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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 4 / Inland
Gefangenenaustausch

Kanzler im Empfangskomitee

Bundesregierung stellt Entscheidung für Gefangenenaustausch mit Russland als notwendiges Übel dar. Hardliner bringen Bedenken vor
Von Kristian Stemmler
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Scholz begrüßt: Auf dem Flughafen Köln/Bonn landen die ausgetauschten Gefangenen in einer Chartermaschine (1.8.2024)

Nach dem vielfach als »historisch« dargestellten Gefangenenaustausch zwischen Russland sowie Belarus und diversen NATO-Staaten bemühen sich hiesige Regierungsvertreter, die Entscheidung als Ergebnis eines langen Ringens darzustellen. Sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als auch Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) betonten, man habe es sich nicht leichtgemacht. Von Südkorea aus lobte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) den Gefangenenaustausch am Freitag als einen Verhandlungserfolg.

Er freue sich vor allem darüber, »dass Menschen, die unschuldig in russischen Gefängnissen gesessen haben, befreit werden konnten«, sagte Pistorius. Seinen besonderen Grund zur Freude verriet FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai: Die »freigekommenen Oppositionellen können ihren wichtigen Kampf gegen Putins grausames Regime fortsetzen«. Dieser Austausch von »Kriminellen gegen Journalisten« zeige einmal mehr, »dass Putins Russland auf der falschen Seite der Geschichte steht«. Für den SPD-Außenpolitiker Michael Roth ging es nicht ohne Entmenschlichung: Manchmal müsse man »aus Gründen der Menschlichkeit mit dem Teufel einen Deal machen«, schrieb er auf der Plattform X.

In der türkischen Hauptstadt Ankara waren am Donnerstag 26 Personen ausgetauscht worden. Im Gegenzug für die Freilassung von 16 bisher in Russland und Belarus inhaftierten Personen ließen Deutschland, die USA und andere Länder Gefangene frei, darunter der in der Bundesrepublik wegen Mordes verurteilte Wadim Krassikow. Bei den deutschen Staatsbürgern, die freikamen, handelt es sich um Rico K., der in Belarus zum Tode verurteilt worden war, sowie um vier Männer, die in Russland festgehalten worden waren: Patrick S., Kevin L. und der Politologe Demuri W. sowie der wegen Landesverrats angeklagte Aktivist German M.

Krassikow war im Dezember 2021 vom Kammergericht Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er in einem Park in Berlin-Moabit im August 2019 Selimchan Changoschwili, einen Tschetschenen mit georgischer Staatsangehörigkeit, erschossen hatte. Im Prozess war es zentral um die Frage gegangen, ob die Tötung des Tschetschenen, dem Moskau Folter und Mord an russischen Gefangenen während der Tschetschenien-Kriege vorwirft, im Auftrag des russischen Staates erfolgt sei. Das Gericht hatte das als erwiesen angesehen; Moskau wies das zurück. Am Freitag bestätigte Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass Krassikow Angehöriger der Antiterroreinheit »Alfa« des FSB ist.

Die Union arbeitete sich ebenfalls an Russland ab. Gegenüber dem Tagesspiegel vom Freitag befürchtete der CDU-Hardliner Roderich Kiesewetter, dass mit der Freilassung von Krassikow »ein Präzedenzfall geschaffen wird, der von Russland politisch massiv ausgenutzt werden kann«. Im SWR spekulierte Kiesewetter, Putin habe ein großes Interesse an Krassikow, und zwar weil dieser »ein langer Kollege, Freund, Partner« des Staatschefs sei. »Die kennen sich seit über 30 Jahren, und Putin lag sehr daran, diesen Mann freizubekommen, weil natürlich Krassikow viel mehr weiß, als er in seinen Verhören preisgegeben hat«, spekulierte der CDU-Politiker.

Kiesewetters Parteikollege Jürgen Hardt befürchtete am Freitag im ARD-»Morgenmagazin« einen Propagandaeffekt zugunsten Moskaus. Am schlimmsten wäre, »wenn jetzt quasi Putin jedem gedungenen Mörder, den er in den Westen schickt, um irgendwelche Menschen auszuschalten«, am Beispiel Krassikows sagen könne, Russland hole sie raus. Der Dritte im Bunde, CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, bezeichnete die Übereinkunft mit Russland im Deutschlandfunk dagegen als eine schwierige Abwägung, die er aber im Ergebnis unterstütze. Die relative Zurückhaltung der CDU kommt mutmaßlich auch daher, dass Scholz den CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz frühzeitig über den Austausch unterrichtet hatte. Dieser habe dem Kanzler ausdrücklich versichert, dass er mit den Entscheidungen der Bundesregierung einverstanden sei, sagte Scholz am Donnerstag abend.

