ›USS Ticonderoga‹ und ›USS Constellation‹ greifen Erdöllager in Vinh, Nordvietnam, sowie Schiffe der nordvietnamesischen Marine an mehreren Stellen an.« So werden Kriege verfassungsgemäß gemacht.

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