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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 1 / Titel
US-Raketen in Deutschland

Maulkorb fürs Parlament

Stationierung von US-Mittelstreckenraketen: Juristen sehen kein Mitspracherecht des Bundestags
Von Philip Tassev
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Abgeordnete auf den Hund gekommen: Laut Wissenschaftlichen Diensten bedarf Raketenstationierung nicht ihrer Zustimmung

Die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik und die Ankündigung derselben lösen bis hinein ins Regierungslager scharfe Kritik aus. Politiker besonders vom »linken« Flügel der SPD stören sich an der Tatsache, dass die Heranschaffung der Todbringer ohne Zustimmung des Bundestages geschehen soll. Selbst aus der CDU kommen Stimmen, die verlangen, das Thema gehöre ins Parlament.

Dabei ist dessen Zustimmung überhaupt nicht nötig, meinen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Eine aktuelle Kurzinformation, die sich mit der Frage auseinandersetzt, »auf welche Rechtsgrundlage sich die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland berufen können, um US-amerikanische Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren und ob der Bundestag in diese Entscheidung hätte eingebunden werden müssen«, verneint eine Zustimmungspflicht der Mehrheit der Abgeordneten.

Die Juristen beziehen sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) von 1984, das damals feststellte, die Rechte des Bundestages seien durch die Aufstellung von US-Atomwaffen in der BRD auf Grundlage des NATO-Doppelbeschlusses nicht verletzt worden. Ausreichend sei die Zustimmung der Bundesregierung »im Rahmen des Verteidigungssystems der NATO«, geregelt im »Nordatlantikvertrag« von 1949 und dem »Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte« von 1954. Karlsruhe urteilte damals: »Die Zustimmung zur Aufstellung von Mittelstreckenwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika in der Bundesrepublik Deutschland bedurfte (…) nicht der vorherigen Ermächtigung des Bundestages in der Form des Gesetzes.« Da die für 2026 geplante Stationierung »ebenfalls im Rahmen des NATO-Bündnissystems« ablaufen werde, gelte die Entscheidung von 1984 auch in diesem Fall.

Die US-Raketen sollen laut Bundeswehr eine angebliche »Fähigkeitslücke« schließen. Dass diese »Lücke« so nicht existiert, erklärte am Freitag der Nuklearwaffenexperte Hans Kristensen gegenüber Journalisten. So seien Marschflugkörper vom Typ »Tomahawk« (Reichweite: 1.600 Kilometer) längst Bestandteil des Arsenals der britischen Royal Navy, während die Luftwaffen Finnlands, Polens und der Niederlande über Cruise-Missiles vom Typ JASSM-ER (Reichweite: 1.000 Kilometer) verfügen. Die französische Marine wiederum kann mit dem »Missile de Croisière Naval« (MdCN) ebenfalls auf einen Marschflugkörper zurückgreifen, der mit einer Reichweite von bis zu 1.400 Kilometern in den Bereich fällt, der im 2019 außer Kraft gesetzten INF-Vertrag geregelt war.

Kristensen wies darauf hin, dass es bei der Stationierung nicht um Nuklearwaffen gehe. Die SM-6-Raketen dienten in erster Linie der Bekämpfung von Luftzielen, während es sich bei den »Tomahawks« um konventionelle Waffen handle. Es habe zwar früher auch eine atomwaffenfähige Variante gegeben, die sei aber inzwischen verschrottet worden. Dennoch bestehe weiterhin die Gefahr einer nuklearen Eskalation, wie Juliane Hauschulz von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) erläuterte. Das gilt insbesondere für die geplante Indienststellung von US-Hyperschallraketen. Mit ihrer enormen Geschwindigkeit von bis zu Mach 17 verringern sie die Vorwarnzeit auf wenige Minuten und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit von »Unfällen« oder »Missverständnissen« – mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Moskau behält sich im Falle eines Angriffs auf strategische Einrichtungen wie etwa sein Atomwaffenarsenal, auch mit konventionellen Waffen, eine nukleare Antwort vor.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Fabian (6. August 2024 um 10:23 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel wollte ich auf den Umstand hinweisen, daß
    nach Artikel 80a Absatz 3 Grundgesetz der Krieg ("Spannungsfall") auch
    "auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von
    einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit
    Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird."

    Der Krieg an Seite der NATO kann also auch ohne die 2/3-Mehrheit des
    Bundestages und nur mit Zustimmung der Bundesregierung beginnen, wenn
    die Waffen dann erst einmal in Deutschland stehen.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (4. August 2024 um 18:13 Uhr)
    Was für ein Affront! Im August 1914, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. verkündet, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, da durften die »vaterloslosen Gesellen« der SPD im Reichstag den Kriegskrediten zustimmen. Und das haben sie ja dann auch ausnahmslos und geschlossen getan. Heute, im Jahre 2024, wo die NATO-Doktrin keine Deutschen mehr kennt, sondern nur noch devote Transatlantiker, bedarf es der Stimmen dieser vaterlandslosen Gesellen erst gar nicht mehr. Wem haben wir diese Entwicklung wohl maßgeblich zu verdanken?
  • Leserbrief von AG (2. August 2024 um 22:50 Uhr)
    Zwei Anmerkungen hierzu: Bereits 1956 drehten sich interne Diskussionen in Bonn um die Frage der dt. Souveränität gegenüber NATO-Hoheit und Atomwaffeneinsatz. Aus einer Grundlagenstudie für die Bundesregierung ging unzweifelhaft hervor, wer das Sagen hatte: »(…) Die Bundesrepublik sei als dessen Mitglied an das strategische Konzept des Bündnisses gebunden. Sie müsse sich auf die Bedingungen des Atomkrieges einstellen, auch wenn die Entscheidung, diesen zu führen, nicht in ihrem Ermessen stehe.(…)« Quelle: BA-MA, BW17/44, Verschlusssache, siehe »Schlachtfeld Europa«, Dieter Krüger, Zeitschrift des IfZ, 2008/2 Zu den letzten Tests der LRHW / »Dark Eagle« vom 25.7. gibt es bislang keine Informationen. Aus welchen Gründen auch immer. Fest steht jedoch, dass Kerstin Huber von der Forschungsstelle der NATO im Juni im Rahmen der Pariser Air Show unmissverständlich sagte, Hyperschallwaffen bräuchten 20 Jahre. Womit die russische Überlegenheit implizit anerkannt wird. Von russ. Seite hatte man ca. 2018 über einen Rückstand von 7 Jahren spekuliert. Es sind mehr. Was aus Sicht des Friedens eher beruhigend ist, im Vergleich zum umgekehrten Szenario. Es gibt keine russischen Dokumente, die die Zerschlagung der USA fordern würden, anders als das in den USA der Fall ist gegenüber RU. Seit 1949 ist die Durchsetzung der US-Hegemonie zentraler Bestandteil aller Planungsdokumente des National Security Council. Zwischen Paul Nitzes NSC-68 und dem »ewigen Krieg« gegen RU/UdSSR den er dort postuliert - siehe: https://www.ruhr-uni-bochum.de/gna/Quellensammlung/10/10_nsc68_1950.htm - und der Forderung der NATO und der EU 2022, RU die Fähigkeiten zur Kriegsführung zu »nehmen«, besteht eine ideologische und militärische Verbindung. Oder anders: In 80 Jahren hat sich nichts geändert. Dass der Wi.Dienst des BT allen Ernstes die autoritäre Struktur einer NATO über die freiheit. demokr. Ordnung der Bundesrepublik stellt, sollte alle »Alarmglocken« bei MdBs auslösen.

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