13 der Freigelassenen hatte Scholz auf dem Flughafen Köln/Bonn persönlich begrüßt und tat es damit dem US-Präsidenten Joseph Biden sowie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gleich. Dabei erklärte der Bundeskanzler, die Entscheidung für die Überstellung von Krassikow sei »von den betroffenen Ressorts und der Koalition nach sorgfältiger Beratung und Abwägung gemeinsam getroffen worden«. Er sprach von einer Schutzverpflichtung gegenüber deutschen Staatsbürgern und strich die Solidarität mit den USA heraus. Außenministerin Baerbock bezeichnete den Austausch gegenüber dem RBB als »hochsensibles Dilemma«, sprach aber auch von einem »Tag der Erleichterung«. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte, es habe sich um »eine sehr, sehr schwere Entscheidung« gehandelt.

Enttäuscht reagierte die Familie des Opfers von Krassikow. »Nicht einmal fünf Jahre nach dem Mord« sei der »von Putin beauftragte Mörder wieder auf freiem Fuß«, erklärten die in Deutschland lebenden Angehörigen laut Angaben ihrer Anwältin Inga Schulz. Die Freilassung Krassikows sei »eine niederschmetternde Nachricht« gewesen, hieß es weiter.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (8. August 2024 um 14:46 Uhr)
    Ein Gefangenenaustausch – an sich ein winziges, kleines Signal einer Friedenshoffnung im Kriegsgeschehen. Für deutsche Medien eher ein ganz anderes Signal, Anlass und Grund für Hass, Hetze, letztlich Kriegstreiberei anzuheizen. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an einen deutschen Kanzler, der nach dem Zweiten Weltkrieg medienwirksam Züge mit deutschen Gefangenen aus Russland begrüßte. Bis in unsere Tage wird das Ereignis von damals gern emotional inszeniert. Damals wie heute gibt es nichts, woraus kein politisches Kapital zu ziehen, kein Hass, keine Hetze zur Meinungsbildung zu gebrauchen ist, das Schema der Guten und der Bösen in die Köpfe zu bringen sei. Deutsche Medien sprechen eine deutlich deutsche Sprache, lassen heute mehr denn je wieder erkennen, wen wir als die Guten zu sehen haben, wer das Böse der Welt zu sein hat. Wichtigste Nachricht, Hassbotschaft an Volk und Vaterland: Der „Tiergartenmörder“ ist auch frei.

    Deutsche hochrangige Politik und Medienwelt bedient vor allem das Bild, manipuliert die Überzeugung in die Köpfe, Russland habe nur unbescholtene Gefangene, unschuldig Verurteilte, „Oppositionelle“, „Dissidenten“, also Freiheitshelden, für den Austausch freigegeben und Deutschland nur schlimmste Mörder, Verbrecher schwersten Herzens ziehen lassen. Heute sind die Sprachregelungen deutscher Politik freilich nicht vergleichbar mit jenen, als Adenauer Deutsche aus russischer Gefangenschaft empfing. Heute darf, kann und muss Russland als grausames Regime, seine Repräsentanten als Unmenschen, Teufel und mehr betitelt werden. Das war Ende des Zweiten Weltkriegs noch schwerlich möglich, in so manchem Kopf aber vorhanden.

    Als Adenauer deutsche Gefangene feierlich empfing, war natürlich keine Rede davon, was die deutschen Helden in Russland hinterlassen hatten. Parallelen zu heute lassen sich durchaus erkennen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (3. August 2024 um 09:18 Uhr)
    Auch hier wieder wie in der bürgerlichen Presse kein Wort darüber, wer dieser Selimchan Changoschwili eigentlich war, womit unklar bleibt, weshalb Krassikow in Russland als Held und nicht als Mörder gilt. Changoschwili hat eine Unzahl von Morden an Zivilisten begannen, mit denen er auch noch öffentlich geprahlt hat. Zudem wurde ihm vorgeworfen, Drahtzieher der Moskauer U-Bahn-Anschläge gewesen zu sein. Demzufolge gab es in Russland großen öffentlichen Druck, Krassikow wieder nach Hause zu holen. Solches auszublenden ist platte Westpropaganda, die ich hier an sich nicht lesen möchte.

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