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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 4 / Inland
Reuls »Transparenzoffensive«

Vorstoß zur Stigmatisierung

NRW: Innenminister will Polizei einheitlich vorschreiben, in Mitteilungen Nationalität von Tatverdächtigen zu nennen. Grüne und Verbände warnen
Von David Bieber
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Mit ihren Mitteilungen will die Polizei auch über Narrative mitentscheiden. Festnahme in Essen (29.6.2024)

Die Regierung in Nordrhein-Westfalen gibt dem Druck von rechts nach. Weil laut Innenministerium das Nennen der Nationalität eines mutmaßlichen Straftäters »Spekulationen vorgreifen sowie dem Vorwurf, etwas verschweigen zu wollen, entgegentreten« würde, will Innenminister Herbert Reul (CDU) künftig für alle Polizeien regeln, immer die Staatsangehörigkeit in der Berichterstattung der Behörden öffentlich zu machen. Ein weiterer Grund für die Entscheidung ist laut einem Sprecher des Ministeriums, dass die Nationalität von Verdächtigen »erfahrungsgemäß auch immer häufiger Teil von journalistischen Nachfragen« sei. Aus den Reihen des Koalitionspartners Bündnis 90/Die Grünen wird Kritik an dem Vorhaben laut, während die Opposition im Landtag Zustimmung signalisiert.

So zeigte Elisabeth Müller-Witt, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, am Donnerstag auf jW-Anfrage Verständnis für die angekündigte Neuregelung. »Leider hat eine Nichterwähnung der Nationalität in der Vergangenheit viel zu häufig vor allem Verschwörungsnarrativen Vorschub geleistet und ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllt«, bedauerte Müller-Witt. Sofern ein Sachzusammenhang gegeben sowie das öffentliche Interesse absehbar und gerechtfertigt sei, brauche es eine »transparente« Kommunikation der Behörden gegenüber Medien – bei weiterhin »nötiger Sorgfalt und Abwägung«. Die FDP-Fraktion begrüßte explizit Reuls Vorhaben.

Dagegen favorisiert die Innenpolitikerin Julia Höller (Grüne) die derzeitige Regelung, wonach im Einzelfall über die Veröffentlichung der Nationalität zu entscheiden ist, wie sie gegenüber dieser Zeitung am Donnerstag erklärte. Bislang können die Polizeistellen in NRW eigenständig entscheiden, ob sie die Nationalitäten nennen. Dabei verfügt die Staatsanwaltschaft über eine Art Vetorecht. Dieses soll sie auch nach Reuls Plänen weiterhin haben.

Der Jungen Union (JU), Jugendorganisation der Regierungspartei, geht der Vorstoß des Ministers noch nicht weit genug. Bei sogenannten Doppelstaatlern unter Tatverdächtigen sollen ihrer Ansicht nach bald auch alle Nationalitäten genannt werden dürfen. Angeblich soll so »Rechtspopulisten« und »Verschwörungstheorien« der Wind aus den Segeln genommen werden. Für das Vorhaben muss der Medienerlass für die Polizei in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2011 überarbeitet werden. Angeblich ist das Ziel der »Initiative« von Reul, für zeitgemäße Einheitlichkeit und vor allem mehr Transparenz zu sorgen. Bislang war die Zugehörigkeit von Verdächtigen zu ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht erwähnt worden. Ausnahme: Es besteht ein »begründetes öffentliches Interesse«.

Grundsätzliche Bedenken hatten am Mittwoch der Deutsche Journalistenverband (DJV) und der NRW-Integrationsrat geäußert. Der DJV wies darauf hin, dass Nationalität nicht ausschlaggebend für eine Straftat sei. Landesgeschäftsführer Volkmar Kah sagte gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, dass es weiterhin eine Einzelfallprüfung geben müsse und dabei zwischen öffentlichem Interesse und Minderheitenschutz abgewägt werden sollte. Der Landesintegrationsrat bewertete gegenüber dpa die geplante Änderung des Medienerlasses für die Polizei als »problematisch und gefährlich«. Durch die Nennung der Nationalität von Tatverdächtigen entstehe »bei der Bevölkerung der Eindruck, dass diese entscheidend für das kriminelle Verhalten ist«, teilte der Rat mit.

Studien wie die des Münsteraner Kriminologen Christian Walburg kamen zu dem Ergebnis, dass Kriminalität in erster Linie durch drei wesentliche Faktoren beeinflusst werde: Klassenzugehörigkeit (»sozialer Status«), Geschlecht und Alter – nicht jedoch die Herkunft. Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse wiederholt auf, dass insbesondere junge Männer überproportional häufig Straftaten begehen. Auch das unabhängig von ihrer Herkunftsgeschichte.

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