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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Olympia-Telegram

Ockhams Rasiermesser oder: Vormittag mit Zilpzalp

Von Jürgen Roth
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»Am Ende geht es um den Mindset-Shift« – Hockeyexpertin Janne Müller-Wieland

Ich sitze vor dem »Seven Bistro«. Vorhin, zum Morgenkaffee, Surfen. Danach Damenhandball, ganz »okay« (Eckhard Henscheid). Dann ein Bericht über Feminismus bei Olympia (o. s. ä.), war mir zu doof.

Der Bistrotisch steht noch im Schatten. Eine kühle Brise streicht die Straße hinunter. Ein Bauer, der Odel ausfährt, würzt die Luft.

Ab 10.43 Uhr darf man Hefeweizen trinken. Gegenüber das Grün des Baron­parks, ein unverschämtes, ein geradewegs frivoles Grün. Ein Westwall aus fünfzehn, zwanzig Meter hohen Ahornbäumen. Eine gnädige Wildnis, zu der der gemeine Mensch keinen Zugang hat – gelobt sei der Feudalismus –, er tät’ in kürzester Zeit alles niedermähen.

Im Hintergrund singt ein Zilpzalp.

L. zuckelt im Auto vorbei und ruft mir aus dem heruntergekurbelten Fenster zu: »Ei Jürgen, was machst denn du schon in der Kneipe?!«

Ich wische mit der Hand von rechts nach links, in Fahrtrichtung, und repliziere: »Weiterfahr’n! Weiterfahr’n!«

Meine Theorie von der umgekehrten Proportionalität haut nicht gänzlich hin. Die zu den Kanuten abkommandierte Ann-Kathrin Rose fabuliert über Athleten, »die sich selber noch mal zupushen« (womit? Mit Gutmann?), und liebt die jüngste Missgeburt aus dem Kosmos des Sportjournalismus: »eskalieren«. Alle eskalieren andauernd.

Der ZDF-Ruderkommentator Norbert Galeske feiert »das absolute I-Tüpfelchen auf seiner Karriere« (nicht auf seiner eigenen, sondern auf der eines Sportlers). Die Hockeyexpertin desselben Instituts, Janne Müller-Wieland, gewahrt, dass die deutschen Herren irgendwie »zurückkreieren«, und »am Ende geht es um den Mindset-Shift«, derweil die Tennisschnalle Andrea Petković analysiert: »Der Treffer ist nicht im Sweetspot.«

Das sind, wie erwähnt, Zufallsaufschnapper. Um den infiniten Unflat auf einen Begriff zu bringen, genügt Ockhams Rasiermesser: Allüberall narzisstische Vollidioten.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (1. August 2024 um 22:45 Uhr)
    Nach zweimal lesen verstand ich, da stand »zurückkreieren«, nicht »zurückreiern«, war noch ganz bei Escherichia coli. Narzistische Vollidioten mögen weit verbreitet sein, dem Sparsamkeitsprinzip entsprechend doch nicht allüberall, z.B. nicht in der jW-Redaktion.

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