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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 2 / Ausland
Friedensbewegung in Nahost

»Sie kennen keine Israelis, nur Soldaten«

Veteranenorganisation bemüht sich um Annäherung zwischen Palästinensern und israelischer Bevölkerung. Ein Gespräch mit Rotem Levin
Interview: Alieren Renkliöz
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Besatzungsalltag: Israelische Soldaten gehen gegen Palästinenser in der Westbank vor (Beita, 26.7.2024)

Die Veteranenvereinigung »Combatants for Peace« organisiert Trauerveranstaltungen am Jom haZikaron. Dieser Gedenktag ehrt neben Kriegsopfern auch gefallene israelische Soldaten. Wie ist es möglich, ihrer zu gedenken, ohne den gewalttätigen Arm der Unterdrückung zu heroisieren?

Es gibt Kritik an dem alternativen Gedenktag, den wir begehen, aber im Grunde ist die Idee, dass wir im Schmerz zusammenkommen. Selbst der Soldat, der auf der Seite der Unterdrücker steht, ist ein Opfer des Systems, das im Alter von 18 Jahren in dessen Dienst gestellt wurde. Wenn du dich weigerst, giltst du als Verräter oder landest im Gefängnis. Selbst wenn junge Israelis anders denken, brauchen sie viel Kraft und Mut, um den Militärdienst zu verweigern. Deshalb sehe ich zwar, dass die Soldaten auf der Seite der Unterdrücker stehen, aber auch sie sind dem System ausgesetzt.

Sie waren vom 18. bis 21. Lebensjahr in der israelischen Armee. Haben Sie je an Ihrem Militärdienst gezweifelt?

Eines Nachts brachten sie uns in ein palästinensisches Dorf im Westjordanland. Der Kommandeur befahl mir und einem anderen Mann, Blendgranaten zu werfen. Es war mitten in der Nacht, und es bestand auch keine unmittelbare Gefahr, aber wir waren darauf trainiert, Befehle zu befolgen, also warfen wir die Granaten. Als wir später in der Basis ankamen, sagte mein Freund, dass wir so etwas nicht tun sollten. Ich stimmte ihm zu und fühlte mich komisch, weil mir das nicht selbst eingefallen war. Da kam der Kommandant und sagte: »Jungs, ihr seid Soldaten, ihr dürft nicht mehr darüber sprechen. Ihr tut, was man euch sagt.«

Als Soldat einer Spezialeinheit gingen Sie durch ein Training, das Sie darauf vorbereiten sollte, entführt zu werden. Woraus bestand dieses Training?

Ich war beim Kommandoeinsatz der Pilotencrew und diente in einer Eliteeinheit. Im Grunde simulieren sie eine Geiselnahme und entführen dich für 36 Stunden. Sie sind gewalttätig, und um dir die Informationen zu entlocken, über die du nicht sprechen darfst, foltern sie dich mental. Sie schlagen dich dabei auch. Zwar wenden sie dieses Training nur bei einigen wenigen Einheiten an, aber es ist trotzdem krank: Man foltert seine eigenen Soldaten, um sie für das Unbekannte fit zu machen. Das ist nichts im Vergleich zu dem, was die Palästinenser gerade durchmachen, aber ich kann mir vorstellen, wie schrecklich es ist, monatelang gefangen zu sein und jeden Tag geschlagen zu werden, kein Essen zu bekommen und nicht zu schlafen.

Auf beiden Seiten stehen traumatisierte Bevölkerungen; die Palästinenser werden kolonisiert, die Familien der jüdischen Israelis gingen durch den Holocaust. Wie können beide Seiten lernen, um das Leiden der anderen zu weinen?

Es ist nicht einfach. Die meisten Palästinenser und Israelis empfinden kein Mitgefühl füreinander. Aber ich glaube, wenn man eine Beziehung zur anderen Seite aufbaut, zum Beispiel Freundschaften, dann ändert sich plötzlich etwas. Dabei haben wir erkannt, dass es notwendig ist, die Segregation in Frage zu stellen. Solange wir getrennt sind, solange ich mein ganzes Leben lang in diesem Land leben kann, ohne Beziehungen zu Palästinensern zu haben, werde ich mich nicht um sie kümmern. Dann werde ich auch kein Mitgefühl für ihren Schmerz empfinden und kann gut leben, während in Gaza ein Völkermord stattfindet.

Andersherum können Palästinenser am 7. Oktober im Westjordanland Süßigkeiten verteilen, weil dieser Tag für sie Entkolonialisierung bedeutet. Sie kümmern sich nicht um die Kinder und die Frauen, die entführt oder in ihren Häusern getötet wurden. Denn auch hier gilt: Sie kennen keine Israelis, sondern nur Soldaten. Wir müssen also Beziehungen schaffen – das ist das Gegenmittel zur Segregation. Das ist es, was Empathie schafft. Dann wird man sich weigern, Gewalt anzuwenden, weil man sich um die Menschen sorgt, weil man sie als Mitmenschen erkennt. Wenn wir erkennen, dass die Person vor uns ein menschliches Wesen ist, werden wir sie nicht töten können. Das ist die ganze Idee.

Rotem Levin ist ehemaliger Soldat der israelischen Streitkräfte und Friedensaktivist der israelisch-palästinensischen Veteranenorganisation »Combatants for Peace«

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