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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

»I’m writing for people, baby!«

James Baldwin zum 100.: Ein biographischer Essay porträtiert den US-Schriftsteller als Zeugen des 20. Jahrhunderts
Von Sabine Lueken
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Nach der Schlacht: James Baldwin bei einer Buchpräsentation in Amsterdam (14.11.1974)

In dem misslungenen und deswegen sehr aufschlussreichen Filmporträt »Meeting the Man. James Baldwin in Paris« (1970) kommt es vor laufender Kamera zum Streit zwischen James Baldwin und dem britischen Regisseur Terrence Dixon. Baldwin hat kein Interesse an einem Schriftstellerporträt, er will als »schwarzer Mensch in der Mitte dieses Jahrhunderts« »Zeugnis ablegen für etwas, das ich weiß«. Er wird ziemlich ärgerlich angesichts der Impertinenz der Filmleute, die ihn als existenzialistischen Träger von schwarzen Rollkragenpullovern im Pariser Exil zeigen wollen. Am Ende des Films willigt er ein, doch über seine Rolle als Schriftsteller zu sprechen. Der Interviewer sagt: »Sie schreiben für weiße Menschen, sind Sie sich dessen bewusst?« Er glaube nicht an weiße und auch nicht an schwarze Menschen, antwortet Baldwin: »I’m writ­ing for people, baby!«

René Aguigah, Ressortleiter Literatur beim Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur, hat nun einen biographischen Essay über Baldwin geschrieben, dessen Werk er entlang dreier Gegensatzpaare strukturiert. Erstens: Baldwin als Verfasser von Literatur und als politisch engagierter Mensch. Zweitens: Baldwin als Romancier und als Essayist. Drittens: Baldwin als Partikularist und als Universalist. »Überwiegt in Baldwins Denken die Orientierung an partikularen Kollektividentitäten oder die Orientierung an der Universalität des Menschseins?« wie Aguigah modisch formuliert. Dazu fährt Baldwin im Film fort: »Ich kenne den Unterschied zwischen Schwarz und Weiß in dieser Zeit. Er bedeutet, dass ich mich nicht über einige Dinge täuschen kann, über die ich mich täuschen könnte, wenn ich weiß wäre.« Hier wie auch für das gesamte Schaffen kann man mit Aguigah zum Ergebnis kommen, dass sich bei Baldwin beides findet – die Verbundenheit mit allen Menschen und der Kampf für die Interessen der Afroamerikaner. Und die beiden Pole sind zwar »vereint«, aber nicht »versöhnt«.

Baldwin wurde vor 100 Jahren, am 2. August 1924, im New Yorker Stadtteil Harlem geboren. In ärmlichen Verhältnissen wuchs er mit Mutter, Stiefvater, einem streng-religiösen Prediger, und acht Geschwistern auf. Als Jugendlicher wurde er zunächst selbst Laienprediger, bevor er sich von der Kirche löste, zu schreiben begann und 1948 nach Paris ging. Fortan verbrachte er sein Leben als »eine Art transatlantischer Pendler« zwischen Paris, Südfrankreich, Kalifornien, Istanbul und New York. Nachdem er 1957 in die USA zurückgekehrt war, wurde er ein eloquenter, charismatischer »Star« der Bürgerrechtsbewegung. 1970, nach den Morden an Medgar Evers (1963), Malcolm X (1965) und Martin Luther King (1968), ging er zurück nach Frankreich und geriet ab den 70er Jahren in Vergessenheit. Prominente Vertreter der Black-Power-Bewegung wie der Black Panther Eldridge Cleaver oder der Schriftsteller Amiri Baraka, der bei Aguigah gar nicht vorkommt, kritisierten ihn zu Unrecht als proweiß. Baldwin starb am 1. Dezember 1987.

Ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt ist er spätestens seit 2016 mit der Präsidentschaft Donald Trumps und der sich von den USA aus transnational verbreitenden Bewegung »Black Lives Matter«. Zitate von Baldwin werden auf T-Shirts und Sticker gedruckt. Der Dokumentarfilm »I am not your Negro« (2016) von Raoul Peck – mit Baldwins unvollendetem Text »Remember This House« über Malcom X, Martin Luther King und Medgar Evers als melancholischer Kommentar aus dem Off – gewann 2017 auf der Berlinale den Panorama-Publikumspreis. Seit 2018 erscheinen Baldwins scharfsinnig-präzise, differenzierte Texte in neuer Übersetzung im DTV-Verlag, nachdem sowohl die BRD- als auch die DDR-Ausgaben jahrzehntelang vergriffen waren.

Aguigah skizziert in seinem Buch Baldwins Gedanken entlang seiner großen Themen Rassismus, Sex, Liebe und Hass. Dabei verknüpft er Leben und Werk, ohne zu privat zu werden. »Beim Schreiben schöpft man nur aus einem – der eigenen Erfahrung«, war Baldwin überzeugt. In seinem ersten Roman »Go, Tell It On The Mountain« (1953) (deutsch: Gehe hin und verkünde es vom Berge; im neuen deutschen Titel »Von dieser Welt« ist der schöne Gospelswing beseitigt) erzählt er vom Aufwachsen seines Alter egos John im Harlem der 1930er Jahre, kurz nach der »Great Migration«, der Massenwanderungsbewegung von ca. 1,6 Millionen Afroamerikanern aus dem Süden in den Norden und Westen der USA. »Giovannis Zimmer« (1956) spielt in Paris und handelt von der scheiternden Liebe zwischen zwei weißen Männern – ein Fall von »Critical Whiteness«, bevor der Begriff überhaupt erfunden wurde, so Aguigah. Den Roman »Ein anderes Land« (1962) analysiert der Journalist als großes Panorama »vom Lieben, Kämpfen und Überleben von miteinander verbundenen Weißen und Schwarzen«.

Die essayistische Warnung »The Fire Next Time« (1963) begründete Baldwins »Ruf als Prophet«. Hier wie auch schon in seinem ersten Aufsatzband »Notes of a Native Son« (1955) (deutsch: Von einem Sohn dieses Landes) entdeckt Aguigah eine wiederkehrende Gedankenkette, die er »Baldwins Formel« nennt. Der Rassismus zerstöre innerlich auch die Weißen. Damit sie mit sich selbst leben könnten, müssten sie einen Weg finden, mit den schwarzen Amerikanern zu leben. Denn das Land gehöre beiden gleichermaßen. Das war auch eine Absage an den umgekehrten Rassismus der »Black Muslims« und ihre Idee eines eigenen Staates für die Schwarzen.

Der Roman »Tell Me How Long the Train’s Been Gone« (1968) wurde von der Kritik überwiegend als propagandistisch und oberflächlich abgelehnt, Aguigah hingegen analysiert den Roman als Weiterentwicklung von Baldwins Reflexionen. Die Hauptfigur, der Schauspieler Leo Proudhammer, ist befreundet mit Christopher, »black in color, black in pride, black in rage«. »Christopher ist die Figur, durch die der sich radikalisierende Flügel des Protests aus der Gegenwart der mittleren 60er Jahre in den Roman ragt«, so Aguigah. Baldwin sympathisierte Ende der 60er Jahre mit den Black Panthers, aber am Ende des Romans hat der schwarze Künstler das letzte Wort und nicht der junge Militante, merkt Aguigah an. »Beale Street Blues« (1974) ist die Liebesgeschichte eines schwarzen Pärchens aus der Perspektive der Frau »inmitten der gesellschaftlichen Unbilden«, sprich Polizei- und Justizwillkür.

Baldwin war ein furchtloser und schonungsloser Zeuge. Er wollte, Aguigah zitiert es, »ein aufrichtiger Mensch sein und ein guter Schriftsteller«. Den letzten Roman, »Just Above My Head« (1979), würdigt er als Reflexion der Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung, die Baldwin mit Malcolm X den »jüngsten Sklavenaufstand« nannte, »nach der Schlacht«. »Wer dabei war, wer Zeuge war, wird diese Zeit für immer erinnern«, so Baldwin.

René Aguigah: James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt. C. H. Beck, München 2024, 233 Seiten, 24 Euro

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