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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 8 / Ansichten

Problem des Tages: Du

Von Susanne Knütter
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Warum du so gestresst bist? Guck mal in den Spiegel!

In 58 Minuten schnell noch das Porträt. Dann muss ich losrennen. Zum Kindergarten – wie jeden Tag. Warum habe ich mich nur dafür gemeldet? Schließlich soll die Glosse gut werden. Immerhin lesen Leute diese Zeitung. Erstmal Kaffee holen. Nein, doch nicht. Keine Zeit. Jetzt sind es nur noch 52 Minuten. Bin ich gestresst? Quatsch. Denn nach einer neuen Studie machen wir uns den Stress selbst.

Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse fühlen sich 43 Prozent der Berufstätigen häufig enorm unter Druck – jeder siebte sogar sehr häufig. Grund für diesen Stress sind unsere eigenen Erwartungen. Das empfinden demnach immerhin 65 Prozent der Befragten. Nebensächlichkeiten wie Zeitdruck (das nannten 62 Prozent), Überstunden (36 Prozent), die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf (27 Prozent), geringes Gehalt (23 Prozent), Kontrolle durch Vorgesetzte (19 Prozent) sind der Versicherungsstudie zufolge nicht dahinterliegende, sondern weitere Faktoren für Stress – und immer mehr Krankentage. Jeder vierte ist immerhin wegen Belastung im Arbeitsalltag schon einmal ausgefallen. Denn wie die Gedanken in den Kopf kommen oder auch der Stress in die Birne, interessiert solche Studien nicht.

Wenn doch, stünde nämlich die Frage im Raum, warum der Stress eigentlich kein Ende nimmt, wenn immer mehr automatisiert stattfindet und so weiter. Die Lösung müsste dann freilich etwas anders ausfallen als die, die uns die Krankenkasse anbietet: »Unsere Umfrage zeigt, dass Stress sehr individuell wahrgenommen und stark von der eigenen Einstellung beeinflusst wird«, heißt es da aus der arbeitspsychologischen Abteilung. Und das ist natürlich eine gute Nachricht. Denn daran lässt sich arbeiten. In diesem Sinne: Elf Minuten habe ich noch. Ich könnte noch einmal über den Text gehen oder entspannt zum Bahnhof.

Ich renne. Es geht schließlich um was.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Georg F. aus Heidelberg (2. August 2024 um 08:48 Uhr)
    Guter Artikel! Die Propaganda für »mehr Überholspur« lief prima. Da gab es Sascha Lobo mit Holm Friebe, 2006, »Wir nennen es Arbeit«, über die »digitale Boheme«. Fun, lifestyle and getting rich – kein Problem, sangen viele von links bis rechts. Und im Zuendfunk des BR hatte man schon lange vor 2006 von »flachen Hierarchien« und lässiger Lockerheit in der Arbeitswelt phantasiert. Wenn dann fast alles anders kam, hatten gestresste Journalistinnen vielgelesener Medien sicher nur keine Zeit, um Kritik an ihren schönkapitalistisch klingenden Welten zu schreiben. Interessant auch aus der ‚hohen‘ Literatur damals manchmal zu hörende Floskeln wie »ich bin fröhlicher Berserker«. Dabei kam fast gleichzeitig das »burn out« als »macht sich gut in der Karriere« auf. Grenzen testen. »Deine Testen grenzen«, sagten wir immer. Man stellte keine Fragen, man hatte nur Antworten, behauptete aber gekonnt das Gegenteil. Gut gemacht! Interessant, wer dann medial verhöhnt wird, wer nicht. Es gab auch aus weit linken Richtungen (so wie man tausende Male »Bielefeld« sagte, um sich metropolengestählter zu fühlen und schlechte Laune rauszuerbrechen) die Mode, »Langsamkeit« zu verhöhnen. Neben dem im Artikel beschrieben Trick "DU musst lockerer sein!" gibt es dutzende Millionen Menschen, die all das längst überall gern mitmachen, wie eingebrannt, auch in der Freizeit, selbst ohne Stress; schaut euch um. (Bei der nächsten Kritik an marxistischen Sozialpsychologen wie Fromm dran denken, wie postmodernes coaching diese Linken als »uncool« verdrängte und zu den »setz deinen Stress nicht unter Energie - erfinde dich neu« Sätzen führte). Die Mehrheit der letzten 35 Jahre war sehr erfolgreich! Coolen in der Kultur war es Mittel, sich überlegen zu fühlen (Bielefeld), was vielen Firmen Wunscherfüllung wurde. Ausquetschen sogar mit Hilfe hoher Intelligenz und argumentfreier Posen. »Wir nennen es Ausbeutung« ist in letzter Zeit nicht erschienen, das coaching blüht weiter.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (1. August 2024 um 22:02 Uhr)
    Ja, klaro, der Stress ist selbstgemacht: zuwenig Selbstoptimierung! Haben Sie eine Lösung, oder sind Sie Bestandteil des Problems? § 1: Der Chef hat immer recht. § 2: Sollte der Chef einmal nicht recht haben, tritt automatisch § 1 in Kraft. »Der Chef« müsste heutzutage natürlich politisch korrekt gegendert werden. Wenn die StressIn ein Ende nähme, käme frau womöglich auf dumme Gedanken, zum Beispiel sich politisch zu bilden oder gar zu betätigen oder ihrer künstlerischen Art folgen und meistersingen.

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