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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 2 / Ausland
Warschauer Aufstand

Steinmeier bittet um Vergebung

Polen: Bundespräsident gedenkt Opfern des Warschauer Aufstands
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Demonstranten fordern am Rande der Kranzniederlegung in Warschau Reparationen Deutschlands

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Mittwoch in Warschau um Vergebung für die deutschen Kriegsverbrechen während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg gebeten. Die Bestialität der damaligen deutschen Verbrechen raube die Sprache, sagte Steinmeier. Es komme ihm kein anderes Wort über die Lippen als die von Herzen kommende Bitte um Vergebung, sagte er in den ersten Sätzen seiner Ansprache vor überlebenden Kämpfern des Aufstands von 1944. Deutschland und die Deutschen dürften die deutschen Verbrechen, die aus »Nationalismus, Imperialismus und Rassismus« entstanden seien, nie vergessen.

Das »Nie wieder!« müsse sich heute allerdings gegen Russland richten, das den Krieg »nach Europa zurückgebracht« habe. Deutschland und Polen seien Verbündete in EU und NATO und arbeiteten gemeinsam daran, die Ukraine zu unterstützen. Steinmeiers Rede wurde mehrfach von Beifall unterbrochen, es gab aber auch Zwischenrufe nach deutschen Reparationszahlungen an Polen. Steinmeier ging auf das Reparationsthema nicht ein, erwähnte aber, dass die Bundesregierung Pläne für ein »Polnisches Haus« in Berlin bestätigt habe und Entschädigungszahlungen an die noch überlebenden Aufstandsteilnehmer prüfe.

Polens Staatspräsident Andrzej Duda nannte den Aufstand von 1944 die »moralische Grundlage der polnischen Unabhängigkeit«. Sie sei zwar erst 40 – genaugenommen 45 – Jahre später gekommen, aber dies verdanke sich auch dem Heldenmut der damaligen Aufständischen. Duda verglich den polnischen Widerstand in Warschau mit dem der ukrainischen faschistischen »Asow«-Brigade in Mariupol, das ebenso wie einst Warschau durch die Deutschen von russischen Truppen bis auf die Grundmauern zerstört worden sei. Der Warschauer Aufstand stehe dafür, dass es nie wieder irgendwelche Okkupationen geben dürfe: keine deutsche, keine sowjetische und keine russische.

Bereits am Dienstag hatte der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski den Aufstandsteilnehmern dafür gedankt, dass sie »in schwierigen Zeiten die junge Generation moralisch aufgerichtet« hätten. Dieses Beispiel werde nie vergessen werden. Er wünsche den heute Lebenden, dass ihnen Herausforderungen wie die, vor denen die Widerstandskämpfer gestanden hätten, erspart blieben. Dank des Muts der Aufständischen sei Polen heute sicher, und kein vernünftig denkender Politiker würde wagen, seine Hand gegen das Land zu erheben.

Für den Donnerstag war noch ein politisches Gespräch zwischen Duda und Steinmeier sowie eine Kranzniederlegung seitens des Bundespräsidenten am zentralen Denkmal für die Aufständischen geplant. Um 17 Uhr sollten in Warschau und der umgebenden Region Masowien die Alarmsirenen heulen. Die Bevölkerung sei aufgefordert, ihre Verrichtungen im Gedenken an den Aufstand für einige Minuten zu unterbrechen, hieß es in einem vorab verbreiteten Aufruf des Verwaltungschefs der Hauptstadtregion. Die Aktion diene gleichzeitig als Test für die Funktionsfähigkeit der Alarmeinrichtungen.

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  • Leserbrief von Raimon Brete aus Chemnitz (5. August 2024 um 11:26 Uhr)
    Aufrichtige Demokraten, die sich dem antifaschistischen Erbe verpflichtet fühlen, werden immer der 6 Millionen polnischen Toten des verbrecherisch-fanatischen deutschen Angriffskrieges und besonders der über 200.000 Toten des Warschauer Aufstandes in Aufrichtigkeit gedenken.
    Erst nach 80 Jahren der blutigen Niederschlagung und barbarischen Vernichtung eines Großteils von Warschau bittet der Bundespräsident Steinmeier recht salbungsvoll um Vergebung. Wortreich und wohl ohne Skrupel und im Bewusstsein, dass die verflossenen Jahre den Mantel des Vergessens über das eigene Versagen einer antifaschistischen Aufarbeitung in Deutschland ausgebreitet, hat sein Auftritt etwas zutiefst Heuchlerisches.
    Dabei verblüfft die zur Schau gestellte Naivität und zeugt in erster Linie von bewusster Geschichtsvergessenheit, milder ausgedrückt von enormem Unwissen, was auf das Erinnerungs- und Bildungsniveau in Deutschland hinweist.
    In den drei Westzonen und später in der BRD wurden mehrheitlich die alten Beamten im staatlichen Machtapparat übernommen. Exemplarisch die Weiterbeschäftigung von Globke als Staatssekretär, Filbinger als Ministerpräsident, Gehlen als Chef des neuen Geheimdienstes, Heusinger als Generalinspekteur der Bundeswehr, Buback als Generalbundesanwalt, Schleyer als Arbeitgeberpräsident und, und, und. Kasernen der Bundeswehr und Straßen sowie Plätze tragen oder trugen Namen von nazistischen Parteigängern oder Offizieren/Generälen, z.B. von Manteuffel, Moeller, Freiherr v. Fritsch, Rommel, Lent, Marseille, Lilienthal.
    Als das Grundgesetz für die Bundesrepublik vorbereitet wurde, erklärte einer seiner Väter, "alle deutschen Gebiete außerhalb der Bundesrepublik ist als Irrendes anzusehen", also als Territorium unter fremder Herrschaft, "deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben", wäre (Nachzulesen im Protokoll der Sitzung der Unterausschüsse des Verfassungskonvents). Wer sich diesem Diktum nicht unterwerfe, hieß es weiter, sei "als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen".
    Der ersten Bundesregierung gehörten mehrere Mitglieder der NSDAP an.
    Den Gipfel des heuchlerischen und geschichtsvergessenen Auftretens des Bundespräsidenten beweist die Tatsache, dass der bekannte Schlächter von Warschau, der deutsche SS-Gruppenführer, Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei Heinz Reinefahrt war. Er wurde nicht an Polen ausgeliefert und im Entnazifizierungsverfahren wurde er von jeder Schuld freigesprochen. Reinefahrt erhielt auch die Zulassung als Rechtsanwalt und war von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland. 1958 wurde er in den Schleswig-Holsteinischen Landtag gewählt.
    Nahezu begeistert loben polnische Politiker und Amtsträger diesen Auftritt des sozialdemokratischen deutschen Bundespräsidenten.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Hildegard E. aus Panker (2. August 2024 um 13:17 Uhr)
    Moin, ich warte immer noch auf die Bitte um Vergebung an die Bevölkerung Leningrads, deren Vorfahren zu über 1 Mio durch die deutsche Blockade starben. Auch in der deutschen Bevölkerung ist das beschämenderweise kein Thema.
  • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (2. August 2024 um 07:52 Uhr)
    So richtig es ist, dass sich der Bundespräsident vor den Opfern des Warschauer Aufstandes verneigt, so falsch ist es, ihm seine Entschuldigung vorbehaltlos glauben zu wollen. Denn der oberste Repräsentant der Bundesrepublik vergaß zu erwähnen, wie viele der Mörder von Warschau in seinem Land nach dem Krieg flugs entnazifiziert wurden und ihr Leben als honorige und unbescholtene Bürger – oft auch in hohen politischen Ämtern – fortsetzen konnten. »Die Mörder sind unter uns«, dieser Film beschrieb treffend die langjährige Realität in jenem Deutschland, für das Herr Steinmeier heute repräsentieren fährt. Für diese historische Schuld der BRD hat er sich ausdrücklich nicht entschuldigt. Darüber kann auch der von Pfarrer Gauck übernommene pastorale Ton nicht wirklich hinwegtäuschen.

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